FORVM, No. 485/486
Juni
1994

Europa vor den Toren der EU

Probleme mit der Erweiterung der Brüsseler Gemeinschaft

Jetzt stellt sich heraus, daß ihr Europa von Anfang an eine Einbildung war, sein Glaube und sein Fundament das Nichts

Czeslaw Milosz [1]

Brüssel, 1. Februar 1993. An diesem Montagnachmittag eröffnete die Europäische Gemeinschaft das Beitrittsverfahren für die Aufnahme neuer Mitgliedsländer. Nachdem die EG-Kommission noch im Mai 1988 alle Ausweitungspläne auf Eis gelegt hatte, um zunächst den Gemeinsamen Binnenmarkt zu vollenden, sieht sich nach 1973, 1981 und 1986 die vierte Vergrößerungsrunde des westeuropäischen Wirtschaftsblocks eingeläutet. Wie auf einer Tagung des Europäischen Rates in Lissabon Ende Juni 1992 beschlossen, beschränkt sich diese Ausweitung allerdings vorerst auf solche Antragsteller, »deren Einbeziehung in das Gemeinschaftssystem keine größeren Probleme aufwerfen dürfte«. [2]

Die Kandidaten mußten nicht nur allgemeine Grundregeln erfüllen, indem sie laut Vertragslage etwa europäische Identität erkennen lassen, demokratische Staatsformen aufweisen oder die Achtung der Menschenrechte garantieren. Darüber hinaus hatten die Neulinge dem Zwölferbund auch keine Integrationskosten aufzubürden, vielmehr galt es, die überbeanspruchten Kassen der Europäischen Union (EU) zu entlasten.

Denn daß Vergrößerung nicht unbedingt Verbesserung bedeutet, das hatten frühere Aufnahmen den Staatenbund gelehrt. Wirtschaftsstatistisch gesehen, wurde er dadurch nicht nur immer ärmer, überdies verschärfte sich das interne Wohlstandsgefälle, vor allem nach der letzten Süderweiterung. Der Streit über die Finanzierung der jeweiligen Mehrkosten zur Eingewöhnung der Neubewohner ließ Beobachter daher schon früher von einer europapolitischen Erfolgsfalle sprechen.

Zwar bevölkern immer mehr Mitglieder das umfangreichere EU-Boot; dieses läßt sich jedoch nicht nur schlechter steuern als vorher. Aus dem unterschiedlichen Entwicklungsstand der Mitgliedsländer ergeben sich zudem abweichende Interessen, die berücksichtigt werden wollen. Die vielen Kapitäne haben folglich vermehrt Schwierigkeiten, sich in fast allen relevanten Politikfeldern über den Gemeinschaftskurs zu einigen.

Aus der mittlerweile reichlich langen Reihe von — sehr unterschiedlich ausgestatteten und weit auseinanderliegenden — Eintrittswilligen erfüllten diesmal nur wenige Bewerber die an sie gestellten Voraussetzungen. Ihnen und eventuellen Nachrückern wird außerdem von der Gemeinschaft nahegelegt, möglichst ohne Wenn und Aber die im Frühjahr 1992 in Maastricht abgesegnete Gruppenreise in eine »Politische Union« mitzumachen. Was Wunder, daß bei der feierlichen Gelegenheit Anfang Februar 1993 im Brüsseler Charlemagne-Gebäude vorerst nur die Chefs der Diplomatie aus Helsinki, Stockholm und Wien zugelassen waren, wobei die Zutrittsgespräche mit Oslo immerhin einige Monate später eröffnet wurden.

Es ging ersichtlich um eine Norderweiterung, [3] gleichwohl waren die Verhandlungen viel schwieriger als erwartet, da alle Kandidaten, etwa unter Verweis auf

  • Permafrostlandwirtschaft (Finnland)
  • Fischereiquoten (Norwegen)
  • Transit verkehr/Bergbauern (Österreich)
  • Beitragshöhe/Neutralität (Schweden), auf diese oder jene Ausnahmeregelung drängten.

Erst ein Jahr später, am 16. März 1994, konnten in Brüssel die letzten Hürden in den Verhandlungen mit Norwegen ausgeräumt werden: In der abschließenden 13-stündigen Marathonsitzungen mußten die Außenminister der EU am Ende noch ein paar tausend Tonnen Fisch untereinander aufteilen. Damit waren an diesem Mittwoch endlich die Türen offen für den Mehrfachbeitritt zum 1. Januar 1995, wenngleich es sofort Streit um den neuen Abstimmungsmodus im Ministerrat gab und das Straßburger Parlament [4] die vier Neuankömmlinge nur unter schweren Bedenken aufnahm, deren Bevölkerung dem Vorgang ohnedies noch zuzustimmen hat.

Wie immer, jener Eröffnungstermin am 1. Februar 1993 tat sich noch dadurch hervor, daß die für den Gruppenempfang zuständige Ministerratsrunde in Brüssel öffentlich abgehalten wurde. Das war eine Premiere, [5] und rund fünf Stunden lang konnte die EU in den europäischen Wohnzimmern live empfangen werden. Die durch solche Transparenz erhoffte Werbung für »Eurokratien« blieb freilich aus, denn die Ersetzung der Realität durch die Propaganda war wieder einmal zu offensichtlich. Zu vernehmen waren Fensterreden von einer europäischen Schicksalsgemeinschaft, wie immer bei solchen Hofterminen. Reden also, die niemand mehr hören will.

Da mag Klaus-Peter Möller [6] vom Institut für Systemforschung in Hannover im Sinne der üblichen Lobhudelei noch so sehr verlangen, Zuversicht solle Europa tragen. Das seit längerem mit den Händen zu greifende Unbehagen der EU-Bürger an der Gemeinschaft dürfte kaum mehr zu beruhigen sein durch derartige Beschwörungsrituale, wie sie durch Meinungskartelle gepflegt werden, die fast alle an Brüsseler Geldtöpfen hängen.

Zwar war sich die Politikerrunde schon bei Gelegenheit der Verhandlungseröffnung in Brüssel einig, daß die anstehende Erweiterung rasch abgeschlossen werden sollte. Die sich damit abzeichnende »Sechzehnergemeinschaft« verfügt, wenn mit der Abstimmung in den Beitrittsländern alles gut geht, womöglich bereits 1995 rein rechnerisch mit 376 Millionen Konsumenten über einen größeren Binnenmarkt als die USA und Japan — ihre Hauptkonkurrenten — zusammengenommen.

Freilich täuscht das mit solchen Zahlen verknüpfte Fortschrittsprofil beziehungsweise Leistungsbild erheblich. Es täuscht, auch was mögliche Startvorteile des Alten Kontinentes in dem vom amerikanischen Ökonomen Lester Thurow [7] beschriebenen »kommenden Wirtschaftskampf zwischen Japan, Europa und den USA« betrifft.

