MOZ, Nummer 54
Juli
1990
Reise:

Strangers in Paradise

Nomaden als Urahnen, Urlauber als moderne Nomaden — die Menschheit muß anscheinend dauernd auf Achse sein, um jeden Preis. Die fremde und die eigene Kultur: wie einst die Konquistadoren in ihrem Machtrausch und religiösen Totalitarismus vollenden wir heute als Touristen eine Art von Zerstörungswerk. Fragmente über Eroberer, Entdecker, Zivilisationsflüchtlinge, Ethnologen und andere Reisende.

Gauguins „Die Aufforderung“ — vom Reiz der Eingeborenen und der Landschaft

Ich und das andere Ich

Auf metaphorischer Ebene betrachtet, reisen wir ständig, werden ständig bereist, kommen nie zum Stillstand außer nach dem Tode, und noch jenseits bewegt sich unsere Materie im Zerfallsprozeß. Sogar im Schlaf sind wir in Umlauf, wir träumen, das Blut zirkuliert, die Nahrung reist durch unsere Verdauungsorgane. Wir reisen von der Geburt zum Tod, auf dieser für jeden recht unterschiedlichen Strecke erobern wir, werden vereinnahmt, versuchen zu verstehen (oder auch nicht), das Leben eine Kitschpostkartenexotik oder eine nüchterne Strapaze.

Weg vom philosophischen Raum in die geographisch faßbare Räumlichkeit, ihre Domestizierung und die Strategien dieser Vorgangsweise.

Man könnte reisen wie einst Goethe oder Chamisso, Darwin romantisierend und veredelnd, man träumt auch von Zeitreisen als Flucht aus der Realität, als mögliche Korrektur der eigenen und der gesamten Geschichte. Man kann in sich reisen, auf Trip gehen, meditieren. Wir zirkulieren täglich in unseren Städten, auf den Flughäfen treffen wir eine neue Spezies von Menschen: die Zeitnomaden. Könnte man, Howard Hughes in Erinnerung, die benötigte Zeit für eine Weltumrundung derartig verkürzen, daß wir im gleichen objektiv meßbaren Zeitpunkt bereits wieder ankommen, in dem wir abgeflogen sind, also eine Nullrunde drehen — dann würden wir nicht von der Geschwindigkeit zerrissen, sondern würden in dieser Überbewegung wahrscheinlich erstarren. Unser ‚Ich‘ würde aber immer auf die gleiche Problematik stoßen: Der eigene subjektive Blickwinkel trennt mein Ich vom nächsten, ‚ich‘ bin ein anderer. Ich kann mich in den anderen entdecken und umgekehrt, ich kann der ‚Exot‘ innerhalb der eigenen Gesellschaft sein, der Verrückte unter Normalen, die Frau unter Männern, der Arme unter Reichen und wiederum vice versa. Eine großangelegte Untersuchung mit unterschiedlichsten Methoden, die nie zu Ende gebracht werden kann.

Der Eroberer

Gott hat schließlich auch einmal ganz klein angefangen, brachte es aber zu einer erstaunlichen Anzahl von Fanclubs, die ihm größere Ländereien bescherten. Schärfste Konkurrenten und notgedrungen Mitverbündete waren meist Kaiser und ähnliche aristokratische Größenwahnsinnige. Versagte dieses Gespann, dann machten Kaufleute mittels Geld und Mitteln Dampf für Expeditionen, motivierten so unruhige, entdeckungswütige Forscher- und Abenteuergeister. Trotz permanenter wissenschaftlicher Fehlinterpretationen (die Erde ist flach wie ein Omelette, Indien liegt in Amerika, Atlantis existiert ...) erweiterte sich der geographische Horizont ins beinahe Unermeßliche, der geistige blieb aber meist eng wie das Tal, aus dem er gekommen war.

