MOZ, Nummer 50
März
1990
Bundesheer:

Heer ohne Demokratie — Demokratie ohne Heer?

Im November vergangenen Jahres stimmten 35,6% der EidgenossInnen für eine Schweiz ohne Armee. In Österreich wurde — trotz realer Abrüstung in Osteuropa, trotz ständigen Imageverlustes des Bundesheeres — die Grundsatzdebatte über den Sinn der Armee verdrängt.

Oerlikon-Skandal und anschließende Medienkampagnen brachten das Bundesheer wieder in die Schlagzeilen: Berufsheer, Volksmiliz oder gar keine Armee?

Über Reform oder Abschaffung diskutieren:
Lukas Berger, Totalverweigerer;
Andreas Gross, „Gruppe Schweiz ohne Armee“;
Albert Hirsch, antifaschistischer Widerstandskämpfer;
Fritz Klocker, Mitglied der Bundesheerreformkommission der SPÖ.
Das Gespräch leitet Christof Parnreiter.

(v.l.n.r.) Lukas Berger, Andreas Gross, Christof Parnreiter, Fritz Klocker, Albert Hirsch
Fotos: M. Neumann
Parnreiter: Nach jahrelanger Diskussion um Teilaspekte der Landesverteidigung, wie die Draken oder die Raketenbeschaffung, ist heute das Bundesheer wieder als solches in Frage gestellt. Eröffnet das Chancen?

Berger: Ich gehe davon aus, daß der überwiegende Teil der Bevölkerung dem Bundesheer sehr skeptisch gegenübersteht bzw. es ablehnt. Die Chance, eine prinzipielle Diskussion über das Bundesheer zu führen oder es abzuschaffen, steht deshalb eigentlich immer gut. Das Besondere an der Situation ist aber, daß eine Diskussion nachgeholt wird, die gerade von der Linken vernachlässigt worden ist. Die schien sich in den letzten 15 Jahren mit dem Zivildienst zufriedengegeben zu haben. Es geht nun darum, wie die Diskussion genutzt werden kann, um eine Chance zu bieten.

Allerdings sehe ich gar nicht eine so große Chance denn eine Gefahr. Jetzt kommen in der Diskussion die „Geister aus der Flasche“, da kommen die Berufsheerideen.

Hirsch: Vorest möchte ich mich bedanken, in einem solchen Kreis junger Menschen eingeladen zu sein. Ich persönlich habe mich schon in den 20er, 30er Jahren im Kampf um den Frieden eingeschaltet, denn der Kampf gegen den Faschismus war mit dem Kampf um den Frieden verbunden.

Ich glaube, daß sich die Frage der Abschaffung des Heeres nicht einmalig stellt. Sie hängt zusammen mit der prinzipiellen Frage, ob es eine Zeit geben kann, in der es Frieden gibt. Es ist eine weltpolitische Frage, die nicht nur vom österreichischen Gesichtspunkt aus gesehen werden kann. Heute ist das Problem aktualisiert worden. Seitdem die Sowjetunion eine Politik steuert, die die Konfrontation abbauen möchte, seither beginnt eine Welt ohne Krieg konkret zu werden. Was früher Utopie war, wird zu einer Tagesfrage. In Österreich muß man das verbinden mit konkreten Möglichkeiten.

Gross: Man sollte wirklich nicht vergessen, daß das, was in Österreich passiert, Ausdruck einer europäischen Sensibilisierung ist. Armeen droht überall der Verlust der Rechtfertigung. In der Schweiz haben wir die Möglichkeit, mit einem schönen Instrument, nämlich der Volksabstimmung, zu zeigen, was sich in allen Ländern an anderem Bewußtsein entwickelt hat: Militär und Gewalt können Konflikte nicht mehr lösen, sondern sind selbst zum Problem Nummer eins geworden.

