FORVM, No. 155-156
Dezember
1966

Sozialismus oder Pittermann?

Die SPÖ steht vor der Alternative: Öffnung oder Untergang. [1]

Man fragte: Was heißt das konkret?

Ich antworte: Das heißt Öffnung zur großen Opposition aller Oppositionellen, zur Partei aller, die mit der bestehenden Ordnung unzufrieden sind, die eine prinzipiell neue, bessere, menschlichere Ordnung wollen und daher für den Sozialismus gewonnen werden können — oder Untergang im Sumpertum des bürgerlichen Parteienstaates, als Partei unter Parteien, im Sumpertum des eigenen doktrinären Winterschlafs, im Sumpertum der Mini-Diktatur des eigenen Apparates.

Man fragte immer noch: Was heißt das konkret?

Ich antworte noch konkreter: Öffnung oder Untergang — das heißt: Sozialismus oder Pittermann.

Der Sozialismus ist eine sittlich fundierte Idee; Parteiobmann kann nicht bleiben, wer erst für die große Koalition ist, dann für die kleine, dann wieder für die große, dann für die Opposition, morgen schon wieder für die Koalition als Wahlziel; erst wilder Antikommunist, dann milder Empfänger einer kommunistischen Wahlempfehlung; erst milder Vertreter der „Sozialpartnerschaft“, dann wilder Verfechter des „Klassenkampfes“. All dies kann nicht hintereinander von ein und demselben Parteiobmann vertreten werden, ohne Verdacht, daß er all dies vertritt, um jedenfalls Obmann zu bleiben.

Der Sozialismus ist eine wissenschaftlich fundierte Idee; sozialistischer Parteiobmann kann nicht bleiben, wer tagespolitischen Slalomkurs läuft, ohne auch nur den Versuch einer theoretischen Begründung, die tiefer geht als die blitzschnelle Bastelei doktrinärer Mythologien, die auf die jeweilige Slalomkurve passen und daher auf die nächste Slalomkurve schon wieder nicht passen. Parteiobmann kann nicht bleiben, wer zugunsten solcher eigenen Bastelei die (ohnehin wenig zahlreichen) Theoretiker, Nationalökonomen, sonstigen Fachleute völlig unbeachtet, d.h. je nach Slalomkurve links oder rechts liegen läßt.

Der Sozialismus ist die Idee und das Anstreben einer Gesellschaft, in der alle Menschen menschenwürdig leben können; für ein so hohes Ziel braucht man Menschen von hoher Glaubwürdigkeit. Pittermann steht diesem Ziel im Weg.

Dies ist in dreifacher Hinsicht kein persönlicher Angriff:

  1. Pittermann wäre eine prächtige Nr. 1 — unter anderen, keiner solchen Zerreißprobe menschlicher Substanz gleichkommenden Umständen; noch im letzten Wahlkampf ging ich so weit, ihn in der „Wochenpresse“ wörtlich als guten Bundeskanzler zu empfehlen. Ich kenne seine vergangenen Verdienste und habe für ihn geradezu unzulässige menschliche Sympathie.
  2. Pittermann ist nicht der Alleintäter. Er steht für eine Garnitur, von der ich schon sagte und nun wiederhole: Rühmliche Ausnahmen ausgenommen, [2] muß die ganze Garnitur abtreten oder abgetreten werden. Diese Garnitur steht für eine Epoche, in der die von Adolf Schärf intakt übergebene Partei heruntergewirtschaftet wurde, binnen weniger als zehn Jahren, auf den heutigen Gegenstand der Trauer für ihre Freunde, des Gespötts für ihre Gegner.
  3. Es geht im Grunde nicht um Personen, sondern um Wichtigeres: um die Neuformulierung sozialistischer Theorie und Politik angesichts einer neuen Wirklichkeit. Aber dem stehen Pittermann und seine Garnitur im Weg; daher müssen sie weg.

Es geht um die Wahrnehmung der gewaltigen Chance, daß die SPÖ zur Opposition aller Oppositionellen aufsteigt und solcherart zur soliden, regierungsfähigen Mehrheit. Das geht nicht mit einer sozialistischen Partei „nur für Sozialisten“, d.h. mit einem doktrinären Exklusivklub, dem jeder Zuwachs häresieverdächtig ist. Der Sozialismus ist keine Geheimlehre zur Selbstbefriedigung der Sektenmitglieder, sondern eine geistige Waffe zur Gewinnung der Mehrheit des Volkes zwecks Veränderung der Gesellschaft.

Zwischen dem Sozialismus und dem Pittermanismus besteht eine Kluft, die sich nicht mehr schließen läßt.

Eine Garnitur gehört abserviert, die ihren Antrag auf Untersuchung eines gegnerischen Ministeriums fallen läßt, sobald der Gegner die Untersuchung auch der von ihr einst innegehabten Ministerien fordert.

Eine Garnitur gehört abserviert, die mit dem politischen Gegner vereinbart, eine Debatte über Korruption in dessen Einflußbereich möge unterbleiben, weil sie Angst hat, daß auch ihre einstigen Einflußbereiche diskutabel sein könnten.

Der österreichische Sozialismus ist nicht identisch mit dem Selbsterhaltungstrieb einer bankrotten Spitzengarnitur; Ziel sozialistischer Opposition kann nicht die Konservierung des matten Glanzes der verflossenen Koalition sein.

Wer sich diese Führungsgarnitur weiterhin gefallen läßt, ist selber schuld; er gleicht einem Kaninchen, das von einer Blindschleiche hypnotisiert wird.

Meine detaillierte Aufforderung, gegen mich ein statutenmäßiges Verfahren zu eröffnen, statt mich hinterrücks zu verleumden, ist seit nun zwei Monaten ohne Antwort. Man stellt sich tot. Aber die Zahl der mit Lügen gegen mich von Organisation zu Organisation reisenden Emmissäre wurde vermehrt; sie haben jetzt Mappen mit hektographierten falschen Zitaten bei sich. Auch die administrativen Redeverbote dauern fort. Das folgende Dokument steht für viele ähnliche Fälle:

Werter Genosse Nenning, die ... muß Dir leider mitteilen, daß unsere Diskussion am ... nicht stattfinden kann. Die SPÖ-Bezirksleitung ... ist mit der Diskussion nicht einverstanden und hat uns aus diesem Grunde verboten, sie mit Dir abzuführen ...

Natürlich rede ich dennoch überall dort, wo es in dieser Partei noch Männer gibt: also in sehr vielen Organisationen.

Es handelt sich um Tyrannei, vor der niemand Angst zu haben braucht, weil sie selber Angst hat.

Es handelt sich um Tyrannei, die fallen muß, damit der österreichische Sozialismus sein wahres Selbst zurückgewinnt.

Erst dann wird die SPÖ, statt gegen ihre eigenen Leute mit den Mitteln des Dschungelkriegs, gegen den politischen Gegner mit den Mitteln der Demokratie kämpfen und auch siegen können.

[1Vgl. meine Aufsätze im Neuen FORVM: Die Quittung, März 1966; Sozialdemokratisches Manifest, April/Mai 1966; Öffnung oder Untergang, Juni/Juli 1966; Schule für Reformer, August/September 1966; Anzeige, Oktober 1966. Ferner mein eben erschienenes Büchlein „Öffnung oder Untergang“, Europa-Verlag, Wien—Frankfurt—Zürich.

[2Z.B. Benya, dem die nunmehrige Einigung über die Verstaatlichte zu danken ist.

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