Solche Umfangsangaben verhüllen eher die gegenwärtige Flucht nach vorne durch Vergrößerung, anstatt die Schwierigkeiten aufzulisten, in denen Brüssel seit längerem steckt. Die Wirtschaftsgemeinschaft hat seit 1980 ein Fünftel ihres Anteils am Welthandel eingebüßt, was auf unzureichende Wettbewerbsfähigkeit verweist. Es geht zudem um entscheidungspolitische Fragen, also etwa darum, wie die Zwölf angemessen auf die überraschend vielen Herausforderungen in Politik und Wirtschaft seit 1989 reagieren müßten. Soll man sich beispielsweise den Staaten des ehemaligen Ostblocks weiter öffnen? [8] Doch wie und vor allem wann hätte das zu geschehen?

  • Vielleicht möglichst rasch, um unberechenbaren Entwicklungen wie im ehemaligen Jugoslawien vorzubeugen, um von drohenden Konflikten etwa im Kosovo oder Makedonien gar nicht zu reden?
  • Oder mit Bedacht, so daß Steuerungsschwächen, die inmitten der Gemeinschaft aufgetreten sind, durch organisatorische Neuordnungen vorher behoben werden?

Fragen über Fragen, eigentlich ist die EU also vollauf mit den Risken der eigenen Zukunft beschäftigt. »Europa — ratlos statt grenzenlos« (Marburg 1992), so hat Hortense Hörburger die innergemeinschaftliche Schlechtwetterlage zutreffend beschrieben.

Dennoch reißt die Kette derer nicht ab, die sich unter Schutz und Schirm der Zwölf drängeln. Wenn es eben ginge, bitteschön, möchte man lieber heute als morgen in den westeuropäischen Club zugelassen werden. Warum wirkt die Mitgliedschaft in der Gemeinschaft derart verlockend? [9] Wie ist dieser Andrang zu erklären?

Elisabeth Kmölnigers Tierleben

Anziehungskraft

Mit Malta, der Türkei und Zypern warten nach der neuerlichen Erweiterung bereits seit längerem drei weitere Antragsteller vor den Pforten der EU. Ankara bekam allerdings 1989 die rote Karte gezeigt, vorerst jedenfalls, seither haben jedoch andere Staaten ihr Einlaßbegehren schon angekündigt, vor allem der ostmitteleuropäische Raum und das Baltikum. Fraglos steht der Gemeinschaft in der nahen Zukunft durch solche »Osterweiterungen« kulturell eine Belebung ins Haus; sozialökonomisch betrachtet, handelt es sich dabei allerdings eher um ein Danaergeschenk, da die Länder in diesem Raum noch für lange Zeit an den ruinösen Folgen des Sozialismus zu leiden haben werden. [10]

Von den Hoffnungen etwa Marokkos auf Zulassung soll hier ganz abgesehen werden, denn Rabats Chancen dürften gering sein, hält man sich die Formel von der »Europäität« der Mitglieder vor Augen, die im Artikel 237 EWG-Vertrag verankert ist.

Doch trotz aller Schwierigkeiten Brüssels, die Peter Bohley [11] in einem scharfblickenden Aufsatz in die offene Frage münden läßt: »Wurde in Maastricht der richtige Weg beschritten?«, drängt sich die Frage auf: Wie läßt sich die ungebremste Anziehungskraft der EU auf ihre Umwelt erklären?

Von außen betrachtet wirkt Westeuropa wie eine Insel der Seligen. Verglichen mit den Verhältnissen anderswo herrscht hier Wohlstand, findet sich Zivilität, gibt es vor allem Stabilität. Und damit auch kollektive Sicherheit, eine zunehmend knappe Ressource in unseren Zeiten eines wilden Friedens, wie er als neue Weltunordnung die eher zwangsregulierten Zeiten des Kalten Krieges abgelöst hat.

Oder haben wir vorher die Konflikte für — verglichen mit einem Zusammenstoß der Blöcke — relativ weniger bedrohlich gehalten und sie darum nicht wahrnehmen wollen? Immerhin sind seit 1945 bei kriegerischen Auseinandersetzungen an der Peripherie der Systemauseinandersetzung über dreißig Millionen Menschen getötet worden ...

Denjenigen, die draußen vor der Tür warten, scheint die EU aber noch einen weiteren Vorteil zu bieten. Jedenfalls, wenn man den bisherigen Erfolgskurs der Gemeinschaftspolitik in Betracht zieht und nicht allzu viel von den Erneuerungsund Orientierungsnöten weiß, die den westeuropäischen Großmarkt beunruhigen. Die EU erscheint nicht nur als sicheres Ufer, darüber hinaus wirkt sie auf die Anrainer zudem wie der Idealfall eines föderalen Zusammenschlusses.

In diesem Sinne erklärte beispielsweise The Brookings Institution [12] als größte Denkfabrik der USA den Brüsseler Club gerade wegen seiner Organisationsform eines Staatenbundes für politisch so attraktiv. Gerade weil die zwischenstaatliche Zusammenarbeit innergemeinschaftlich gepflegt werde ohne allzugroße Verluste an nationaler Eigenständigkeit auf Seiten der Partnerländer, gilt diese Art einer auf verschiedene Tätigkeitsfelder bezogenen und vertraglich geregelten Verzahnung der Interessen mehrerer Regierungen mittlerweile auch in anderen Weltregionen als vorbildlich für die Planung überstaatlicher Absprachen. Entsprechend sieht sich dargelegt, daß und warum die EU kein »Superstaat« würde und es auch gar nicht sein wolle. Vielmehr hätte man es mit einem Beispiel der ausgewogenen Vernetzung von Einzelvorhaben und Gesamtbelangen zu tun, ohne daß die durch die Menge der Teilnehmer bedingte Interaktionsdichte zu Beeinträchtigungen ihrer jeweiligen Staatsziele geführt habe, eher umgekehrt.

Erfreulich zudem, daß auch der übergeordnete, mithin europäische Kooperationszweck nicht zu kurz gekommen ist, bisher jedenfalls nicht, trotz aller Abstimmungsschwierigkeiten in Einzelfragen, die der Gemeinschaft das Leben zuweilen schwer gemacht haben.

Es fragt sich allerdings, ob das Wesen und Funktionieren der EU durch die politikwissenschaftliche Brille zutreffend beschrieben ist. Denn ob das Brüsseler Experiment tatsächlich die Auflösung des bekannten »Schopenhauer Dilemmas« darstellt und entsprechend die richtige Euro-Mischung zwischen Nähe und Distanz einhält, zudem Gemeinsamkeit und Vielfalt angemessen justiert, das sieht sich innergemeinschaftlich immer häufiger in Frage gestellt.