Die Chance bei Euch liegt darin, daß jetzt überhaupt eine Diskussion stattfindet. Vor zehn Jahren, als wir angefangen haben, wurden wir sozusagen fast exkommuniziert. Denn die SchweizerInnen bekamen mit der Muttermilch vermittelt, daß die Armee existiert und sich durch sich selbst rechtfertigt. Darüber durfte man nicht sprechen. Die Gefahr der Diskussion in Österreich sehe ich allerdings in diesen Zeitungen, die das Thema okkupiert haben und einen verleiten könnten, etwas zu schnell durchzuziehen. Es geht aber darum, eine grundsätzliche tiefe gesellschaftliche Diskussion auszulösen und nicht eine konjunkturabhängige. Denn wenn wir von der Abschaffung der Armee sprechen, dann sprechen wir von der Überwindung einer Institution, welche unabläßlicher Bestandtteil 2000jähriger „Kultur“geschichte der Menschheit war. Es geht damit um einen Umbau gesellschaftlicher Strukturen, die friedensverträglich gemacht werden müssen. Die Armee ist nur der Eisberg.

Parnreiter: Lukas Berger hat das Versäumnis der Linken in der Militärdebatte angeschnitten. Lange sind hier Ideen herumgegeistert, die etwa auf Friedrich Engels zurückgreifen, der 1865 geschrieben hat: „Die allgemeine Wehrpflicht ist die notwendige Ergänzung des allgemeinen Stimmrechts“. Sind solche Vorstellungen noch aktuell?

Gross: Uns ist aufgefallen, daß aus dieser Tradition der Mythos der Miliz entstanden ist. Interessanterweise haben die 68er diesen Mythos sehr aufgewärmt — viele 68er-GenossInnen haben uns überhaupt nicht verstanden. Aber nur, weil etwas eine große Vergangenheit hatte, heißt das nicht, daß es eine entsprechende Zukunft hat. Es geht nämlich um zwei Fragen: Brauchen wir eine Armee, und wenn ja, welche? Wenn wir eine brauchen, dann ist eine Milizarmee einer Berufsarmee vorzuziehen. Sie läßt sich übrigens auch einfacher abschaffen. Das war aber die Frage des 19. Jahrhunderts, wir stehen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Da geht es vor allem um die erste Frage: Brauchen wir ein Heer?

Für das Primat der Politik über das Militär! (Klocker)

Klocker: Man muß das historisch sehen: Die Arbeiterbewegung hat die Forderung nach einer Milizarmee aufgestellt, weil der bürgerliche Staat diese Berufsarmee immer als Instrument in der Hand hatte. So ähnlich sehe ich das mit den 68ern. Deren Hintergrund war ein überstandener Krieg und eine Polarisierung zwischen Ost und West, der Kalte Krieg. Da hat natürlich der Wunsch, eine Armee zu haben, die nicht ganz so gefährlich war wie ein Berufsheer, im Vordergrund gestanden. Darum Milizheer.

Warum wird heute auch eine Milizarmee in Frage gestellt? Nicht nur, weil sich im Osten einiges bewegt, nicht nur wegen des ökonomischen Wahnsinns, den die Rüstung darstellt, sondern weil die eigentliche Aufgabe, die die Armeen in Ost und West vorgeben zu erfüllen oder auch erfüllen, nämlich Sicherheit zu produzieren, ins Irrationale entschwunden ist. Eine Sicherheit, die mit 56facher Overkillkapazität zum Ausdruck kommt, das ist keine mehr. Das zweite ist, daß die informiertere Gesellschaft, die entstanden ist, die Landesverteidigung hinterfragen kann und überlegen kann, wie sie ausschauen soll.

Berger: Aber ich sehe nicht, daß sie überhaupt notwendig ist.

