FORVM, No. 98
Februar
1962

Was heißt neutral ?

Ich glaube, daß ich die Pflicht habe, im Interesse eines wohlbegründeten Informationsbedürfnisses der Öffentlichkeit einiges zu den Auffassungen zu sagen, die bezüglich der Teilnahme der neutralen Staaten an der wirtschaftlichen Integration Europas geäußert wurden.

Gemeinsam für die Auffassungen ist die These, daß die EWG auf die besonderen Bedürfnisse der neutralen Staaten Europas keine Rücksicht nehmen könne, d.h. daß daher für die neutralen Staaten nur die Mitgliedschaft bei der EWG mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen in Betracht käme. Dabei will ich nicht ausschließen, daß eine gewisse Bereitschaft besteht, Österreich und möglicherweise Finnland eine gewisse Ausnahmestellung zu konzedieren.

Wenn US-Unterstaatssekretär Ball dafür eintritt, daß es zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zu einer engeren Kooperation kommen soll, so beweist er mit diesem Konzept, wie positiv seine Einschätzung der Zukunft der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist. Es handelt sich dabei um einen Teil eines Konzeptes, das auch viele von uns vertreten, nämlich, daß die freie Welt — wie ich es mir einmal erlaubt habe auszuführen — ihr Korrelat in einem freien Weltmarkt finden müsse. Es scheint mir durchaus einleuchtend, daß ein erster Schritt auf diesem Wege das Zugeständnis gegenseitiger Zollkonzessionen zwischen USA und EWG, die dann allmählich auf alle GATT-Staaten ausgedehnt werden sollen, sein kann.

Daß eine solche Lösung auch für alle europäischen Neutralen ausreichend ist, will ich, jedenfalls was Österreich betrifft, in Frage stellen. Gewiß, das mag für den Anfang, für präliminare Vereinbarungen, interessant sein. Aber die gegenseitige Verflechtung der europäischen Staaten, der neutralen und nicht neutralen, ist ja eine so vielfältige, und die europäische wirtschaftliche Integration hat neben den zollpolitischen noch so zahlreiche andere Aspekte, daß ich glaube, daß die Limitierung auf das bloß Zollpolitische doch dieser großen Idee nicht ganz entspricht.

Die vier neutralen Staaten (Finnland, Schweden, Schweiz, Österreich) haben zusammen ungefähr 22½ Millionen Einwohner. Diese vier sehr entwickelten Industriestaaten haben von Jänner bis September 1961 für 3,1 Milliarden Dollar Waren aus den EWG-Ländern gekauft. Es werden für das ganze Jahr 1961 vermutlich 4 Milliarden sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika hingegen haben aus den EWG-Ländern im gleichen Zeitraum lediglich für 1,6 Milliarden Dollar Waren gekauft; es werden möglicherweise für das ganze Jahr 1961 etwas mehr als 2 Milliarden werden. Das heißt, daß Amerika nur halb so viel von den EWG-Staaten kauft wie die vier Neutralen. Während die EWG-Staaten mit Amerika von Jänner bis September 1961 ein Handelsbilanz-Passivum von 1,4 Milliarden gehabt haben, haben sie mit den neutralen europäischen Staaten ein Aktivum von über 1 Milliarde Dollar aufgewiesen. Man kann somit — etwas vereinfacht — die Feststellung machen, daß die EWG-Staaten mit dem Ertrag aus dem Handel mit den vier neutralen Staaten ihr Defizit im Handel mit den Vereinigten Staaten bezahlen. Das zeigt uns sehr deutlich, daß die handelspolitische Problematik der europäischen Neutralen und der Vereinigten Staaten im Hinblick auf die EWG sehr verschiedenartig ist und daß daher auch die Lösungen, jedenfalls für einige dieser Neutralen, andersartig sein müssen.