Es ist heute gerade die Besorgnis vieler EU-Bürger, man übertreibe die Integration durch die einmal ausgelöste und inzwischen kaum mehr zu bremsende Zentralisierung. Ansichtig werde als Ausdruck klammheimlicher Krönungsvisionen der Eurokratie ein Hang zum plurinationalen Superstaat. Folglich herrscht Unmut über Brüssel nicht nur in England oder Dänemark, sondern mittlerweile selbst in Deutschland, wo das Abendland oder Europa jahrzehntelang als Ersatzvaterland diente. Oder man lese das Buch des Politologen Alain Duhamel über »Les peurs français« (Paris 1993), das sich neben anderen bösen Geistern, die Frankreich seit geraumer Zeit umhertreiben, ausführlich beschäftigt mit der Sorge (S. 47 ff.) der Franzosen über jene société anonyme, die sich als angebliche Paßform EU-Europas ausgegeben sieht.

Mittlerweile hat sich nicht nur eine Schere aufgetan zwischen dem eurokratischen Alltag einerseits und einem drückenden Reformbedarf an fast allen Ecken und Enden der EU andererseits. Zudem sind auch Widersprüche zu verzeichnen zwischen

  • der Einsicht in die Notwendigkeit von Änderungen und
  • der öffentlichen Zustimmung zu dem Europaprojekt insgesamt, was sogar mögliche Korrekturprofile einschließt.

Nicht zuletzt mit Blick auf diese Sackgasse, in die sich die EU hineinmanövriert zu haben scheint, plädiert Hans Arnold [13] für eine rasch anzugehende, umfassende Korrektur des bisherigen Irrweges, auf den sich Verwaltungseuropa begeben hat. Wohl nicht zuletzt auch, um den Gedanken der Zusammenarbeit auf dem Alten Kontinent auf die Dauer überhaupt populär machen zu können.

Doch selbst wenn man die Lage nicht ganz so düster sehen will: Lassen sich mit den in Brüssel vorfindlichen Entscheidungsmechanismen beispielsweise die

  • zentrifugalen Folgen
  • Entscheidungsfragmentierung
  • Interessenpolarisierung

der bevorstehende Norderweiterung bewältigen, um von einer späteren Ausweitung der EU auf vielleicht zwei Dutzend Staaten einmal abzusehen?

Und wenn diese Frage zu verneinen ist, was dann? Gilt es stattdessen, einen wirklich entscheidungsfähigen Transnationalstaat aufzurichten? Und fänden dessen

Entscheidungen noch die Zustimmung seiner Bürger? Ärgern wir uns nicht schon jetzt schwarz über die für die Konsumenten ausgesprochen kostspielige Anmaßung der EU, par ordre de mufti zu regeln, welche Bananensorten wir essen dürfen? Oder wäre andererseits besser umzusteuern im Sinne älterer Euromodelle, etwa eines Staatenbundes, der nur ausgewählte Tätigkeitsfelder seiner Mitgliedsstaaten vergemeinschaften will, nicht aber so viele wie irgend möglich?

Widerrede

Die Erleichterung des Bonner Establishments darüber, daß die Annahme der Maastricht-Absprachen so glatt über die Bühne ging, ist daher längst verflogen. Seit Bundestag und Bundesrat im Dezember 1992 nicht nur ohne die Begleitmusik einer öffentlichen Debatte, sondern überhaupt ohne eine gehaltvolle Diskussion kaum weniger als die staatsrechtliche Abschaffung der Bundesrepublik ins Auge faßten, hat sich Widerstand in der Bevölkerung geregt, obschon wir offenbar noch immer nicht durchschauen, was uns die weitere EU-Planung auftischt.

Wer vermag aber auch nachzuvollziehen, warum die demokratisch legitimierte Souveränität der Mitgliedsländer auf dem Altar einer zum politischen Mythos erstarrten Einigung des »Abendlandes« geopfert werden soll? So lautet aber offenbar der feste Wille etwa von Helmut Kohl, übrigens ganz im Einklang mit Politikreflexen, die seiner Generation während der Reeducation vermittelt wurden. [14] Wie bereits Helmut Schmidt vor ihm, hofiert auch der amtierende deutsche Kanzler daher einer Eurokratischen Gemeinschaft, die in ihrer heutigen Form nicht nur vom imperialen Habitus des Quai d’Orsay geprägt ist; sondern die mittlerweile einen Zug ins Megalomane und damit eben auch ins Supranationale angenommen hat, der nurmehr überzogen wirkt.

Gegen den ungehemmten Abfluß von Zuständigkeiten in Richtung Brüssel waren in Karlsruhe mehrere Klagen anhängig. Und es war für die Bonner Regierung eine ausgesprochene Zitterpartie, ob die zuständigen Richter der Meinung wären, die Vertragsabsprachen verharrten kurz vor der Schwelle des Unzulässigen [15] oder ob in Maastricht das Maß bereits überschritten wurde, das bei der Abgabe von Eigenstaatlichkeit unbedingt einzuhalten sei.

Wie immer der Streit ausgehen würde, [16] eines war seither gewiß: Bonn konnte in Brüssel frei nach »Was immer die EU voranbringt, das ist gut für Deutschland« nicht länger hinter dem Rücken der Bevölkerung schalten und walten wie bislang. Inzwischen ist nicht nur der allgemeine Unmut gewachsen, eine Volksabstimmung etwa über die anstehende »Währungsunion« würde sicherlich keine Mehrheit finden. Vor allem kommt, langsam genug, eine kritische Erörterung der bisherigen (und damit zukünftigen) Europapolitik in Gang, während bislang solche Stellungnahmen das große Wort führten, die auf die eine oder andere Weise EU-abhängig waren. [17]

Zwar sieht sich offiziell die gefällige Ersetzung der EU-Realität durch die Europa-Propaganda weiterhin betrieben; aber trotz der stets rosigen Euro-Barometer, die offenbar in einem Brüsseler Büro maßgeschneidert werden, scheinen die Bürger in Wahrheit seit längerem der Gemeinschaft überdrüssig. Und mit bevorstehenden Erweiterungen beziehungsweise neuerlichen Vertragsrevisionen allein ist dieser Mißmut kaum aufzufangen: Ganz offensichtlich herrscht unter der Euro-Klasse selbst über den Geist und die Zukunft der Gemeinschaft kaum mehr Einigkeit.

EU-Europa als unser aller Ersatzvaterland! Dieses Programm ist zwar nie richtig zu Ende gedacht worden. Aber erst jetzt, wo der Zugzwang, unter den man sich mit Maastricht gesetzt hat, immer größer wird, geraten die europolitischen Ungereimtheiten, die dieser Vorstellung zugrunde liegen, so richtig zum Problem. Und doch, mit der Rede vom Fahrrad, das umstürzt, wenn es sich nicht bewegt, wird die Eurokratie weitergedrängelt. Ist das aber wirklich ein tragfähiges Bild, um jahrhundertealte Staatsgebilde, die sich leidvoll gegeneinander profiliert haben, zu einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zu ermuntern?

