FORVM, No. 319/320
Juli
1980

Schizophren ist normal

Zum Tode Erich Fromms
Erich Fromm

ln der Mitgliederliste des FORVM-Redaktionsbeirats stand hinter dem Namen Erich Fromm der Wohnort „Mexico City“. Aber nach einem Herzinfarkt, den Fromm 1968 erlitten hatte, hielt er sich meist im Tessin auf. Fotografien aus der letzten Zeit zeigen ihn mit dem zerfurchten, lächelnden Gesicht eines weisen alten Mannes beim Spaziergang am Ufer des Lago Maggiore. Am 18. März (kurz vor seinem Achtzigsten) starb Erich Fromm in seiner Wohnung im sechsten Stock eines Mietshauses in Muralto bei Locarno.

Dem Propheten eines radikalen Humanismus war Monate zuvor ein anderes Mitglied des FORVM-Beirats in den Tod vorausgegangen: der „große Verweigerer“ und philosophische Gegner Fromms Herbert Marcuse. [1] Beide hatten jenem „Institut für Sozialforschung“ angehört (Fromm 1930-1939, Marcuse von 1932 an), aus dem die Frankfurter Schule hervorgegangen ist.

Beide, Fromm und Marcuse, hatten versucht, Karl Marx und Sigmund Freud theoretisch unter einen Hut zu bringen, und waren darüber in Streit geraten. Für die Mehrheit der alten „Frankfurter“ war Erich Fromm ein „neo-freudianischer Revisionist“ geworden, lehnte er doch die Libido-Theorie und die Todestrieblehre sowie Freuds pessimistisch-cartesianisches Menschenbild (der Mensch ein ursprünglich weltloses isoliertes Subjekt) ab.

Auch „psychologisierte“ der gelernte Soziologe und Psychoanalytiker Fromm die Soziologie und „soziologisierte“ die Psychoanalyse, er verteidigte Bachofens „Mutterrecht“, sprach und schrieb über die Möglichkeit des Menschen, aus der „Entfremdung“ herauszukommen: durch Realisierung von „Freiheit“, „Liebe“ (im übersexuellen Sinn), rationale gesellschaftliche Zielsetzung, Ethik, atheistische Religiosität. Erich Fromm arbeitete 45 Jahre lang als Psychotherapeut.

Horkheimer, Adorno und Marcuse jedoch meinten, an der Psychoanalyse sei „nichts wahr als ihre Übertreibungen” (so Adorno in „Minima moralia“). Gerade Freuds „materialistischer Biologismus“, seine Mißachtung sozialethischer Werte, stellten Freuds Stärke dar, denn so entlarve orthodoxe Psychoanalyse unser gesellschaftliches Elend. Sigmund Freuds Lamarckismus (Vererbung erworbener Eigenschaften) zeige, daß Freud mit „Natur“ „zweite Natur“ gemeint haben muß, das heißt versteinerte Geschichte.

Demgegenüber agierten (nach Ansicht der „kritischen Theoretiker“) die „revisionistischen“ Neo-Freudianer, darunter (neben Karen Horney) der „Sonntagsredner“ Fromm, wie liberale „Konformisten“.

Im Kapitalismus nur krank?

Besonders der Glaube und die Hoffnung Fromms, die kapitalistische Gesellschaft sei so vielfältig widersprüchlich, daß es immer noch Ecken und Winkel gibt, in denen und von denen aus die „lndividuation“, die Reifung des lndividuums (samt seiner angeborenen Sozialbezogenheit) versucht werden könne, stieß auf vehemente Ablehnung. Über die Chancen individueller Psychotherapie urteilte Adorno: „lndem der Geheilte dem irren Ganzen sich annähert, wird er erst recht krank“ (in „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“).

Erich Fromm hatte Freud und die orthodoxen Psychoanalytiker „Stalinisten” tituliert, welche „die Welt erobern“ wollen. An Wilhelm Reich störte ihn dessen Regression zu „primitiver Sexualität“. Die von den „Frankfurtern“ propagierte Befreiung prägenitaler „polymorph-perverser“ Libido lehnte er ab. Herbert Marcuses Glaube, „die Befreiung der sadistisch-nekrophilen Perversionen gehöre zum vollen Glückserlebnis des freien Menschen in der nicht repressiven Gesellschaft“ erschien Fromm „klinisch“ unhaltbar zu sein: „diese Perversionen“ seien selbst „das Produkt pathologischer, auf Zwang und Unfreiheit beruhender gesellschaftlicher Verhältnisse”, und in einer „nicht repressiven Gesellschaft“ müßten sie deshalb nicht verdrängt werden, weil sie sich gar nicht erst entwickeln.

So war Marcuse für Fromm „das Musterbeispiel des entfremdeten lntellektuellen, der seine persönliche Verzweiflung als Theorie des Radikalismus ausgibt“ (in „Die Revolution der Hoffnung“), oder einfacher gesagt: ein „Nihilist“.