Die berühmteste Blutoper bei der Entdeckung des ‚anderen‘ durch ein ‚Ich‘ vollzog sich infolge des Irrtums von Columbus, der, den Erzählungen Marco Polos die falsche Richtung gebend, Amerika ansteuerte. Ich spreche von der Eroberung Mittelamerikas durch Cortez. Liest man seine Bordbücher genau nach, so wird man überzeugt, daß er nicht aus primitiver Habgier zu seiner Reise getrieben wurde, vielmehr wußte Cortez, wie gut sich Gold als Köder für die nötigen Mitarbeiter bzw. Auftraggeber aus dem Königshause eignete. Er selbst wollte Unerhörtes vollbringen, wie Odysseus etwa, und war von einem für uns krankhaft anmutenden Christianisierungsdrang beseelt. Eine historische Pause lag zwischen den Kreuzzügen und seinen Unternehmen; die Indianer Mittelamerikas waren zufällig von ihren gesellschaftlichen und religiösen Strukturen her ein leicht zu bewältigender Gegner — trotz ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit. Vor dem Auftauchen der Spanier vergewaltigten und töteten Montezumas Leute genauso wie die weißen Eindringlinge, Cortez nutzte als erster die inneren Spannungen unter den Einheimischen. Waffenmäßig und von der Beweglichkeit waren die Konquistadoren den Indianern ebenfalls um einiges voraus, dazu kamen prophetische Interpretationen seitens der indianischen Priesterschaft: Den Spaniern wird die Aura des ‚anderen‘ verliehen, ihre donnernden und feuerspeienden Waffen, das fremde Äußere, aber auch das Im-Besitz-Sein einer Schrift sprechen dafür. Der Glaube der Indianer an die Göttlichkeit der Konquistadoren, das Unvermögen, mit ihnen auf gewohnte Weise zu kommunizieren, bringen einen raschen Sieg für die Europäer. Auch Cortez bezeichnet die Eingeborenen als ‚anders‘ — mit dem krassen Unterschied, daß die Indianer wertmäßig sogar noch hinter den Tieren rangierten. Trotz vehementen Einsatzes von Padres wie Las Casas (der schon an einen Vorläufer des „Edlen Wilden“ glaubte) für die Indianer, empfand der Rest der Spanier nichts dabei, die eher freundlich gesinnten Bewohner abzuschlachten, ihnen oft Gliedmaßen, Zunge, Geschlechtsteile, Brüste abzuschneiden, sie zu versklaven, sie ohne Essen zu Tode schuften lassen. Auf Grund ihrer angeblich kannibalischen Rituale von den Konquistadoren nicht einmal mit dem Wert eines Dinges bedacht, werden allein in Mexico binnen 10 Jahren die Indianer auf Grund direkter Tötung (Krieg, geringe Opferanzahl) unmenschlicher Behandlung (siehe oben/deutlich höhere Quote) und eingeschleppter Krankheiten (größter Anteil) von 25 Millionen auf 1 Million reduziert. Im gesamten westindischen Raum dezimiert dieser ungewöhnliche Holocaust die BewohnerInnen von 400 Millionen auf 80 Millionen, man schreibt das Jahr 1600. Nichtverstehen, Nehmen, Zerstören, Ungleichheit, Sklaverei, Kolonialismus.

Der Ethnologe

Der Maler Gauguin gilt als Ikone des an der (heute würde wir sagen Touristik-/Reklame-) Exotik gescheiterten Flüchtlings vor sich selbst auf der Suche nach dem „Edlen Wilden“. Statt Idylle fand er auf den Marquesas-Inseln nur französische Polizei- und Verwaltungsapparate vor, die Eingeborenen bereits entwurzelt und abgestumpft. Seine Wünsche, wie die Südsee zu sein hätte, dokumentieren die in satten Naturfarben gehaltenen Gemälde. Wie die Exotik tatsächlich ist, das zeigen die noch immer gültigen Aufzeichnungen des surrealistischen Linksdenkers Leiris in bestechender Präzision.