Als Modell für diese Beziehungen kann daher kaum der Bundesstaat dienen, sondern eher schon die eine oder andere Form eines Staatenbundes. Jedenfalls dann, wenn man das bisher schon erreichte Verflechtungsmaß nicht durch ein Zuviel an Vereinheitlichungsdruck gefährden will.

Man braucht also nicht, gleich einer tibetanischen Gebetsmühle, ständig die abendländische Verfeindung anzuführen, um die Brüsseler Veranstaltung als Modernisierungserfolg zu beschwören. Heute ist es vielmehr hohe Zeit, in der EU gut innenpolitisch vor allem Opposition gegen Fehlentwicklungen zu betreiben wie beispielsweise in der Agrar- oder Verkehrspolitik, ohne deswegen gleich als Antieuropäer dazustehen.

Wer seine Europakritik immer nur im Flüsterton äußert, weil man die Gemeinschaft als hehres Ziel möglichst nicht in Frage stellen darf, der bewirkt angesichts der leidigen Realpolitik à la Brüssel unterdessen das genaue Gegenteil seiner womöglich guten Absichten. [18] Man warte nur einmal ab, was erst eine Europasteuer oder gar ein inflationsgeplagter ecu für verheerende Rückwirkungen haben werden, wenn nicht vorher eine Umkehr nach Maßgabe von Augenmaß und Vernunft und damit eben auch der Interessen der beteiligten Nationen stattfindet: der dann allerdings Vorhaben wie Europasteuern oder die Einheitswährung zum Opfer fielen, vorerst jedenfalls. [19]

Nötig wäre ganz etwas anderes als solche Vereinheitlichungshysterie, die noch dazu dem Artikel F des Maastrichtvertrages widerspricht, der eigentlich die Identität der Mitgliedsländer im eurokratischen Zentralismus schützen soll. [20]

Damit sind Spannungen vorprogrammiert, unter anderem auch über den weiteren Weg der EU nach Europa. Diese Divergenzen lassen sich nicht einfach aufheben, und wer sie unterdrückt, erreicht das genaue Gegenteil. Es geht vielmehr darum, das Beste daraus zu machen, daß wir es in Brüssel gestern wie morgen mit — allerdings im Moment reichlich — Uneinigen Staaten von Europa zu tun haben, nicht aber mit einem kontinentalen Einheitsbrei.

Europaradox?

Perspektivisch ergeben sich damit »vitale Fragen für die Europäische Union«. In einem aufschlußreichen Beitrag wertet der Bonner Eurospezialist Wolfgang Wessels [21] die anstehenden Schwierigkeiten allerdings immer noch EU-ideologisch und verharmlost damit letztlich die Situation. [22] Denn wie immer man es dreht oder wendet, die EU befindet sich in einer bedenklichen Lage. Und die hat viel damit zu tun, daß sich der bisherige Einigungsprozeß als regierungsamtliche Kabinettspolitik im abgelegenen Brüssel unter Ausschluß der europäischen Öffentlichkeit abgespielt hat und weiterhin abspielt. Die Nachkriegsgenerationen blieben zwar durchweg positiv zu Europa eingestellt. Aber es war doch eher eine lebensweltferne Dimension wirtschaftlicher, vielleicht noch außenpolitischer Zusammenarbeit, an die man dabei dachte. Man hatte wahrlich nicht mit einer vordemokratischen Einmischungsgröße gerechnet von der Art, wie sich die EU heute der Bevölkerung darstellt, nachdem ihr die Euro-Rechnung unvermutet in Form einer Kunstwährung oder weiterer Souveränitätsverluste zugunsten einer ebenso fernen wie unkontrollierten Bürokratie präsentiert wird.

Hier liegt offenbar der Hase im Pfeffer. Die EU ist in eine Art von Verflechtungsfalle geraten, aus der sich schwer wieder herausfinden läßt.

  • Denn wenn man die Entscheidungsfindung in Brüssel erst rationalisieren will, ehe man an eine Erweiterung denkt, dann könnte der Widerstand gegen den damit unvermeidlich verbundenen Machtzuwachs der EG-Kommission demnächst systemsprengend wirken.
  • Aber vermöchte eine vorherige Durchdemokratisierung diesen Kollaps vielleicht zu verhindern? Auch dieser Ausweg scheint wenig aussichtsreich. Bedingte er doch die zügige und offene Verwandlung der EU in einen veritablen Bundesstaat, den die Mitgliedsländer selbst allesamt nicht wollen.
  • Erweitert man die Gemeinschaft hingegen ohne eine Reform der Beschlußfindung, dann werden schließlich für einen noch umfangreicheren Kreis von Regierungen die fälligen Entscheidungen kaum mehr zu treffen sein.

Eine Zwanziger-plus-Gemeinschaft etwa würde nur wie ein loser Staatenbund auftreten können, so wie die Dinge liegen. Auch Überlegungen, diesem Handicap dadurch zu begegnen, daß man Kreise verschiedener Integrationsdichte in der EU vorsieht, weisen politische Tücken auf. Denn es entstünden machtpolitische Ungleichgewichtigkeiten und damit ganz neue Spannungen zwischen den beteiligten Partnern, die das vielbeschworene Fernziel der Errichtung einer »Politischen Union« aus den Augen verlieren könnten.

Heute rächt sich folglich das erfolgreiche Lebensprinzip der bisherigen EU-Politik, nämlich sich von Fall zu Fall durchzuwursteln und Entscheidungsblockaden notfalls auszusitzen oder ihnen durch Bewegung nach vorne zu entgehen. Inzwischen ist von einer neuen Eurosklerose zu hören. Und es steht zu vermuten, daß diese Störung noch schwerer werden könnte als die Stillstandskrise der EU gleichen Namens zu Anfang der 80er Jahre. Schon deswegen, weil man sich europapolitisch seit Maastricht so hohe Ziele gesteckt hat, an denen man nun gemessen wird. Jedoch auch eine Flucht nach vorne würde diesmal die Dinge nur verschlimmern. Also Europa paradox? Man schwört sich den »wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt« ebenso in die Hand wie »die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten«. [23]

Tatsächlich ist man jedoch in fast jeder Hinsicht uneins, und dementsprechend verurteilt man sich nicht nur weit-, sondern sogar europapolitisch zur Ohnmacht.

