FORVM, No. 183/I
März
1969

Zur Strategie der Revolution in Europa

Plakat aus den Pariser Maitagen 1968

Die große revolutionäre Lektion aus den Pariser Maitagen 1968 ist eine strategische Lektion: man muß vom Reden zum Handeln übergehen in Form der Kontestation; sie erscheint heute als, wo nicht einziges, so doch sicherstes Mittel der Revolution, zugleich als das gewaltfreieste Mittel. Man muß sie nun im größeren europäischen Rahmen erläutern, diskutieren, entwickeln — wie man dies mit dem Guerillakrieg in Lateinamerika getan hat. Durch entsprechende Adaption muß man die französische Strategie der Kontestation anwendbar machen für das übrige Europa.

Zugleich muß man dahingelangen, daß man sich distanziert von Strategien, die gestern gültig gewesen und heute anderswo gültig sein mögen, die aber nur sehr teilweise den Verhältnissen entsprechen, die wir objektiv wie subjektiv jetzt und hier in der europäischen Konsumgesellschaft vorfinden. Strategien, von denen solche Distanzierung nötig ist, sind zum Beispiel jene, die sich angeblich herleiten vom Leninismus, Maoismus, Trotzkismus, Castrismus, Anarchosyndikalismus. Sie mögen zwar die Phantasie entzünden, sind aber allzu künstlich und allzu hypothetisch.

Die „westliche Welt“ bedarf einer radikalen und totalen Transformation; aber die Formen der Entfremdung, unter denen die „westliche Welt“ leidet, sind andere als jene in anderen Teilen der Welt. Logischerweise bedarf es daher auch anderer Strategien, um jenes Ziel zu erreichen, das allen revolutionären Bewegungen in der Welt von heute gemeinsam ist.

Die Krankheit der „westlichen Welt“ bedarf anderer Heilmittel als eines von anderswo ausgeborgten Steines der Weisen. Die europäische revolutionäre Strategie ist in Frankreich spontan entstanden: die Strategie der Kontestation.

Die neue Sprache

Eine neue Politik braucht eine neue Sprache; bis zu den Maitagen gab es sie in Frankreich nicht. Unsere revolutionäre Sprache war ungenau, konformistisch, ein Wortschwall, der weder die Studenten noch die Arbeiter mobilisierte; es gelang uns nicht einmal die Differenzierung vom stalinistischen Vokabular. Die neue revolutionäre Sprache entstand zugleich mit den Barrikaden, Demonstrationen, Plakaten, mit der Bewegung von Studenten und Arbeitern, mit Streiks und Fabriksbesetzungen.

Und diese neue Sprache wurde sogleich wirksam: Sie schlug eine tiefe Bresche in das neokapitalistische System und in die bürgerlichen Institutionen, sie zerstörte die zugehörigen Mythen, politisierte in Rekordzeit eine ganze Generation.

Seit dem Mai 1968 ist Frankreich zweisprachig; wenn die einen von den andern verstanden werden wollen, müssen sie die Sprache wechseln.

Die neue Sprache ist — eben weil sie noch neu ist — unvollkommen. Die Kontestation hat viel Phantasie entwickelt, aber nicht genug, um alle ihre Bilder, alle ihre Worte zu produzieren. Man macht noch immer gewisse unglückliche Anleihen, zum Beispiel bei stalinistischer Scholastik. Aber die neue Sprache, geboren aus der Aktion, wird durch neue Aktion korrigiert und fortenwickelt werden.

Kulturrevolution

Durch dynamische Dialektik von Aktion und Sprache präsentiert sich die Kontestation insbesondere als Instrument der kulturellen Revolution. Die Praxis der Kontestation führte zur Entwicklung einer zugehörigen Sprache; diese Sprache transformiert ihrerseits das politische Gespräch und das Bewußtsein. Die neue Sprache wird zu einer Waffe: zur Waffe des kulturellen Widerstands. Konfrontiert mit diesem Widerstand erweist sich die Bourgeoisie, deren Sprache und politische Praxis historisch kraftlos geworden ist, auch als kulturell verbraucht; es bleibt ihr nichts als der Rückgriff auf die physische Gewalt. Sie ist verantwortlich für die Gewalttätigkeit der gegenwärtigen Situation, weil ihr die befreiende Kraft des Wortes fehlt.

Die Alte Linke leidet am gleichen bürgerlichen Phantasiemangel; auch sie verurteilt jene, die mehr Phantasie haben als sie. Wahrscheinlich würde auch sie, wenn sie dazu in der Lage wäre, der Versuchung unterliegen, die Neue Linke mit Gewalt zu eliminieren.