Aufschlußreicher als Levi-Strauss’ berühmtes Werk „Traurige Tropen“ scheinen die Tagebucheintragungen von Michel Leiris (etwa „Phantom Afrique“/1931-33) in ihrer ehrlichen Widersprüchlichkeit. Seine ethnographisch-linguistischen Notizen zeugen von der Dubiosität wissenschaftlicher Methoden, die eigene mit der fremden Kultur in ein akzeptables Arrangement zu bringen. Der Ethnologe, der eigentliche Go-Between, Vermittler, sollte nicht nur seinem Volk Zeugnisse und Berichte über fremde Völker nahebringen, sondern der ‚Rasse‘, die als Studiengegenstand auserwählt wurde, die eigene Identität lassen bzw. helfen, trotz Kolonialismus und Rassismus ihre eigene Identität zu bewahren. Ein schwieriges Unterfangen, laut Leiris eigentlich zum Scheitern verurteilt, da zu viele unterschiedliche Interessen von außen auf die (Natur)Völker einwirken. Einige Zitate von seiner Expedition Dakar-Djibouti, die einen kleinen Überblick über die relativ trostlose Situation der Völkerkundler wiedergeben:

Unsere Wissenschaft würde möglicherweise wieder Boden gewinnen, wenn afrikanische oder melanesische Ethnologen ... zu uns kämen und hier dasselbe täten wie wir früher bei ihnen.

ad Kolonialismuspolitik:

... daß die eigentlichen Leitbilder hier, die des Abenteurers und des Piraten sind, des Kolonialwarenhändlers im Großformat und des Kaperkapitäns, des Goldsuchers, der Begehrlichkeit und der Gewalt, und dahinter: der unheilverkündende Schlagschatten einer Zivilisationsform, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Geschichte von innen heraus gezwungen sieht, die Konkurrenz ihres antagonistischen Wirtschaftssystems im Weltmaßstab auszudehnen.

Weltweite Kontaktaufnahmen, philantropisch maskiert wie die Christianisierung, als Ursache der Verrohung von Kolonisatoren und Kolonisierten.

Da die Raubritterpraktiken der Weissen, um an ethnologische Objekte ranzukommen, bereits bei den Eingeborenen Schule machen, ist Leiris drauf und dran, „alles kurz und klein zu schlagen.“

Wenige Seiten vorher glaubte er: „Das Eis sei jetzt wirklich gebrochen ... Jetzt endlich liebe ich Afrika“, schon nennt er seine Kollegen „Dämone und Schweinehunde“ und stellt verbittert fest: „In unserer Nachfolge beschreiten nach und nach alle diesen Weg der frommen Lüge und des Arrangements mit dem Himmel ...“.

Fazit: Reisen, Länder und Völker kennenlernen, erforschen kann An-Trieb sein, keinesfalls Möglichkeit, sich selbst zu entfliehen. Da das Reisen nur augenblicklich verändert, „bleibt man die meiste Zeit auf triste Weise dem gleich, was man schon immer gewesen ist.“

Der Tourist

Reisen bildet, sicher — aber genauso verbildet der meist ‚reichere‘ Reisende seine oft vom Wohlstand noch gar nicht heimgesuchten, ungefragten Gastgeber. Diese eignen sich nämlich, entsprechend den geldbringenden Wünschen der Eindringlinge, mehr und mehr Fremdkultürliches an — sonst gäbe es kein Gösser-Bräu auf Hawaii, keine Videos in Tuaregzelten, keine Überforderung bei nichthistorischen Entwicklungen. Wir kübeln Naturvölker mit Atomkraft, Düsenjägern und Coca Cola-Philosophie zu, zwängen den anderen das eigene suspekte Weltbild auf, das wir uns von ihnen gemacht haben, ohne sie zu fragen. Wir pfeifen auf die Sitten anderer Länder, stänkern über schlechtes Essen (wozu in Griechenland Mousaka essen und auf die vertrauten Pommes frites zu verzichten — obwohl wir finden, daß die köstlichen Fritten dort ‚unten‘ verkocht, eklig schmecken; Fazit: Sch...-Griechen, nicht einmal kochen können diese Schafhirten.)

Wir halten andere Nationen und Völker für Vollidioten, weil sie sich von uns ausnehmen lassen, und freuen uns gleichzeitig diebisch, wie billig wir davonkommen. Wir hassen sie, weil sie aus einem entgegenkommenden Mißverständnis heraus beinahe masochistisch ihre Länder ökologisch und architektonisch ruinieren. Wir glauben, in arabischen Ländern nackt herumhängen zu müssen, überfordern unsere Gastgeber mit Müll und üblen Manieren, lassen ‚typische‘ Souvenirs poduzieren, die eine Ursprünglichkeit aufweisen, wie die berühmten Gemsen mit den Eiern im Nest. Ja, und Papa Durchschnitt bringt sogar exotische Geschlechtskrankheiten heim zu Mama.

