EuropaKardioGramm, EKG 5-6/1995
Oktober
1995

Schwedens EU-Kritiker zwischen Austrittswunsch und Reformanspruch

Müde Ausreden der Spitzenpolitiker

Der erste Wählertest nach dem Beitritt zur Europäischen Union machte deutlich: die Schwedinnen und Schweden sind mit ihrem Land und der EU nicht zufrieden. Besonders zu spüren bekamen dies die in Schweden regierenden Sozialdemokraten; sie verloren gegenüber der nationalen Wahlen vom letzten Jahr mehr als 1,7 Millionen Stimmen. Das Augenmerk ist nun deshalb im hohen Norden auf die EU-Kritiker gerichtet.

In der Europapolitik ist das Muster bekannt. Die Wähler(innen) folgen in den neunziger Jahren in Sachen EU-Integration nur noch beschränkt den Absichten der Gewählten. In Dänemark lehnte eine knappe Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung im Frühjahr 1992 das Maastrichter Abkommen der Europäischen Union (EU) ab; in Frankreich kam Monate später nur eine hauchdünne Mehrheit zusammen; in der Schweiz verwarf das Volk den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), und in Norwegen lehnten die WählerInnen die Unionsmitgliedschaft im vergangenen Winter bereits zum zweiten Mal ab. Diese Liste ist Mitte September länger geworden: bei einer — für Schweden sehr niedrigen — Wahlbeteiligung von 41,3 Prozent wählten die Schwedinnen und Schweden überraschend viele EU-KritikerInnen ins Europäische Parlament (EP). Zehn der 22 neuen schwedischen MEPs (Mitglieder des Europaparlamentes) hatten im vergangenen Jahr gegen den Beitritt ihres Landes gestimmt. Ganz offenbar empfand eine Mehrheit der Schwedinnen und Schweden das EP weder als wichtig noch die von der sozialdemokratischen Regierung geführte Europapolitik als richtig genug. Deshalb machten die Sozialdemokraten mit 28,1 Prozent der Stimmen das bislang schlechteste Wahlergebnis überhaupt. Vor einem Jahr noch hatten über 45 Prozent der WählerInnen bei den nationalen Parlamentswahlen für die Sozialdemokraten gestimmt.

Müde Ausreden der Spitzenpolitiker

Das europäische Muster gleicht sich aber nicht nur im Wahlverhalten: Schwedens Spitzenpolitiker scheuten nach der Wahl keine sprachlichen Mühen, die Ursache für das „Fiasko“, wie der Wahlausgang von vielen schwedischen Zeitungen bezeichnet worden ist, an vielen Orten zu suchen — nur nicht bei sich selber. „Die EU-Wahl kam zu früh“, sagte der sozialdemokratische Ministerpräsident Ingvar Carlsson: „Die Wähler waren müde“. Carlssons Amtsvorgänger, der konservative gegenwärtige Bosnienvermittler der EU, Carl Bildt schob den schwarzen Peter gleich direkt dem Volk zu: „Die Bürger haben sich selbst ein ungenügendes Zeugnis ausgestellt“, meinte Bildt. Der Vorsitzende der Zentrumspartei, Olof Johansson, bezeichnete den Wahlausgang und die niedrige Wahlbeteiligung — 1994 lag die Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen und der EU-Abstimmung bei 85 Prozent — kurzerhand als „Katastrophe für die Demokratie“.

Hinter den wenig freundlichen Anmerkungen der Herren Carlsson, Bildt und Johansson zum Verhalten der Stimmbevölkerung versteckt sich aber nicht nur Arroganz, sondern auch eine große Portion schlechtes Gewissen. Denn von den großen Visionen in Richtung eines demokratischeren und sozialeren Europas, die im Vorfeld der Volksabstimmung noch gezeichnet wurden, ist nach dem Beitritt zur EU nicht mehr viel übrig geblieben. Sowohl Carlsson als auch Bildt haben wiederholt betont, daß die Entscheidungskompetenz in Sachen Europa nun nicht mehr beim Volk, sondern bei den Parteien im Reichstag liege. Dies hat viele Schweden verärgert: ein großer Teil der Stimmenden nutzte deshalb die Chance, welche die EU-Wahl bot, und kreuzte KandidatInnen auf den Listen der EU-kritischen Grünen und Linkssozialisten an.