Auf dem Balkan oder bis zuletzt in der Frage der Belebung des Welthandels im Rahmen der vor kurzem abgeschlossenen GATT-Verhandlungen, hinsichtlich einer einhelligen Asylpolitik oder auch in der Haltung des Westens gegenüber Rußland kommt man zu keinem Konsens, um nur einige wenige Dollpunkte anzusprechen. Kurz, die Zwölfergemeinschaft war und ist kein Monolith, wahrlich nicht. Wenn man so will, dann ist mit Ralf Dahrendorf [24] gesprochen jenes »Europa des cartesianischen Integrationsglaubens« gleichwohl erst jetzt abgelaufen, trotz der anspruchsvollen Vertragslage und weitreichender Erweiterungsabsichten.

In dieser heiklen Lage scheint vor allem Augenmaß gefragt. Die bisherige Europa-, genauer wohl EU-Politik ist zu einer Art Ideologie geworden, so zeigt sich gegenwärtig, vor allem in Deutschland. Gerade um die Brüsseler Gemeinschaft auf die Dauer über die Hürden zu retten, deren Finalität laut Artikel 240 EWG-Vertrag zwar festgeschrieben, damit aber doch keineswegs in Zukunft auch garantiert ist, gilt es Abstand zu gewinnen zum europapolitischen Allzuviel. Ist von solchem Umdenken in Sachen EU-Orientierung freilich bei jenen, die Brüssel als Beruf betreiben, bislang etwas zu merken?

Europäisches Tierleben. Von Kmö.

Reinfall

Auf einer informellen Tagung im dänischen Kolding beschließen die Finanzminister der Europäischen Gemeinschaft, daß die Welt der Geldmärkte wieder in Ordnung ist. Man schreibt Samstag, den 22. Mai 1993, und soweit die Mitwelt das kafkaeske Innenleben der EU überhaupt wahrnimmt, fragt sie sich erstaunt, ob die Zeiten nicht längst vorbei sind, wo das Wünschen noch geholfen hat. Trotz der währungspolitischen Unwetter, die seit Herbst 1992 nach heftigen Geldwertschwankungen zu fünf Wechselkursanpassungen im EWS — dem Europäischen Währungssystem — gar zum Ausstieg des britischen Pfundes und der italienischen Lira aus diesem Verbund geführt haben, lautet die Diagnose der zuständigen Politiker unverdrossen: Das System selbst ist wohlauf! [25] Wenn das kein Gesundbeten war? Lassen sich die auf dem Papier noch für dieses Jahrzehnt festgelegten Einstiegstermine in die verabredete Währungsunion mit Einheitsgeld aber in der Weise halten, daß man weit auseinanderklaffende ökonomische Grunddaten ebenso außer aller Acht läßt wie die allgemein betrübliche Wirtschaftslage in der EU?

Wenn es nicht so traurig wäre, entbehrte es nicht der Komik: Kein Mensch scheint sich daran zu erinnern, was mit dem Europäischen Binnenmarkt alles versprochen worden war, in dem wir seit Anfang Januar 1993 offiziell leben, selbst wenn kein EU-Bürger etwas davon spürt. Dabei sah sich die Reforminitiative, die Jacques Delors, seit neun Jahren amtierender Präsident der Brüsseler Kommission, zu Mitte der 80er Jahre mit dem Ziel der Marktvollendung startete, doch gerade mit dem massivgoldenen Füllhorn begründet, daß über uns alle ausgeleert werden würde, wenn, ja wenn wir nur möglichst rasch einen einheitlichen Binnenmarkt der »vier Freiheiten« von

  • Kapital,
  • Dienstleistungen,
  • Waren sowie
  • Personen

schaffen würden. Nichts erwies sich so förderlich für dieses Ziel, das im Rahmen einer sogenannten »Europäischen Einheitlichen Akte« (1987) zu einer umfänglichen Vertragsrevision der Gemeinschaft führte, wie der propagandistisch weidlich ausgeschlachtete materielle Anreiz für einen derartigen Schritt in den gemeinsamen Binnenmarkt.

Skeptikern schlug man den sogenannten Cecchini-Bericht vom März 1988 um die Ohren. Mein Gott, wie sollte es nach diesen von Brüssel in Auftrag gegebenen Hochrechnungen der Euro-Wirtschaft gutgehen, [26] falls durch das engere Zusammenwachsen erst einmal die vielgeschmähten Kosten für das sogenannte »Nichteuropa« beseitigt würden. [27]

Aus diesen hochgemuten Voraussagen ist wenig geworden, bisher jedenfalls, ohne daß allerdings von Politik oder Eurokratie aus dieser Pleite wirklich Konsequenzen für die weitere Kontinentalarchitektur gezogen worden wären.

Denn nicht Wirtschaftsaufschwung und Wohlstand, vielmehr Krise und Sozialabbau haben das magische Euromarktjahr 1993 eingeläutet. Anstatt von Wachstumsimpulsen durch die EU-Harmonisierung, zeugen die Euro-Statistiken unbarmherzig von wirtschaftlichem Abschwung und einer bedrohlichen Unfähigkeit, sich warentechnologisch auf den Weltmärkten zu behaupten. Mittlerweile gibt es an die 20 Millionen Arbeitslose in der EU, schlimm genug. Hinzu kommen aber noch einmal weit über fünfzig Millionen arme EU-Europäer, und das mitten im Zentrum der angeblich reichsten Region auf der Erde.

Schleuderkurs

Sei dem wie ihm sei, seit dem 20. Mai 1993 strahlte über der Gemeinschaft wieder die Sonne, jedenfalls in der Selbstwahr-nehmung der Eurokratie. Spät abends an diesem Donnerstag stimmte das britische Unterhaus einem »Ratifizierungsgesetz« zu. Damit hatte auch London nach einer Zitterpartie den Weg frei gemacht für die gemeinsam beschlossene EU-Zukunft. [28] Anscheinend waren wenigstens die hausgemachten Unwetter der letzten Monate erst einmal abgezogen. Und das wirkt einigermaßen beruhigend. Denn außenpolitische Störungen wie der Krieg auf dem Balkan bereiten dem Alten Kontinent erhebliche Sorgen, wenngleich sich die EU weder institutionell noch mental zum kontinentalen Ordnungsstifter berufen gezeigt hat.

Eine derartige Rolle würde im Konfliktfall ein energisches und damit vor allem geschlossenes Auftreten bedingen, wie im heftig umkämpften Raum zwischen Donau und Adria. Dazu fehlen aber nicht nur alle Machtinstrumente. Vor allem beurteilen die Partnerländer vor dem Hintergrund ihrer verschiedenen historischen Erfahrungen auch den Konfliktanlaß und anschließenden Kriegsverlauf völlig unterschiedlich. Die innergemeinschaftlichen Turbulenzen hatten begonnen mit dem im Winter 1991/1992 im holländischen Maaststricht voller Euphorie beschlossenen Umbau der EU in eine »Politische Union« bis zum Ende des Jahrtausends. Die Ratifizierung dieses Zukunftsprogramms durch alle Mitgliedsländer geriet zum politischen Debakel.