Klocker: Wir führen in der Partei durchaus auch eine Grundsatzdiskussion: Grundsätzlich sind wir für die Überwindung des Militärs, aber der realpolitische Ansatz ist: wie kann man das bewerkstelligen? Wie kann eine Armee zukünftig aussehen, angesichts des sich wandelnden Umfeldes, angesichts neuer Aufgaben, angesichts eines politischen Wollens, das auf Fortentwicklung ausgerichtet ist, eine Fortentwicklung dergestalt, daß eine Armee vielleicht nicht mehr bestehen muß. Militärs können das in ihrer Welt so rasch nicht nachvollziehen und so ein großes Hemmnis bilden. Gegen diese Offiziere kann man aber keine Reform machen, man braucht sie als Bündnispartner. Der konkrete Weg ist daher sehr schwer. Jetzt sehe ich jedenfalls die Chance, Strukturen aufzubauen, daß das Heer demokratischer wird.

Berger: Aber die Notwendigkeit des Militärs, die sehe ich nicht. Du hast ja auch keine genannt. Daß die Forderung nach einer Volksbewaffnung als Reaktion auf ein Heer, das gegen Arbeiter eingesetzt wurde, entstanden ist, ist richtig. Doch diese Situation hat sich gewandelt. Wir haben ja heute nicht mehr das Militär als das Repressionsinstrument gegen Streiks etc., die Aufgaben, die früher das Berufsheer erfüllt hatte, werden heute von der Polizei wahrgenommen. Das Erschreckende am Berufsheer, alles Schlechte, das das Berufsheer vom Milizheer unterscheidet, ist voll aufgegangen in Sondereinheiten der Polizei, die gegen Demonstrationen, grenzüberschreitende Flüchtlinge usw. eingesetzt werden. Man darf sich also die Frage: Berufsheer oder Milizheer nicht aufdrängen lassen.

Die einzige Notwendigkeit des Heeres ist seine Funktion als Schule der Nation: Das ist das patriarchale Element der Gesellschaft, die schlimmste Männerbündelei: die Männer dort werden in brutalster Form mit sämtlicher negativer Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft konfrontiert und danach ausgerichtet.

Hirsch: Das Oerlikon-Beispiel zeigt doch: Diese Feldherrenkarikatur Lichal versucht, sich in seiner Gefolgschaft durchzusetzen, Macht zu demonstrieren. Das hat uns 20 Millionen gekostet. Hier geht es doch darum, zu zeigen, daß wir Demokratie im Heer brauchen.

Gross: Demokratisierung des Heeres ist, wie wenn der Papst für freie Liebe eintreten würde. Das ist ein Widerspruch in sich selbst. Das hat in den Hunderten von Diskussionen, die wir durchgeführt haben, auch nie ein Offizier bestritten. Eine Armee kann nur funktionieren, wenn der Mann einen Befehl ausführt — ohne lange darüber nachzudenken.

Klocker: Es gibt aber historische Beispiele, daß dem nicht so ist. Im Bundesheer der Ersten Republik hat es Soldatenräte gegeben, da wurden die Kommandanten gewählt, da wurde über Befehle abgestimmt.

Gross: Aber doch nur in Friedenszeiten.

Klocker: Nein, auch im Einsatz. Man muß natürlich sagen, daß das Spektakel schnell wieder vorbei war.

Hirsch: Es ist schon richtig, daß wir in den 20er Jahren die Volkswehr hatten, die ist dann abgelöst worden vom Bundesheer, das war dann schon nicht mehr demokratisch. Der Seipel hat alles, was links war, aus dieser Armee rausgeschmissen. Es stimmt also, man kann nicht der Illusion nachjagen, ein demokratisches Heer aufzubauen, man muß aber dennoch im Heer gegen alles kämpfen, was demokratiefeindlich ist, das kann man.

Berger: Ich frage mich, wie kann ich die Sinnlosigkeit des Heeres thematisieren? Der effizienteste Weg ist das konsequente Auftreten gegen das Militär. Man muß ein Klima erreichen, in dem sich Militärs gesellschaftlich unwohl fühlen. Denn ein Klasseninstrument kann man nicht reformieren.