Der Anfang vom Ende

Nach dem Wahlerfolg liegt nun die europapolitische Initiative stärker bei den EU-Kritikern und Kritikerinnen: Die Vorsitzende der ex-kommunistischen Linkspartei, Grudrun Schyman, sprach im Zusammenhang mit dem Wahlausgang vom „Anfang des Endes für Schweden in der EU“. Ihre Partei erhielt zwölf Prozent der Stimmen und drei Sitze im EP. Die Linkspartei fordert nun die schwedische Regierung auf, bei der bevorstehenden EU-Regierungskonferenz, sich für die traditionelle Zwischenstaatlichkeit stark zu machen. „Wir sind gegen jede Transnationalisierung der Politik“, betont Schyman und fügt hinzu: „Alle Macht soll bei den nationalen Parlamenten liegen.“ Ihre Partei hatte den Ausgang der Volksabstimmung im vergangenen Jahr akzeptiert und im Reichstag deshalb der Ratifizierung des Maastrichtabkommens zugestimmt. Nun, so Schyman, befinden wir uns in einer neuen Situation: Ein Austritt aus der Union müsse ernsthaft in Erwägung gezogen werden. Gemeinsam mit den Grünen und der Zentrumspartei verlangen die Ex-Kommunisten eine Volksabstimmung über die Resultate der kommenden Regierungskonferenz. Sie sprechen sich deutlich gegen die für 1999 geplante Währungsunion („Das wäre der definitive Todesstoß für die Demokratie“, Schyman) und das Schengen-Abkommen aus. Schwedens Schengen-Mitgliedschaft hängt offiziell davon ab, ob gleichzeitig die nordische Paßunion aufrechterhalten werden kann. Dafür müßten sich aber auch die Nicht-EU-Staaten Norwegen und Island dem Abkommen anschließen. Eine Klärung dieser Frage wird in diesem Winter erwartet.

Grüne fordern umweltfreundlichere Union

Während die Linkspartei nach der EU-Wahl eher zum Unionsaustritt neigt, sind die schwedischen Grünen (Miljöpartiet de Gröna) auf eine Reformperspektive hinüber geschwenkt. Im Wahlkampf hatte sich die Partei mit der Parole „Mot EU!“ („Gegen die EU!“) profiliert und anvancierte zur Überraschungssiegerin. Fast 18 Prozent der Schwedinnen und Schweden votierten für die Grünen, die nun mit vier Sitzen im EP vertreten sind. Nun hat die Umweltpartei ein Zwölf-Punkte-Programm mit der Überschrift „So machen wir die EU besser“ lanciert: die Punkte betreffen in erster Linie die schwedische Haltung bei der EU-Regierungskonferenz, die im kommenden Frühjahr in Italien beginnen soll. Unter anderem soll sich die schwedische Regierung für einen „Austrittsparagraphen“ einsetzen. Der Haushalt der Union soll, so die Grünen, bis zum Jahre 2005 halbiert werden; die vorhandenen Mittel in erster Linie umweltpolitisch angewandt werden. Dazu soll auf EU-Ebene eine minimale Energie- und Kohlendioxidsteuer eingeführt werden. Die im Zusammenhang mit der geplanten Währungsunion festgeschriebenen Konvergenzkriterien (Haushaltsdefizit, Staatsschulden und Inflation) soll durch ein Arbeitslosenkriterium und ein Umweltkriterium ergänzt werden. Die schwedische Umweltpartei fordert schließlich auch eine Doppelabstimmung im Anschluß an die EU-Regierungskonferenz: In einer ersten Vorlage soll der Souverän über die Ergebnisse der Konferenz, in einer zweiten über die Teilnahme an der geplanten Währunsgunion befinden können. „Eine Veränderung der EU-Politik in diese Richtung würde die Unionsgegnerschaft sicherlich schrumpfen lassen“, meint Birger Schlaug, Co-Vorsitzender der Grünen.