Wir wollen nicht auf den Komfort, der durch diverse Rohstoffe garantiert wird, verzichten, aber unsere Freunde im gewählten Urlaubsland sind schon riesige Dreckschweine, wenn wir das Heizöl nicht im Ofen, sondern als Teer am ganzen edelbraunen Körper haben.

Leiris definierte den Touristen als jemanden, „der ohne Herz, ohne Augen und ohne Ohren reist“. Letztlich, und das scheint ja auch bequemer, versuchen wir nicht den Anderen, den Unbekannten, den Exoten in uns zu entdecken, sondern drängen unser Ich voll den anderen auf. Die Reflexion im Spiegel fremder Kulturen führt bei uns zu modernem Kolonialwahn und Kulturimperialismus, bei den Vergewaltigten aber zur Auflösung von sozialen Gefügen, Familienstrukturen umd zur Ausrottung jeglicher Identität im Kultürlichen bzw. Traditionellen.

Der Österreicher als Exot

Hawaii, das sind Palmen, Aloa-Gesänge, Blumenkränze über nackten Busen, und immer im Hintergrund die Untermalung der berüchtigten Gitarren. Am Nordpol leben glückliche Eskimos und Eisbären, viel weiß man nicht, es ist ja immerhin ein halbes Jahr dunkel dort. Die Spanier kämpfen fleißig mit Stieren, die Araber ziehen in Karawanen durch die Wüste, Japaner vertreiben sich die Zeit mit Dauerrekorden im Fotografieren, die Thailänderinnen sind ausschließlich zum Bumsen da, die Engländer ernähren sich hauptsächlich von Tee (ja auch die Queen, Maggie trinkt Magenbitter) und die Neger leben im Urwald, bei den Wilden, ja. Wo sie hingehören, wo sonst! Wann ereignet sich bei einer derartig einfachen Organisation unserer (farbigen) Mitmenschen eigentlich der Rest des Weltgeschehens, sind sie doch alle eingedeckt, die ihnen zugeschriebenen Klischees zu erfüllen. Fragen Sie doch z.B. einen Schotten, was er außer Dudelsackspielen und neckischem Röckchen-Tragen noch tut. Der kann sich erst als Pensionist realisieren. Deshalb sind wir alle verpflichtet, vom Straßenfeger bis zum Bundespräsidenten, auch unseren Klischees zu entsprechen: der wahre, echte, gute Österreicher reitet mindestens einen Lipizzaner für die Schnappschüsse der Urlauber zuschanden, dann schuhplattelt er, was das Zeug hält, jodelt, fensterlt und frißt kiloweise Mozartkugeln. Nationalgetränk: Bier mit Melange, a bisserl a Nazi soll er ja bleiben, der Gastgeber als Feindbild, aber das alles mit Schmäh und Charme. Als beliebtestes Fortbewegungsmittel finden Skier ihren Einsatz, es schneit ja fast immer bei uns, außer im Sommer, da schneit es ein bißchen weniger. Dafür halten jetzt die Sängerknaben her, man wohnt im Stephansdom, die Akustik der Kaisergruft und die Kalorienbomben vom Demel bzw. Salzburger Nockerl (eine Süßspeise, keine Bezeichnung für die Einheimischen) sind schon was für Eingeweihtere. Von der Unterwäsche bis zum Abendanzug — alles in Loden.

Wissen Sie nun, wie ident sich ein Südsee-Insulaner mit dem ihm zugeordneten Reklamebildchen fühlt? An Hand so viel Idylle wird ihm übel, er kotzt in seinen Katamaran und beschmeißt den Reiseleiter mit Kokosnüssen.

P.S.: Nicht der andere (Fremde ) ist unser Problem. Wir werden zum Problem für die anderen (Fremden).

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