Trotz der glatten Zustimmung von Bundestag und Bundesrat im Dezember 1992 bekam das Projekt selbst in Deutschland einige Schwierigkeiten. [29] In Frankreich fiel am 20. September 1992 mit 51,9 % Ja-Stimmen das Referendum denkbar knapp aus, [30] und auch in London war die Zustimmung ausgesprochen mühsam. Seit Mitte Mai 1993 konnte die EU aber immerhin wieder hoffen, aus dem Schneider zu sein, vorerst jedenfalls. Die Vereinbarungen hatten auf Messers Schneide gestanden, nachdem vor allem die Ablehnung der Verträge durch das dänische Referendum am 2. Juni 1992 zu einem ziemlich abrupten Durchparieren in Brüssel geführt hatte, was von Kopenhagen erst später wieder revidiert werden konnte.

Aus dieser Phase der Verunsicherungen ist die Gemeinschaft keineswegs unbeschädigt hervorgegangen.

  • Nicht nur hat man die Maastricht-Absprachen durch Sonderzugeständnisse an einzelne Länder wie einen Emmentaler Käse durchlöchern müssen.
  • Überdies hat die forcierte Einigungsdynamik seit 1990 offensichtlich zur einer »Spaltung der Gemeinschaft« (Dahrendorf) in jene Regierungen geführt,
    • die wollen und können (Belgien/Deutschland/Holland/Luxemburg/Frankreich),
    • die wollen, aber nicht können (Italien/Portugal/Spanien),
    • die können, aber nicht wollen (Dänemark/Großbritannien),
    • die nicht können und nicht wollen (Griechenland).
  • Zudem ist die europäische Öffentlichkeit aufgewacht. Seit neuestem wundert oder ärgert man sich lauthals über die Ziele der Eurokraten, und das ist erst der Anfang, denn der Alte Erdteil sei nicht nur »un continente nervoso, scontento, problemático«, sondern vor allem »un continente degli intellettuali« (S. 23), wie Alberto Moravia es seinem »Diario Europeo« (Mailand 1993) anvertraut hat: Die einmal eröffnete Debatte werde die Euromythen nach Brüsseler Machart nicht schonen.

Entsprechend knapp fiel schon die Zustimmung überall dort aus, wo die Bevölkerung überhaupt um ihre Meinung zur amtlichen Euro-Planung gefragt wurde. Nach Maastricht hatte mithin ein öffentlicher Lernprozeß eingesetzt, der weniger antieuropäisch ausfiel, wie von der amtlichen Europolitik behauptet, als vielmehr erstmals über

  • den Problemstand der Integration sowie über
  • mögliche Alternativen zum obwaltenden Eurozentralismus

nachzudenken begann.

Die (so könnte man es beschreiben) sanfte Integrationsphase der EU jedenfalls ist abgelaufen, die bislang ohne Beteiligung oder wenigstens genügend Information der EU-Bevölkerung abspulte. Seitdem es mit Eurowährung, Eurostaatsbürgerschaft, Euroverteidigung und ähnlichen Riesenschritten mehr an die historische Verfaßtheit des Kontinentes geht, sind die Menschen stutzig geworden.

Ganz offensichtlich hatten die Bürger bisher gar nicht so recht mitbekommen, was die Brüsseler Kabinettspolitik für sie unablässig alles ausheckt. Das ist schlagartig anders geworden, seit die weitreichenden Ziele Brüssels in den Medien diskutiert werden.

Wie weiter?

Auf dem Prüfstand der öffentlichen Meinung erwies sich »Das neue Europa« (München 1993), dessen Konturen der Präsident der EG-Kommission in den angenehmsten Farben schildert, keineswegs in allen Stücken als akzeptabel. Entschieden verteidigt dabei »Monsieur l’Europe«, wie Jacques Delors sich gerne nennen läßt, das »concert européen«, denn anders als gemeinsam sei das zukünftige Überleben des Alten Kontinentes in einer riskanter werdenden Welt schwerlich möglich.

Womit er fraglos Recht hat, denn zur europäischen Kooperation an sich gibt es keine vernünftige politische Alternative.

Aber es bestehen in fast jedem einzelnen Handlungsfeld — von der Außenwirtschaftspolitik über den Agrarbereich bis zum Umweltschutz — sehr wohl Wahlmöglichkeiten zu dem von Brüssel jeweils ein- oder vorgeschlagenen Kurs. Und die wären mit der EU-Bevölkerung ebenso öffentlich zu erörtern wie die weitere Geschwindigkeit der Integration oder die fälligen Erweiterungen. Um gar nicht zu reden von der zukünftigen Gestalt, die der Kontinent haben könnte, beziehungsweise über die weltpolitische Rolle, welche Brüssel hinfort spielen soll.

Während die Mitwelt eher

  • Demokratiedefizite,
  • wachsende Umweltbedrohungen,
  • eklatante Produktionsschwächen,
  • den Brüsseler Agrarwahnsinn

oder auch

  • einen unseligen Hang zur Zentralisierung

beklagt, der einen historisch versierten Beobachter an einen verspäteten Sieg Napoléons über den Freiherrn vom Stein denken läßt, tut das der geradezu »magischen Anziehungskraft« [31] der Gemeinschaft in der Außenwahrnehmung offenbar keinen Abbruch, wie ein Blick auf die lange Schlange der Anwärter belegt.

Das hat sicher auch mit Mißverständnissen zu tun, denn etwa die erst vor kurzem dem kommunistischen Einheitsdruck entkommenen Staaten werden kein gesteigertes Interesse zeigen, ihre Souveränität ohne Wenn und Aber für Teurokratien zu opfern. Aber, um bei dieser Region zu bleiben, die wirtschaftliche und politische Lage östlich der EU sieht derart verheerend aus, [32] daß dieser Region wenig anderes übrig bleibt, als den Schulterschluß mit Westeuropa zu suchen, vor allem, seitdem das postkommunistische Rußland erneut hegemoniale Tendenzen zeigt.

Und da Brüssel kein Interesse an einer weiteren Verschlechterung der Lage in seinem Nahumfeld haben kann, schloß die Gemeinschaft bereits im Dezember 1991 wenigstens mit Polen, Ungarn und der ehemaligen Tschechoslowakei, später mit Bulgarien und Rumänien sogenannte »Europaabkommen«, die nicht nur einen möglichst freien Handelsaustausch sowie regelmäßige politische Konsultationen vorsahen, sondern auch mit der Aussicht auf spätere Mitgliedschaft in der EU eine Assoziierung verabredeten. [33]

Aber dieser Türspalt hat sich als viel zu eng erwiesen, vor allem ökonomisch, obschon andere Organisationen wie die NATO trotz der Einrichtung eines »Kooperationsrates« und einer lyrischen »Partnerschaft für den Frieden« noch nicht einmal so weit gegangen sind. Denn die EU schottete anschließend ihre Märkte gegenüber den östlichen Nachbarn ab.