Taktik

Im Ablauf revolutionärer Prozesse gibt es starke und schwache Zeiten; danach bestimmt sich die taktische Haltung. So mag es scheinen, daß die Kontestation zwei Schritte vorwärts und einen Schritt zurück macht, oder auch umgekehrt. Aber Schritte zurück können in bestimmten Situationen notwendig und nützlich sein, zum Beispiel, damit die revolutionäre Bewegung nicht den Kontakt verliert mit Gesellschaftsschichten, die späterhin vielleicht als ihre Verbündete gewonnen werden können. Unter Umständen kann der Verzicht auf Barrikaden und, statt dessen, die intensive Diskussion mit der Bevölkerung dahin führen, daß diese ihre abwartende Haltung aufgibt und sich den revolutionären Kräften anschließt; wogegen Gewalttätigkeit sie — vorübergehend oder definitiv — in die Arme der Konterrevolution treiben kann.

Der gemeinsame Nenner aller Elemente der Kontestation ist: Verwerfung aller legalistischen Illusionen. Dies ist die notwendige, aber auch ausreichende Bedingung für die Allianz aller Gruppen, die, obgleich sie die Kontestation wollen, in ihren taktischen Ansichten divergieren, weil sie noch von dem spezifischen Gedankengut jener politischen Organisationen geformt sind, aus denen sie stammen. Diese taktischen Differenzen müssen verstanden werden als ein Reichtum an alternierenden Möglichkeiten und nicht als Anlaß zu Spaltung und Fragmentation, was zum Tod der revolutionären Bewegung führen würde.

Die Kräfte der Kontestation müssen sich im fundamentalen Punkt — keine legalistischen Illusionen — einig sein; im übrigen sollen sie ihre eigene taktische Wahl treffen, je nach dem sozialen, politischen, kulturellen Milieu, in dem sie operieren.

Organisation

Jenes Minimum an Gemeinsamkeit des Bewußtseins erfordert auch ein Minimum an Gemeinsamkeit der Struktur. Entweder findet die Kontestation ihre Organisationsform oder sie bleibt ohne solche, wird daher von der etablierten Gesellschaft wieder verschlungen.

Die Kontestation ist nicht darauf aus, diese etablierte Gesellschaft durch frontalen Angriff zu zerstören; dies würde blutige Gewalt bedeuten. Sie will statt dessen diese Gesellschaft progressiv unterminieren. Die Kräfte der Kontestation operieren daher innerhalb der Strukturen, gegen die sie ankämpfen, die sie aber nicht anders beseitigen können als durch Aufbau neuer Strukturen, von unten her, in Etappen. Dies gilt für Strukturen der materiellen wie geistigen Produktion (Industriebetriebe und Hochschulen).

Wenn sich die Kräfte der Kontestation bloß am Rande der Gesellschaft bewegen, bekommen sie diese Gesellschaft nicht in den Griff, können sie daher nicht transformieren; sie verschließen sich im eigenen Getto und sind nur mit sich selbst beschäftigt.

Der Guerilla lebt nicht in und von der Gesellschaft, die er zerstören will; er kann sich daher mit einer rudimentären Organisation begnügen. Die Kontestation lebt in und von der Produktionsgesellschaft, das heißt sie lebt provisorisch innerhalb des etablierten Systems. Sie kann mit diesem System nicht ohne weiteres brechen, denn im selben Augenblik würde sie die Chance verlieren, die Produktionsmittel dieser Gesellschaft allmählich unter ihre Kontrolle und schließlich in ihre Hand zu bekommen.

Die Kontestation nährt sich aus der Empörung, die in ihren Anhängern durch die ständige Begegnung mit dem bekämpften System hervorgerufen wird. Diese Empörung stimuliert die Phantasie, treibt zur Aktion. Ohne diese empörende Begegnung läuft die Kontestation Gefahr, dem ideologischen und politischen Narzißmus zu verfallen und auf der Stelle zu treten. Das beste Beispiel hiefür sind jene kommunistischen Parteien, welche, nach den Worten von Fidel Castro auf dem Kulturkongreß in Havanna 1968, [1] nichts weiter mehr sind als „Parteikirchen, sklerotisch gewordene Gruppen mit dogmatischer Sprache und hierarchischem Gehaben“.