Demokratisierung des Heeres ist, wie wenn der Papst die freie Liebe pre­digen würde. (Gross)

Gross: Ich möchte zurückkommen auf die Grundsatzfrage. Die Armee rechtfertigt sich doch damit, daß sie behauptet, sie biete Schutz. Und das ist heute nicht mehr möglich. Die Brutalität und die Simplizität des militärischen Handelns sind völlig unvereinbar mit dem, was eigentlich verteidigt werden soll. Die Gesellschaften sind heute in einer Art verletzbar, wie sie das vor 200 Jahren noch nicht waren. Diese komplexen Strukturen können mit einer Armee nicht beschützt werden. Es kann nicht verteidigt werden. Mehr noch: Die Armee zerstört den Frieden. Denn sie zwingt auch im zivilen Leben zu Strukturen, die nicht den demokratischen Vorstellungen entsprechen.

Hirsch: Ich gebe Dir recht. Das widerspricht aber nicht dem, daß man im Heer kämpfen muß gegen den Kadavergehorsam, gegen die Unterdrückung.

Gross: Noch naheliegender wäre es, die Armee insgesamt der Politik unterzuordnen, also wieder das Primat der Politik herzustellen.

Hirsch: Die Politiker, auch wenn sie über den Generälen stehen, machen eine Politik, die im Interesse einer gewissen Schicht, einer gewissen Klasse, wenn ich mich nach meiner Art ausdrücken kann, ist. Man muß sehen, daß das Militär immer die Politik der Herrschenden vertritt.

Klocker: Bei Clausewitz gibt es eine sehr interessante Abhandlung. Er schreibt, daß die Politik nichts anderes mehr ist als der Exekutor militärischer Sachzwänge. Heute ist das doch genau so. Ich bin als Milizsprecher meiner Partei gescheitert, weil ich gesagt habe: Ihr könnt Euch doch von den Militärs nicht die Politik bestimmen lassen. Clausewitz wollte gerade das Primat der Politik über das Militär. Nichts anderes bedeutet sein: „Krieg ist die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“. Die Politik bestimmt das Ziel, und ein Mittel, dieses Ziel zu erreichen, kann unter anderem eine Armee sein.

Gross: Damals, heute nicht mehr.

Parnreiter: Ist das Konsens, daß heute in Mitteleuropa die Armee kein Mittel der Politik mehr sein kann?

Klocker: Das Militär ist auch heute noch in einer Ghettosituation, weil es nicht glaubhaft vermitteln kann, daß es die Gesellschaft schützen kann. Ich will die Sinnhaftigkeitsdebatte jetzt nicht führen, aber einen Ansatz will ich deponieren: Das bürgerliche Recht kennt die Notwehr als individuellen Selbstschutz. Und ein kollektiver Selbstschutz sollte doch auch möglich sein.

Gross: Ich sage ja nicht, daß das Sicherheitsbedürfnis illegitim sei. Ich frage nur: Was müssen wir tun, damit diesem Bedürfnis entsprochen wird? Da kommt dann eben die Verletzbarkeit der Gesellschaft. Vor dieser Verletzbarkeit kannst Du mit dem Militär nicht mehr schützen.

Parnreiter: Schützen vor wem?

Klocker: Vor Störungen von außen. Ich verstehe es allerdings auch nicht, wenn Brigadier Clausen etwa meint, daß die Ungarn mit den Rumänen und die Bulgaren mit den Türken kämpfen werden, was soll das für Auswirkungen auf uns haben, außer Flüchtlingsströme? Aber es sind nach wie vor Szenarien denkbar, die unsere komplexen Gesellschaftsstrukturen stören könnten.

Berger: Das sind doch durchwegs Szenarien innerer Konflikte.

Klocker: Das weiß ich nicht.

Berger: Wenn ich nachdenke über denkbare Einsatzmöglichkeiten, dann fallen mir nur innere ein.