Was aber die allgemeinen Aspekte der Europäischen Integration betrifft, so möchte ich gerne das wiederholen, was ich schon einmal in einem Vortrag gesagt habe:

Infolge dieser von anderen neutralen oder allianzfreien Staaten so verschiedenen Haltung, infolge ihres Zugehörigkeitsbewußtseins zum westlichen Kultur- und Gesellschaftskreis haben die neutralen Staaten Europas das Recht zu verlangen, daß bei der Verwirklichung eines europäischen Konzepts auf sie gebührend Rücksicht genommen wird. Das um so mehr, als niemand leugnen kann, daß gerade die neutralen Staaten Europas, wie die Schweiz, Schweden und Österreich, nicht nur bedeutende Beiträge zur materiellen Kultur Europas, sondern auch zu seiner geistigen geleistet haben. Es wäre sehr bedenklich um die europäischen Einigungsbestrebungen bestellt, wenn man sich dabei so haltloser Begriffe wie Kerneuropa und Peripheres Europa bedienen würde. Diejenigen, die sich dieser Argumente bedienen, spalten Europa und provozieren gleichzeitig die Feststellung, daß manche der Staaten, die zu Kerneuropa gehören, heute noch das Schwergewicht ihrer Interessen und ihrer Aktivität in andere Kontinente verlegt haben oder daß ihre Hauptsorge der Liquidation dieser Interessen dient.

Ganz allgemein aber möchte ich sagen, daß es gut sein wird, Äußerungen, die in dieser jahrelangen Integrationsdebatte von wem immer gemacht werden, nicht gleich auf die Goldwaage zu legen oder jedenfalls nicht als endgültige Wahrheiten, an denen nicht zu rütteln ist, zu betrachten. Masaryk hat, so glaube ich, einmal gesagt, daß Demokratie Diskussion bedeute. Das gilt auch für die internationale Politik demokratischer Staaten. Es werden Ansichten geäußert, miteinander konfrontiert, es wird diskutiert und konferiert, man trachtet einander zu überzeugen und schließlich hat sich noch immer gezeigt, daß dann, wenn man nur bereit ist, seine Politik einem höheren Ziel unterzuordnen, sich auch ein Weg der Verständigung finden läßt.

So bin ich auch jetzt überzeugt, daß bei einer ruhigen, undoktrinären Diskussion der verschiedenen Standpunkte in der Frage der Zusammenarbeit der neutralen Staaten Europas mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sich vernünftige, alle Teile befriedigende Lösungen werden finden lassen. Es wäre traurig, wenn es nicht so wäre, denn die Welt, in der wir leben, ist so voll von großen Gegensätzen, daß wir uns nicht durch Schaffung neuer, oft etwas artifiziell anmutender zusätzlicher Schwierigkeiten vor allem innerhalb der demokratischen Welt neue Sorgen machen sollten.

Zuletzt möchte ich eine Äußerung wiederholen, die ich in einem Interview der „New York Times“ gemacht habe und die durch eine nicht ganz korrekte Wiedergabe gelegentlich mißverstanden wurde: So eindeutig die völkerrechtlichen Gründsätze der Neutralitätspolitik vor allem in ihren militärischen Konsequenzen sind und so sehr es die Praxis der Neutralitätspolitik sein soll, sich auch in Friedenszeiten aus den Konflikten der großen Mächte herauszuhalten, so ist es doch klar, daß in Zeiten großer Spannung die Politik eines neutralen Staates mit dem Mißtrauen der Antagonisten rechnen muß, während in Zeiten, in denen es diese Spannungen nicht gibt, dem neutralen Staat eine größere Freizügigkeit gegeben ist. Ich habe mir einmal erlaubt, die Maxime unserer Außenpolitik so zu formulieren: Österreich muß trachten, bei den Freunden ein Maximum an Vertrauen, bei den anderen — denn wirkliche Feinde hat ja der neutrale Staat nicht — ein Minimum an Mißtrauen zu erwecken. Das bedeutet, auf die europäische Integrationspolitik angewendet, daß wir in Zeiten großer Spannung vorsichtig und unter Bedachtnahme auf die Gegebenheiten unsere Politik gestalten müssen, während in Zeiten der Entspannung — die hoffentlich auch kommen werden — ein weiter ausgreifendes Konzept reale Chancen auf Verwirklichung bietet.

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