Koordinierung bedeutet nicht Uniformierung. Die Kontestation muß eine Organisationsform finden, die sowohl Bürokratisierung wie Atomisierung vermeidet. Im einen wie andern Fall würde sie steril werden oder vom bürgerlichen oder auch stalinistischen Machtapparat eingefangen werden.

Die Kräfte der Kontestation bedürfen einer organisatorischen Spitze; deren koordinierende Tätigkeit darf nicht zentralistisch sein, sondern muß sich auf die Arbeit an einer gemeinsamen revolutionären Sprache und Intention beschränken.

Ökonomische Revolution

Wenn die Kräfte der Kontestation sich in den Strukturen der wirtschaftlichen Mitbestimmung engagieren, heißt dies nicht, daß sie dem Reformismus verfallen? Dies wäre der Fall, wenn sie sich vom bestehenden System auf diese Weise wieder einfangen lassen. Sie müssen genügend Angriffsgeist entwickeln, um auch innerhalb des Systems gegen das System kämpfen zu können. Es geht um die allmähliche Besetzung der Entscheidungszentren, um den Weg von der Mitwirkung (cogestion) zur Selbstverwaltung (autogestion) in den materiellen wie geistigen Produktionsstätten (Industriebetriebe und Hochschulen).

Die allmähliche Entwicklung der Kräfte der Kontestation schließt nicht aus, daß in „starken Zeiten“ auch stärkere Mittel angewandt werden, um durch radikale Pression die etablierte Ordnung zurückzudrängen zugunsten der Revolution. Auch dann geht es ohne physische Gewalt, außer im Fall des bewaffneten Widerstandes der Reaktion; die defensive Gegengewalt der Revolution wird sich meist in lokalem Rahmen halten lassen.

Dies vor allem deshalb, weil die Kräfte der Kontestation ihre Wirksamkeit eben nicht auf das polit-ökonomische Feld beschränken, sondern insbesondere auf das kulturelle Feld ausgreifen: durch die Mitwirkung, späterhin, Selbstverwaltung der Produzenten an Mittel- und Hochschulen wird der von dorther verbreitete Inhalt der Kultur und damit auch das polit-ökonomische Bewußtsein verändert werden, mit entsprechenden Folgen zuungunsten der etablierten Ordnung und zugunsten der Revolution.

In den Maitagen 1968 wurden die Studenten von vielen sympathisierenden Bürgern gefragt, durch welche Gesellschaft sie die gegenwärtige Konsumgesellschaft ersetzen wollen. Die Kräfte der Kontestation verwerfen nicht die Konsumgüter, sondern die von dieser Gesellschaft aufgezwungene Entfremdung im Gebrauch dieser Güter. An Stelle der Notwendigkeit, die den Bürgern der Konsumgesellschaft durch die Propagandatechnik suggeriert wird, wollen wir die Freiheit der Verfügung über diese Güter.

Die Notwendigkeit zu konsumieren ist die Dominante des gegenwärtigen Gesellschaftsmodells. In dem Maße, in dem die Praxis der Kontestation wirksam wird, in demselben Maße werden sich, durch die befreiende Kraft einer neuen Sprache und Aktion, Wandlungen vollziehen im Bewußtsein, im Geschmack und in der Art, die Menschen und die Welt zu sehen.

Die Notwendigkeit zu konsumieren entspringt der Produktionsweise des Kapitalismus; die Kontestation muß daher dieses System attackieren: die ökonomische und die kulturelle Revolution sind zwei Aspekte ein und derselben dialektischen Bewegung.

Politische Revolution

Ein dritter Aspekt dieser dialektischen Bewegung ist die politische Revolution: Die Vertreter der bürgerlichen Legalität und des Reformismus bekennen sich zur Demokratie durch Stellvertretung; der Volksvertreter „verteidigt“ die Interessen der Wähler; durch „Mitbestimmung“ der Arbeitnehmer kommt es zu einem Dialog mit dem Unternehmer, welcher aber weiterhin die alleinige Entscheidungsbefugnis hat. Die Kräfte der Kontestation wollen an Stelle dessen die direkte Demokratie.

Demokratie durch Stellvertreter bedeutet die Demission des Bürgers zugunsten von politischen oder gewerkschaftlichen Notabeln, welche, sobald sie gewählt sind, in der Regel nicht mehr abgesetzt werden können. Im Interesse ihrer Unentbehrlichkeit als Stellvertreter der Wähler sind die politischen und gewerkschaftlichen Mandarine begreiflicherweise eher darauf aus, ihren Wählern materielle Besserstellung zu verschaffen als etwa direkte Mitwirkungsbefugnisse.

