MOZ, Nummer 50
März
1990

Vorkriegszeit?

„Noch 18 Tage bis zur Freiheitswahl.“ „Noch 17 Tage bis zur Freiheitswahl.“ Seit Wochen erscheint Deutschlands meist durchgeblättertes Medium, die „Bild“-Zeitung, mit auf den Tag X hinnumerierter Kopfzeile. Der Tag X, erster und letzter Wahltermin der DDR, ist gleichzeitig die Stunde Null. Ab dann herrscht, so verkünden es sämtliche Gazetten von „FAZ“ bis „taz“ unisono, Politiker aller Couleurs zitierend, Freiheit — und das, fast, in den Grenzen von 1937. Die Stimmung im Altreich ist dementsprechend.

Kritiker des Projektes Großdeutschland sind rar, ihre Stimmen verhallen ungehört. „So ähnlich muß wohl die Begeisterung im Jahre 1914 gewesen sein, auf deren Höhepunkt die allgemeine Zustimmung zu den Kriegskrediten bejubelt wurde“, meint ein Kollege aus Hamburg, der der Vereinigungseuphorie hilflos gegenübersteht.

Sicherlich ist da ein Unterschied zwischen Kriegskrediten und jenen zur Etablierung einer deutsch-deutschen Währungsunion, der vorweggenommene Siegestaumel indes gleicht dem der ersten Vorkriegszeit.

Sieg! Freiheit! Endlich Friede in Europa! So liest und hört sich das inhaltliche Gerüst sämtlicher Nachrichtensendungen und Schlagzeilen seit Herbst 1989. Auch in Österreich Begeisterung, wohin man blickt. Jede ORF-Meldung, jeder Zeitungsbericht vermittelt ein und dieselbe Botschaft: Sieg! Freiheit! Endlich Friede in Europa!

Nur die Wirklichkeit sieht anders aus. Außer ein paar Spekulanten keine Sieger. Die Freiheit hat ihre Beschränkungen gewechselt. Und vom Frieden keine Spur. Im Gegenteil. Soviel Krieg und Elend hat es in Europa seit 40 Jahren nicht mehr gegeben.

Der Kosovo steht knapp vor Ausbruch des offenen Bürgerkrieges. In der ersten Februarwoche wurden 22 Albaner/innen bei Demonstrationen erschossen. In Titograd und Belgrad fordern zig-tausende fanatisierte Serben die Herausgabe von Waffen. „Einmarsch in den Kosovo!“ heißt ihre Losung. „Macht Schluß mit den separatistischen Albanern!“

Slowenien will aus der jugoslawischen Föderation austreten. Rest-Jugoslawien wird von den Ex-Kommunisten als Klotz am Bein slowenischer Wirtschaftsmacht angesehen. Der Zerfall des südslawischen Staates scheint unaufhaltsam. Daß er friedlich vor sich gehen könnte, ist angesichts der politischen Macht des serbischen Nationalistenführers Milosevic unwahrscheinlich. Ende 1989 konnten blutige Zusammenstöße nur mittels Ausnahmezustand und verstärkter militärischer Präsenz vermieden werden.

In Moskau herrscht Pogrom-Stimmung. Die ultra-nationalistische Pamjat-Bewegung verteilt antisemitische Flugblätter. Schon tauchen Listen auf, auf denen — ähnlich wie im aserbeidschanischen Baku kurz vor den antiarmenischen Ausschreitungen — jüdische Wohnadressen angegeben sind. „Heute mußt du Angst haben, wenn du abends auf die Straße gehst“, meint eine Journalistenkollegin aus der russischen Hauptstadt. Ende Jänner wurde der Moskauer Schriftsteller-Klub von einem 20köpfigen anti-jüdischen Stoßtrupp gestürmt und verwüstet.