Klocker: Man kann natürlich meinen, daß es für unser Land keine potentielle militärische Gefahr gibt, daß sich also die Frage nach der konkreten Form des Heeres gar nicht stellt. Das Bundesheer ist aber eine Realität. Man muß es daher ganz realistisch reformieren, demokratisieren. Und man muß es in eine bestimmte Organisationsform bringen, so daß es entwicklungsfähig bleibt. Diese Organisationsform muß in Verhältnis gesetzt werden zum sich ändernden Umfeld. Also: Wie wahrscheinlich ist Krieg? Die Antwort darauf bestimmt die Organisationsform. Das ist ein Prozeß.

Parnreiter: Du drückst Dich um die Grundsatzfrage: Kann das Militär diese Sicherheit überhaupt produzieren?

Klocker: Das ist eine philosophische Frage. Ich weiß es nicht.

Gross: Die Wahrscheinlichkeit ist so klein, daß die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung dahinfällt.

Klocker: Das ist im Prinzip eine „Was-wäre-wenn-Frage“. Ich brauche aber auch einen pragmatischen Zugang. Ich möchte es ja besser machen, das Heer in einen dynamischen Prozeß bringen.

Parnreiter: An dessen Ende Du Dir die Abschaffung vorstellen kannst?

Klocker: Selbstverständlich. Im übrigen steht es ja im Parteiprogramm, daß wir uns eine Zukunft ohne Heer gut vorstellen können.

Parnreiter: Wenn aber der äußere Feind nicht existiert, wozu dann noch reformieren? Warum nicht den größten defizitären Staatsbetrieb schließen?
Man muß gegen alles Demokratie­feindliche im Heer kämpfen. (Hirsch)

Hirsch: Du hast insofern recht, als daß das die Endkonsequenz ist. Aber können wir das heute schon machen? Nein. Doch wir können im Heer starken Einfluß nehmen, ob der Weg in Richtung Draken und Raketen oder in Richtung Abbau der Armee geht. Auch ist das eine soziale Frage: Vergeßt nicht, daß das Bundesheer derzeit für tausende Familien die Existenzgrundlage darstellt. Wir müssen heute schon überlegen, was aus denen wird. Die Frage der Reform ist auch von dem Gesichtspunkt zu sehen, wie diese Männer in die Produktionssphäre eingebaut werden können.

Parnreiter: Seit Jahrzehnten wird die Demokratisierung eingeklagt. Ergebnis: Das Bundesheer heute ist undemokratisch, NATO-orientiert usw. Die wenigen Reformen gehen zurück auf Anti-Bundesheerinitiativen. Insofern müssen sich Antimilitaristen auch die kritische Frage stellen, ob sie nicht mit radikalen Argumenten den Reformern den Boden bereiten und somit die Unzufriedenheit mit dem Heer lindern.

Klocker: Das Wehrgesetz von 1988, das die Miliz in der Verfassung verankert hat, ist durch keinen äußeren Druck entstanden und hat dennoch einen Qualitätssprung gebracht. Die Milizsoldaten sind heute tatsächlich besser gestellt.

Berger: Das Zentrale ist aber nicht die Frage: Wie steht’s um das bürgerliche Heer? Wichtig ist vielmehr, daß auch Du, Fritz Klocker, Teil dieses Systems bist, eines Systems, das Totalverweigerer wie mich einsperren läßt.

Gross: Fritz Klocker läßt sich beide Möglichkeiten offen, und wenn es stimmt, daß am Schluß die Abschaffung rauskommen kann, dann stört er unsere Art zu arbeiten gar nicht.

Berger: Das sehe ich auch so.

Gross: Schaden wir uns selbst, wenn wir die Grundsatzfragen vorantreiben und damit Reformen auslösen? Ich denke nicht. Historisch gedacht kann etwas, das hunderte Jahre so legitim schien wie die Armee, nur in einem Prozeß überwunden werden. Ich denke nicht, daß ein brutales, ganz schlimmes Heer die Augen eher öffnet als ein anderes. Auch eine gewisse Annäherung an unsere Position bringt etwas. Österreich mit seinem kleinem Heer wird ja aus der Sicht der Schweizer Militärs ausgelacht. Das heißt, die Debatten, die es bei Euch in den letzten 20, 30 Jahren gegeben hat, die haben was bewirkt.