Demgegenüber ist die direkte Demokratie die einzige Form der effektiven und permanenten Mitbestimmung der Bürger, einschließlich der Möglichkeit, Stellvertreter zurückzuberufen, wenn sie dem Willen der Wähler zuwiderhandeln.

Die Kräfte der Kontestation denunzieren das „allgemeine Wahlrecht“ als unzureichend. Die Strategie der Kontestation ist nicht darauf aus, das gegenwärtige demokratische System mit einem brutalen Schlag zu beseitigen. Vielmehr müssen parallel zu diesem System Strukturen der direkten Demokratie aufgebaut werden, an denen eine immer größere Zahl von Bürgern teilnimmt, so daß die gegenwärtige Demokratie durch Stellvertreter als das enthüllt wird, was sie ist: ein unwirksames, anachronistisches, zum Untergang bestimmtes System.

Die Zentralgewalt des gegenwärtigen Systems wird von den Kräften der Kontestation nur insoweit anerkannt werden, als dies nützlich und notwendig ist, um Strukturen der direkten Demokratie zu errichten und weiterzuentwickeln.

Dabei muß verhindert werden, daß diese Strukturen der direkten Demokratie in den Dienst des bestehenden Systems eingespannt werden; man muß sorgfältig darauf achten, daß diese direkt-demokratischen Strukturen ihre Aggressivität gegenüber dem System behalten, in dessen Schoß sie eingepflanzt wurden. Sie dürfen nur in jenem Maß zur Kooperation mit dem bestehenden System bereit sein, in dem dies nötig ist, um ihre autonome Entwicklung voranzutreiben.

Je stärker die Strukturen der direkten Demokratie werden, desto schwächer wird das etablierte System der Demokratie durch Stellvertretung. Zuletzt wird der Rekurs dieses System auf seine bewaffnete Macht nichts als vergebliche Hoffnung sein; sobald die in der materiellen und geistigen Produktion Tätigen die Zusammenarbeit mit dem bestehenden System verweigern, wird sich herausstellen, daß Polizisten und Soldaten die Produktion nicht selber organisieren können.

Die dezentralisierte Ausübung der direkten Demokratie mitten im materiellen und geistigen Produktionsprozeß wird die Wirksamkeit einer zentralistischen Bürokratie zunehmend behindern und schließlich unmöglich machen.

Die politische Revolution, heraufgeführt von der ökonomischen und kulturellen Revolution, wird die Aufrichtung der Macht einer neuen Gesellschaft bedeuten. Es wird dies eine demokratischere Macht sein als die gegenwärtige Demokratie; sie beruht auf freiere und direktere Übung von Demokratie. Es wird dies eine menschlichere, kulturell höherwertige Macht sein als die gegenwärtige Demokratie; sie beruht auf einem Bewußtsein, das bereit ist, sich ständig selbst in Frage zu stellen und sich ständig bereichern zu lassen durch die eigene schöpferische Phantasie. Dann wird in vervollkommneter Form jene neue Gesellschaft wieder ans Licht treten, welche sich erstmals ankündigte in den Maitagen 1968. In jenen Maitagen erschien bereits der neue Mensch, schwach und lallend wie ein kleines Kind, aber höchst lebendig — man muß verhindern, daß er getötet wird.

Die Strategie der Kontestation ist eine autonom europäische Strategie. Sie kann für Europa das werden, was für Lateinamerika der Guerilla wurde, oder für China der „lange Marsch“. Die Revolution kann nach Europa nicht als Importware kommen. Die Krankheit unserer „westlichen Gesellschaft“ ist nicht die des zaristischen Rußlands noch die des chinesischen Subkontinents zur Zeit der Kuomintang noch auch die der Insel Kuba zu Zeiten des Batista. Für unsere eigene Krankheit müssen wir unser eigenes Heilmittel finden. Eine ausgeborgte Strategie liefert vielleicht vorübergehende romantische Befriedigung, aber sie führt gewiß nicht zur Revolution.

Romantik ist nur insoweit revolutionär, als sie die eigene Phantasie ins Spiel bringt und nicht die Imitation, welche immer falschen Klang hat. Die eigene schöpferische Phantasie ist Quell und Garantie einer authentischen Revolution.

Nur so kann die europäische Revolution ihren Beitrag zum universellen Humanismus leisten — auf gleiche Weise wie die Revolutionen von gestern und die Revolutionen in anderen Teilen der Welt von heute.

[1Neues FORVM, März/April 1968, S. 169

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