Antirussische Gesetze im Baltikum machen aus der knappen Million russischer Arbeiter Menschen 2. Klasse. Wer nicht estnisch bzw. lettisch spricht, wird sich in Ämtern schwer tun. Auch fliegen Russ/inn/en schon mal aus Straßenbahnen und Geschäften. Derweil beschränken sich nationalistische Auseinandersetzungen in Estland und Lettland, mit immerhin 40% russischer und ukrainischer Bevölkerung, auf Schlägereien. Doch ein kleiner Funke kann das baltische Pulverfaß zum Explodieren bringen.

Die Lage in Rumänien hat sich — vorläufig — beruhigt. Das weihnachtliche Blutbad lief wie ein Kinofilm über unsere Fernsehschirme. Unlösbar scheint die ökonomische Aufgabe in einem Land, dessen überdimensionale Schwerindustrie völlig defizitär arbeitet. Millionen von marktwirtschaftlich untragbaren Industriearbeitern müssen in kürzester Zeit zurück in ihre Dörfer. Die politische Partei, die diese Aufgabe friedlich schafft, wird noch gesucht.

Polen und Ungarn transformieren sich friedlich. Allerdings auf Kosten der Rentner/innen. Sie und die Arbeiter/innen aus Staatsbetrieben zahlen den Preis der wirtschaftlichen Umgestaltung.

Im polnischen Osten geht die Angst um. Die Öffnung der sowjetischen Grenze würde zig-tausende Weißrussen und Ukrainer nach Westen fliehen lassen. Ein Menschenstrom, der in der gegenwärtigen krisenhaften Situation eine Katastrophe auslösen könnte.

Die deutsch-deutsche Völkerwanderung lehrt BRD-Kanzler Kohl und Kanzlerkandidat Lafontaine gleichermalsen das Fürchten. 50.000 Ostler haben sich allein im Jänner dieses Jahres ‚rübergemacht‘. Kaum ein Laden, der noch funktioniert im deutschen Osten. In den Spitälern arbeiten Soldaten der Nationalen Volksarmee anstelle des Fachpersonals. Der öffentliche Verkehr in Leipzig und Dresden bricht täglich mehrmals zusammen. Anschluß hin oder her, das, was heute noch DDR heißt, bleibt ausgeblutete, menschenarme Peripherie — so oder so. Bester Nährboden für nationalistische Urtöne, die sich bald zur Bewegung — wie gehabt — auswachsen könnten.

300.000 aus Bulgarien vertriebene Türken zeugen auch nicht gerade von einem friedlichen gesellschaftspolitischen Klima. Nach dem Sturz Todor Schivkovs ist die bulgarisch-nationalistische Bewegung zu einem Massenphänomen geworden. Die Türken im Land wissen nicht, wohin sie sollen.

Sieg! Freiheit! Endlich Friede in Europa!

Verglichen mit der Wirklichkeit wirken diese Slogans wie Hohn. Oder wie ein krampfhaft-propagandistischer Versuch bundesdeutscher Wirtschaftsmacht, einer self-fulfilling prophecy zum Durchbruch zu verhelfen. Daß die rosige Sicht der östlichen Umwälzungen eine typisch europäische, eigentlich deutschsprachige ist, macht ein Blick in die Kommentarspalten englischer und US-amerikanischer Zeitungen deutlich. Dort überwiegt die Skepsis.

Im Jänner 1990 publizierte das Journal der amerikanischen Akademie der Wissenschaften „Daedalus“ einen mit „Z" unterzeichneten Beitrag, der Gorbatschows Perestroika keine Chancen auf Verwirklichung einräumt und der USamerikanischen Regierung Zurückhaltung empfiehlt, was die Unterstützung der sowjetischen Umgestaltung anlangt. Nun ist dies nur ein Beitrag unter vielen, der vor Perestroika-Euphorie warnt, und wäre nicht weiter erwähnenswert, wenn, ja wenn die Autorschaft unter dem Pseudonym „Z“ nicht Anlaß zu Spekulationen gäbe. Hinter „Z“ verberge sich in Wahrheit ein hochrangiger amerikanischer Offizieller, vermuten bekannte Kommentatoren im englischen Sprachraum. Der 50seitige Artikel im angesehenen „Daedalus“ entwickle die Linie der zukünftigen US-Außenpolitik, seine Analyse: Die Perestroika wird scheitern, aus dem wirtschaftlichen Chaos in der Sowjetunion ließen sich allemal einzelne Zonen herausschälen, die marktwirtschaftlich nutzbar sind. Erst nach dem vermeintlich unaufhaltsamen Zerfall der Sowjetunion wäre dann US-amerikanische Hilfe für das Baltikum, Weißrußland, Moldawien oder Armenien angebracht.