Laut Vaclav Havel strahlt solche Desintegration trotz verbindlicher Floskeln Chaotisierung ab wie ein Kernkraftwerk die Radioaktivität.

Entsprechend wird sich die Destabilisierung um die EU herum weiter ausbreiten, falls nicht gegengesteuert wird. Die Mitglieder der sogenannten Visegrad-Gruppe — Polen, die Slowakische Republik, Ungarn und die Tschechische Republik — haben den Europäischen Rat bereits im September 1992 aufgefordert, klare Vorgaben für die weitere Zusammenarbeit zu machen. Anfang Mai 1993 unterbreitete die Kommission ein internes »Strategiepapier« für einen neuen »politischen Raum«, [34] das dem Rat bei seinen Beratungen in Kopenhagen im Juni 1993 vorlag, der eine Vertiefung der wirtschaftlichen und politischen Beziehungen vorschlug, [35] was vorerst wenig kostete.

Es ist eben das eine, EU-intern schönklingende Europapläne zu schmieden, in denen etwa der Kontinent in mehreren, durch Verträge geregelten konzentrischen Kreisen um das Brüsseler Kraftzentrum herum angelagert sein soll, von wo aus sich Konjunkturaufschwung und Ordnung durch den alten Erdteil verteilen wie wohlige Wärme. Etwas ganz anderes ist es, auch in den heutigen Zeiten der allgemeinen Wirtschaftsmisere das zwischenstaatlich Mögliche zu tun. Anstatt von einem europäischen Superstaat zu träumen, der eher abschreckt als begeistert, bleibt konkrete Hilfe gefragt, hier und heute, um Europa einen Kollaps zu ersparen.

[1»Sarajevo«, zit. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. 9. 1993, S. 35.

[2Vgl. »Bericht der Kommission »Europa und die Problematik der Erweiterung««, Europa-Archiv 15-16 (1992), S. D 508 ff., hier D 512.

[3Von den damit gemeinten Ländern der »Europäischen Freihandelszone« (EFTA), einer britischen Gegengründung zur EG, hatte sich beim Stelldichein in Brüssel nur Island abgeseilt. Reykjavik fürchtet im kontinentalen Haus nicht nur um die insulare Identität, sondern mehr noch um die Fischbestände in seinen Hoheitsgewässern. Ja, und kurz vor dem Standesamtstermin in Belgien sind die Schweizer abgesprungen. Bei einer Volksabstimmung im Dezember 1992 wähnten die Eidgenossen ihre Landesinteressen innerhalb der Röstigrenze besser aufgehoben als unter dem königsblauen Sternenbanner EU-Europas.

[4Die Abstimmung vom 4. Mai 1994 in Straßburg ergab zwar eine breite Mehrheit für die Norderweiterung, obschon sich das Parlament nicht zuletzt enttäuscht zeigte über den im nordgriechischen Ioannina am 27.3.1994 von den Außenministern der EU getroffenen Kompromiß, die Sperrminorität im Ministerrat künftig zwar von 23 auf 27 (der ab 1995 dann 90) Stimmen zu erhöhen, zugleich aber bei strittigen Entscheidungen eine »Phase intensiver Verhandlungen« einzuplanen, also einen institutionalisierten Entscheidungsaufschub vorzusehen.

[5Die aber nicht nur deswegen verfehlt wirkte, weil die Zuschauer bei dieser Gelegenheit mit dem üblichen Eurospeak traktiert wurden. Vielmehr sorgte ein Gutachten zur Informations- und Kommunikationspolitik der EU, das unter Leitung von Willy de Clercq im Auftrag der EG-Kommission erarbeitet worden war, Ende März 1993 bei der Pressepräsentation wegen seiner »Sub-Orwellian Strategy« (Financial Times vom 5. 4. 1993, S. 28) für einen öffentlichen Krach. Überdies funktioniert die seither lauthals angekündigte Informationsoffenheit bisher keineswegs, vgl. John Carvell, »EU’s spirit of openness proves illusory«, The Guardian vom 8. 4. 1994, S. 8.

[6»Vor uns die guten Jahre. Europa vor dem wirtschaftlichen Aufschwung«, München 1992.

[7»Kopf an Kopf«, Düsseldorf 1993.

[8Wie es ein von Werner Weidenfeld und Manfred Huterer unter dem Titel »Osteuropa. Herausforderungen, Probleme, Strategien und Optionen für die Zukunft Europas« (Gütersloh 1992) herausgegebener Sammelband fordert?

[9Vgl. Karl-Uwe Schrogl, »Die Europäische Gemeinschaft als Magnet«, Europa-Archiv 18 (1993), S. 525 ff.

[10Vgl. Scott Sullivan, »Waiting in the Wings«, Newsweek vom 5.7.1993, S. 6 f.

[11»Europäische Einheit, föderatives Prinzip und Währungsunion«, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 1 (1993), S. 34 ff.

[12In einem von Alberta M. Sbragia unter dem Titel »Euro-Politics« (Washington 1992) herausgegebenen Sammelband über »Institutions and Policy-Making in the »New« European Community«.

[13»Europa am Ende? Die Auflösung von EG und NATO«, München/Zürich 1993.

[14Die Bonner Politik der eiligen Vereinigung des Erdteils seit 1990 scheint nach wie vor von »national self-abnegation«, also jener Selbstverleugnung angetrieben zu sein, die nun einmal ein Identitätsmerkmal der hiesigen Nachkriegspolitik war, vgl. Hugo Young, »A Fortress for Members Only«, Newsweek vom 23. 12. 1991, S. 19.

[15Mit dem Jenenser Verwaltungsrechtler Peter M. Huber, »Maastricht — ein Staatstreich?«, Stuttgart 1993.

[16Der am 12. 10. 1993 ergangene Spruch der Verfassungsrichter (vgl. Europa-Archiv 22 (1993), S. D 459 ff.) beseitigte zwar die letzten Hindernisse für das Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages zum 1. November 1993. Er begrenzte den Einigungsweg allerdings auf einen »Staatenverbund«, in dem die Mitgliedsländer auch in Zukunft die Herren der Verträge bleiben müßten.