Stellvertreterdemokratie reicht nicht aus

Die schwedischen EU-Kritikerinnen und -Kritiker fühlen sich aber nicht nur bei den Grünen und der Linkspartei zuhause: Viele verzichteten Mitte September gleich ganz auf eine Stimmabgabe. Die Stärkung des Europäischen Parlamentes kann, so zeigte der Urnengang, nicht der Königsweg zu einem „demokratischeren Europa“ sein. Rutger Lindahl, Chef des Außenpolitischen Institutes in Stockholm, stellt fest, daß ein „reines Stellvertretersystem aus Europa noch längst keine Demokratie macht“. Eine weitere Lehre der schwedischen Wahlen ins EP ist zudem, daß die „Krise der Parteiendemokratie“, wie sie sich sehr deutlich manifestiert hat, nicht unbedingt eine „Krise der Demokratie“ an sich sein muß.

Die von der Linkspartei geforderte Stärkung der nationalen Parlamente kann denn auch nur ein Teil der Lösung sein: Auch in Schweden fühlen sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger zu mehr Mitsprache befähigt. Einmal alle vier Jahre einer Partei das Vertrauen aussprechen zu können, ist nicht mehr genug. Ganz unabhängig vom konkreten Verhältnis zur Europäischen Union, geht es nun nach Ansicht der Grünen darum, „den Status der aktiven Bürgerinnen und Bürger auf allen Ebenen zu stärken“. Zumindest dies hat die Auseinandersetzung mit Europa auch in Schweden deutlich gemacht.

Späte Entscheidung

Göteborg — Erst in der letzten Woche vor der Volksabstimmung entschieden sich viele Schwedinnen und Schweden für einen Beitritt ihres Landes zur Europäischen Union (EU). Gottfried Grafström hat im Buch „Varför just JA“ (Warum gerade JA), das in diesen Tagen erscheint, bislang unbekannte Untersuchungsergebnisse veröffentlicht. Am 13. November 1994 stimmten gut 52% der Schwedinnen und Schweden bei einer Stimmbeteiligung von 83% für den Beitritt, knapp 47% dagegen. Den Ausschlag gaben die sozialdemokratischen Wähler(innen): Einen Monat vor dem Urnengang hatten sich nur gerade 20% dieser Wählergruppe für den Beitritt entschlossen, am Wahltag waren es 50%. Offenbar gelang es vor einem Jahr den sozialdemokratischen Spitzen, einen Teil der Wählerschaft in letzter Minute noch für ein Ja zu erwärmen. Doch die Zweifel blieben und bei den Wahlen ins EU-Parlament erhielt Schwedens größte Partei eine erste Quittung Vorgelegt.

Doch zurück zur Volksabstimmung: In der Debatte hinterließen die an Veranstaltungen und in den Medien auftretenden Vertreter(innen) der Nein-Seite jedoch einen größeren Eindruck als jene der Befürworter-Seite. Die wichtigste Entscheidungsgrundlage, so zeigt Grafström anhand von Untersuchungen des Institutes SIFO auf, war den Schweden jedoch das Gespräche im Familien- und Freundeskreis. Die wichtigsten Ja-Gründe waren: „Können nicht abseits stehen“ 30%, Frieden 14%, Wirtschaft 12%, Arbeitsplätze 10%. Die Nein-Stimmenden gaben an: Selbstbestimmungsrecht 17%, Demokratie 13%, Unsicherheit 9%, Eintrittskosten 7%. Eine entsprechende Untersuchung zu den schwedischen Wahlen zum EU-Parlament von Mitte September liegt noch nicht vor.

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