Was der Spekulation über das Pseudonym „Z" Nahrung gibt, ist die Tatsache, daß 1947 unter dem Kürzel „X“ ein ähnlich wegweisender Beitrag erschienen ist, der die Grundzüge der US-Außenpolitik, das „Trumansche Containment“ gegen die Sowjetunion, festgelegt hat. Der damalige Verfasser, George Kennan, war jahrzehntelang engster Präsidentenberater und gilt als der Kopf amerikanischer Außenpolitik.

Nun hat sich zwar die politische Großwetterlage seit 1947 beträchtlich verändert und die USA spielen längst nicht mehr auf allen Konzerten die erste Geige, Skepsis gegenüber den Verwirklichungsmöglichkeiten der Perestroika ist dennoch angebracht.

Wie, wenn sie tatsächlich scheiterte? Wenn die Geschäfte immer leerer werden und leere Mägen nationalistische Revolten betrieben — und dann, als quasi letzte Instanz, Armee und Geheimdienst zu retten versuchten, was vielleicht ohnedies nicht mehr zu retten ist: die Integrität des sowjetischen Staatsgebildes. Ein in Moskauer Journalistenkreisen sich rasant verbreitendes Gerücht will wissen, daß der ganze aserbeidschanisch-armenische Konflikt vom sowjetischen Geheimdienst KGB geschürt wurde, um eine Generalprobe für die Rote Armee inszenieren zu können.

Militärdiktatur statt Perestroika. Und es wäre nicht undenkbar, daß der dann unumschränkt herrschende Staatspräsident Gorbatschow sein eigener Nachfolger würde. Die Imagewerte dafür hat er ebenso wie seine Verankerung im KGB, von wo er schließlich seine Karriere gestartet hat.

In einem solchen Szenario wären Hilferufe aus dem Baltikum, der Ukraine und Armenien selbstverständlich. Hilferufe unterdrückter Volksbewegungen an der Schwelle zu Demokratie und Freiheit, zurück ins „sowjetische Völkergefängnis“ gezwungen. Und dann könnten sich die inzwischen befreiten Brüder und Schwestern aus dem ehemaligen Warschauer Pakt — die Tschechen, Ungarn, Polen, Rumänen und Ostdeutschen — verpflichtet fühlen, diese Hilferufe aus Riga, Tallinn, Kiew und Jerewan ernst zu nehmen.

Wie, wenn sich diese dann an die Befreiung der Wiedereingesperrten machten? Wenn bereits — hypothetisch, aber nicht undenkbar — Ostdeutschland Teil der NATO ist und sich die gesamtdeutsche Führung mitverpflichtet fühlt, den Lauf der Geschichte zu beschleunigen, dann, ja dann könnte es wieder losgehen. Und wiederum würde ein Krieg von deutschem Boden aus begonnen, kein aggressiver, versteht sich, sondern ein Befreiungskrieg. Anders als 1939, aber Krieg.

P.S. Andrea Komlosy, ständige MONATSZEITUNG-Mitarbeiterin, kann ihre Kolumne für einige Monate nicht betreuen, da sie intensiv mit der Aufbau eines Textilindustriemuseums beschäftigt ist. „Die andere Geschichte“ bleibt dennoch Bestandteil der MONATSZEITUNG.

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