Klocker: Würde durch die Abschaffung nicht eine neue Instabilität entstehen?

Gross: Die gibt’s dann nicht, wenn die Abschaffung Konsequenz einer willentlichen Mehrheit ist.

Klocker: Gilt das auch für die äußere Instabilität?

Gross: Ja. Weil es sehr unwahrscheinlich ist, daß wir in der Schweiz oder in Österreich eine Mehrheit für eine Armeeabschaffung finden und in der BRD oder in Italien nicht.

Klocker: Und das tangiert auch keine völkerrechtlichen Verpflichtungen eines neutralen Staates?

Gross: Nein. Das Völkerrecht stammt vom Anfang des Jahrhunderts. Die AKW-Gesetzgebung zum Beispiel basiert ja auch nicht auf Gesetzen aus der Zeit der Erfindung der Glühbirne. Das Völkerrecht muß auf das Atomzeitalter abgestimmt werden.

Das Erschreckende am Berufsheer ist in der Polizei auf­gegangen. (Berger)

Berger: Ich vermisse immer noch, daß jemand die Notwendigkeit des Bundesheeres erklärt. Denn es gibt Länder, in denen die Bevölkerung tatsächlich bereit ist, für die Verbesserung ihrer politischen und sozialen Situation zu kämpfen. In El Salvador zum Beispiel, dort ist die FMLN in der Bevölkerung verankert. Ich will nicht hier eine Guerillaarmee aufbauen, ich will nur erklären, daß es Situationen gibt, in denen die Menschen für etwas kämpfen. Aber in Österreich ist das nicht so.

Klocker: Diesen Ansatz würdest Du akzeptieren?

Berger: Ja, wenn es von den Menschen ausgeht. Ich bin Totalverweigerer, weder weil ich Pazifist noch weil ich so wesentlich antimilitaristisch orientiert bin, auch nicht, weil ich denke, daß weltweit ein Friedensprozeß im Gang ist, im Gegenteil. Seit der sowjetischen Erneuerungspolitik haben die bewaffneten Konflikte weltweit zugenommen. Ich bin Totalverweigerer, weil ich meine, daß verschiedene Bewegungen verknüpft werden müssen: Antimilitaristische Bewegung, Sozialbewegung, Häuserbewegung. Man muß eben die Gegner benennen. Und das Bundesheer ist ein Gegner. Darum muß man offensiv dagegen vorgehen. Ich kann da mit dem Begriff „Soziale Verteidigung“ viel mehr anfangen als mit „militärischer Verteidigung“.

Klocker: Aber Du überhöhst sie ja idealtypisch. Denn selbstverständlich gibt es auch in Untergrundarmeen Strukturen, die dem entsprechen, wie sich ein Militär bei uns zeigt. Ich tu mir nur schwer, zu sagen, dort darf es sein und bei uns nicht.

Berger: Nicht: „Es darf nicht geschehen“, sondern: „Es kann gar nicht geschehen bei uns“.

Gross: Die Armee ist auch eine taktische Frage. Wenn mich wer Pazifist nennt, dann distanziere ich mich nicht, aber selber würde ich mich nicht so bezeichnen. Ich selbst kann nie mit Waffen kämpfen, weil ich hier sozialisiert wurde. Aber ich denke, die Menschen in Südamerika wissen besser, was für sie richtig ist. Ich kann sie auf Gefahren der Militarisierung, die auch in Widerstandsbewegungen stattfindet, aufmerksam machen. Aber ich bin nicht gegen sie, weil sie ein anderes Mittel wählen.

Wir müssen die Ursachen der Kriege angehen, und das kann nur eine supranationale Aufgabe sein. Die Armee ist das Symbol einer nationalstaatlichen Ordnung. Wir müssen weltweit Verhältnisse aufbauen, in denen jeder Mensch seine Existenzsicherung findet.