[17Ein gutes Beispiel für diesen neuen und vor allem unabhängigen Ton bietet das Buch (»Europa der Vernunft. Kritische Anmerkungen nach Maastricht«, Bonn 1993) des bekannten Politikers und Diplomaten Hans Schauer, Jahrgang 1923, der in seiner ebenso anregenden wie sachlichen Kritik der üblichen Europaideologie mit kräftigen Abstrichen und Einwänden zu Leibe rückt. Ausgiebig beschäftigt sich der Autor neben jenem unseligen »Hang zur Vereinheitlichung von oben« (S. 35) mit der »angeblichen Notwendigkeit supranationaler Zusammenarbeit« (S. 42 ff.), wo doch eine zwischenstaatliche Abstimmung der Kräfte in Wirklichkeit weiterführe. Unter Verweis auf die Problematik des Nationalismus sehe sich in der Öffentlichkeit der Nationalstaat als die übersichtliche Einheit aber leichtfertig in Frage gestellt, obschon bisher selbst auf dem Alten Kontinent keine Dimension ansichtig geworden ist, die emotiv oder auch nur haftungsrechtlich an die Stelle dieser Strukturgröße treten könnte (S. 16 ff.).

[18Zudem: wenngleich sich gegenwärtig die staats- beziehungsweise völkerrechtliche Natur der EU nicht ganz einfach bestimmen läßt, so scheint immerhin klar zu sein, daß wir es im Rahmen der Zwölfergemeinschaft inzwischen nicht länger mit Außen-, sondern angesichts der vielfältigen Verzahnungen eigentlich bereits mit Innenpolitik zu tun haben.

[19Es wird allerdings Zeit für diese Einkehr, sonst sind Kurskorrekturen nicht mehr möglich, wenn und weil die Souveränität für Änderungen längst nach Brüssel und damit an einen rein vordemokratischen Apparat abgegeben worden sind. Und das, obschon etwa das hiesige Demokratieprinzip des Artikels 20 GG nach Artikel 79 III gegen seine Aushöhlung geschützt ist: Auch gegen solche Schmälerung, die sich auf dem Umweg über die Verschiebung von Verantwortung zugunsten eines europäischen Bundesstaates summiert.

[2020 Übrigens gerade im langfristigen Interesse einer Europäischen Gemeinschaft, für deren Gelingen die Herzen ihrer Völker »ebenso schlagen wie zuvor für die kleinen Vaterländer, die sie jedoch nicht vergessen« (S. 321). So jedenfalls hat es 1932 mit Blick auf das leidige Gegeneinander unserer Staaten der italienische Historiker Benedetto Croce in seiner magistralen »Geschichte Europas im 19. Jahrhundert« (Frankfurt am Main/Leipzig 1993) erhofft. Um jedoch den alten Erdteil auf die Dauer von »jener ganzen Psychologie zu befreien, die mit dem Nationalismus verbunden ist« (a.a.O.), sei eine Zusammenarbeit der Völker vonnöten, in deren Umfeld sich die beteiligten Länder als »Bewußtseinszustände« des gleichen kulturellen Erbgutes erfahren. Das war sehr weitsichtig gedacht, obgleich etwas idealistisch. Doch erscheint es nach jahrzehntelanger EU-Kooperation immerhin als absurd, Streitigkeiten wie früher über Kimme und Korn auszutragen. Das schließt den Bedarf und damit das Fortwähren einer überschaubaren Nahverwaltung freilich nicht aus, denn Vielfalt und nicht Einheit macht Europa aus.

[21»Erweiterung, Vertiefung, Verkleinerung«, Europa-Archiv 10 (1993), S. 308 ff.

[22Dagegen die blendende Problembeschreibung durch Stefan von Senger und Etterlin, »Das Europa der Eurokraten«, Aus Politik und Zeitgeschichte Nr. 42 (1992), S. 16 ff.

[23Vertrag von Maastricht, vgl. Europa-Archiv 6 (1992), S. D 177 ff, hier Titel II/Artikel G/»Artikel 2«, S. D 180.

[24»Europa droht Balkanisierung«, Die Zeit vom 25.4.1980, S. 9.

[25»EG will Währungssystem nicht reformieren«, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 24.5.1993, S. 15.

[26Vgl. »Europa ’92. Cecchini-Bericht: Der Vorteil des Binnenmarktes«, Baden-Baden 1988.

[27Um sage und schreibe 430 Milliarden Mark würde der Wohlstand der Zwölfergemeinschaft im grenzenlosen Markt gemehrt, immerhin 1300 DM mehr je EU-Einwohner. Überdies winkten binnenmarktweit mindesten zwei Millionen neue Arbeitsplätze durch mehr Konkurrenz, größere Nachfrage oder auch durch die Abschaffung der hemmenden Grenzformalitäten. Wenn die Euro-Prognostiker nach ihrer Treffsicherheit bezahlt würden, wären sie heute allesamt arbeitslos.

[28Die verspätete Zustimmung an der Themse ging allerdings nur über die Bühne, weil die oppositionelle Labourpartei beschlossen hatte, der entscheidenden Sitzung fernzubleiben. Man mochte es nicht mit der Regierung halten, wollte aber in dieser Frage trotz sonstiger Vorbehalte den amtierenden Premierminister nicht scheitern lassen. Und auch nach der Zustimmung standen der Regierung Major Schwierigkeiten genug ins Haus. So im Oberhaus, das seit dem 7. Juni 1993 über das Vertragswerk debattierte. Lady Thatcher und Lord Tebbit suchten hier ihre Chance, der Regierung einen Strich durch die Rechnung zu machen. Überdies mußte sich die Regierung im Herbst 1993 erneut einer Abstimmung im Unterhaus stellen. Diesmal über eine Extrawurst, die Großbritannien in Maastricht den Partnern erst nach zähen Verhandlungen abgerungen hatte: Danach muß London sich nicht an der EU-Sozialcharta beteiligen und kann darum mittels Sozialdumping womöglich das wirtschaftliche Hongkong des Erdteils spielen.

[29Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe monierte den Souveränitätsabfluß aus Bonn in einen demokratiefreien EU-Raum, wie es eine unter dem Titel »Europa als politische Idee und als rechtliche Form« (Berlin 1993) vorgelegten Studie von Paul Kirchhof, Hermann Schäfer und Hans Tietmeyer über die drohende Entstaatlichung darlegt, die Josef Isensee herausgegeben hat.

[30Zu den Auseinandersetzungen im Vorfeld vgl. Philippe de Villiers, »Notre Europe sans Maastricht«, Paris 1992

[31Erich Grüner, »Wenn die jahrhundertealten Grenzen verschwinden ...«, Die Weltwoche vom 10.3.1988, S. 43 f., hier S. 43.

[32Wie es sich dem monumentalen, von Peter Rehder herausgegebenen Lexikon »Das neue Osteuropa von A - Z« (München 21993) entnehmen läßt.

[33Diese »Europa-Verträge« mit Polen und Ungarn sind am 1.2.1994 in Kraft getreten, Anfang März kam zum ersten Mal der entsprechende »Assoziierungsrat« zusammen.

[34Vgl. Der Spiegel Nr. 23 (1993), S. 144 f.

[35Vgl. Europa-Archiv 13-14 (1993), S. D 257 ff., hier S. D 263 f.

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