Parnreiter: Ich möchte die Frage der Abschaffung noch unter einem anderem Gesichtspunkt besprechen. Es geht ja nicht nur darum, ob Mehrheiten gegen das Bundesheer gefunden werden, sondern auch darum, ob das Bundesheer, das ein Instrument des kapitalistischen Staates ist, bei Weiterbestand dieses Staates ersatzlos abgeschafft werden kann?

Hirsch: Es ist möglich.

Gross: Eine Strukturhaftigkeit im Denken von Menschen in sozialistischer-marxistischer Tradition unterschätzt den Faktor dessen, was subjektiv möglich ist. Die Bürger sind da flexibler. Wenn sie sehen, daß zwei Drittel der Menschen gegen das Heer auftritt, dann ist der Staat in der Lage, darauf zu verzichten. Es geht darum, die Einsichten so tief zu verankern, daß staatliche Repressionsinstrumente wie die Polizei von der Delegitimation genauso erfaßt werden. Auch der bürgerliche Staat kann gezwungen werden, auf die Armee zu verzichten.

Hirsch: Wenn Du jetzt Leute gegen das Bundesheer mobilisieren möchtest, dann wirst Du kaum großen Erfolg haben. Ich bin seit 70 Jahren politisch aktiv. Und Einschätzungen, wie Ihr sie jetzt habt, daß es leicht möglich ist, das Heer abzuschaffen, haben wir sehr oft gehabt.

Gross: Man darf die Leute nicht unterschätzen. Wir haben ja mit etwa einer Million Menschen gesprochen, und immer wieder ist der Satz gefallen: „Ja, ich habe mir das auch schon überlegt, aber ich fühlte mich ganz allein, darum habe ich nichts gesagt.“ Es geht also um einen kommunikativen Prozeß.

Klocker: Was mir an der Schweiz gut gefallen hat ist, wie umfassend dort diskutiert wurde. Bei uns ist das ja ganz oberflächlich. Meine Partei hat also nichts gegen eine Volksabstimmung, aber man kann so wichtige Diskussionen nicht auf „Kronenzeitungs“-Niveau abhandeln. Gerade vor dem Hintergrund der Zeitungskampagnen ist eine solche Grundsatzdiskussion wichtig, denn die bringen substantielle Fragen auf ein nihilistisches Abstraktionsniveau, das in Wirklichkeit eine Diskussion verhindert.

Gross: In der Schweiz, einem Land, in dem es reicht, gegen Utopien zu sein, um als Realist zu gelten, war es möglich, in zehnjähriger Arbeit mehr als eine Million Menschen für eine gute Idee zu gewinnen. Und wenn es in der Schweiz möglich war, dann würde ich meinen, daß in Österreich noch mehr möglich ist. Denn die Rechtfertigung des Bundesheeres ist ungleich schwächer als die Legitimation der Schweizer Armee. Also, scheut Euch nicht, die Grundsatzfrage in einer differenzierten, radikalen und zugleich sanften Form unter die Leute zu tragen.

Aber provoziert nicht zu schnell eine Volksbefragung, ohne vorher die Grundsatzfragen diskutiert zu haben.

Klocker: Ich kann das nur unterschreiben. Eine zu rasche Volksabstimmung würde den ganzen Prozeß, den Andreas Gross beschrieben hat, weglassen. Außerdem gäbe es derzeit weder eine Mehrheit für das eine noch für das andere. Das Ergebnis wäre eine Polarisierung, und das bedeutet, daß die Steuerungskapazität verlorengeht, daß keine Politik mehr gemacht werden kann.

Hirsch: Die Schweizer sind ja nicht sehr utopistische Menschen, darum ist das Ergebnis der Volksabstimmung umso prägnanter. Wenn die Bereitschaft zur Abschaffung der Armee jetzt schon vorhanden ist, gut.

Parnreiter: Ich danke für das Gespräch.
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