Worauf Marcuse replizierte: „Nihilismus als die Anklage unmenschlicher Bedingungen kann eine wahrhaft humanistische Haltung sein. In diesem Sinne nehme ich die Bezeichnung meiner Position durch Fromm als ‚humanen Nihilismus‘ an.“ Fromm seinerseits akzeptierte die Etikette ,‚dialektisch-humanistische Revision“.

Erich Fromm hat Psychoanalyse und Marxismus „revidiert“. Und zwar die eine mit Hilfe des anderen und umgekehrt. Für Sigmund Freud und die „Orthodoxen“ sind die „Objektbeziehungen“ des Menschen Resultate der Libido-Entwicklung (oral, anal, genital). Entsprechend diesen Stufen kennt Freud verschiedene libidinöse Typen („Charaktere“ wäre vielleicht zuviel gesagt). Der anale Typus scheint den kapitalistischen Verhältnissen zu entsprechen.

Darf man deshalb den Kapitalismus aus der Analerotik ableiten? Von den vielen Kritiken dieser Ansicht erwähne ich nur Otto Fenichels 1934 geschriebene Arbeit „Der Bereicherungs-Trieb“, wo (u.a. gegen Géza Roheim und Sandor Ferenczi) die Historizität von „Trieben“ (mal gibt es sie, mal wieder nicht), die Wirkung „sozialer lnstitutionen, die eine Generation vorfindet", auf die „biologische Struktur“, ja sogar eine aus der „Selbsterhaltung“ stammende Triebkomponente namhaft gemacht wird: „Die Dynamik des Akkumulationsprozesses führt dazu, daß ein Kapitalist bei Strafe seines eigenen Untergangs akkumulieren muß“. Nach Fenichel ist daher die „These, der biologische Trieb habe die bestehenden Produktionsverhältnisse um seiner Befriedigung willen geschaffen, höchst zweifelhaft“.

Fromms marxistische Revision der Psychoanalyse besteht nun darin, daß er Freuds Libido-Typen (vermittelt über die „psychische Agentur Familie“) zu sozioökonomisch geprägten Charaktertypen vervollständigt — die ihrerseits wieder Einfluß auf die Gesellschaft nehmen.

Weg mit Haben, seid!

Erich Fromms Begriff des („Sozial“-)Charakters unterscheidet sich jedoch von gleichlautenden Termini wie etwa dem Wilhelm Reichs durch eine gewisse Wertneutralität (Reichs Charakter-„Panzerung“ ist negativ gemeint!). Fromm postuliert negative (sogenannte „unproduktive“) Orientierungen beim Umgang mit den Dingen („Assimilation“) und den Mitmenschen („Sozialisation“): Autoritär-symbiotischer Sadomasochismus ist „rezeptiv“, (oral) „ausbeutend“, (anal) „hortend“. Distanziertheit, „Rückzug“ kann anal-hortend sein, narzißtisch oder „nekrophil-destruktiv“. Ebenfalls „nonproduktiv“ ist die gängige konformistische „indifferente Marketing-Orientierung“. Wogegen „arbeiten, lieben, denken“ produktiv und deshalb positiv sind.

„Produktiv“ hat jedoch nichts mit ökonomischer Produktion zu tun, die Fromm mißtrauisch betrachtet, auch nichts mit spezifisch künstlerischer Kreativität. Letztlich teilen sich die Frommschen Charaktere in ihren verschiedensten Mischungsverhältnissen auf zwei Haupt-„Syndrome“ auf: das „biophile“ (= gut) und das „nekrophile“ (= schlecht).

Ein kompliziertes Schema, das etwas willkürlich und sehr scholastisch aussieht und von sehr subjektiven Wertungen — Fromms Idealen — bestimmt wird.

Den Gipfel der Spekulation erreicht Fromms Charakterlehre jedoch mit der Aufstellung von zwei „letzten Wertungen menschlicher Wirklichkeit“, nämlich den „Modi des Seins und des Habens“, wobei der erstere positiv, der zweite negativ ist. An diesem Punkt geht Fromms Sozialpsychologie in mystische (aber nicht „theistische“, sondern „humanistische“) Religion über.

Wer sich für die verwickelten Beziehungen zwischen diesen Ideen Fromms interessiert, sei auf das ausgezeichnete Werk des Fromm-Schülers Rainer Funk („Mut zum Menschen. Erich Fromms Denken und Werk, seine humanistische Religion und Ethik“, dva, Stuttgart 1978) verwiesen. Der Gegensatz „nekrophil — biophil“ wird in Fromms aggressionstheoretischem Werk „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ breit ausgesponnen, die Dichotomie „Haben — Sein“ in Fromms „Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft” dargelegt.

Mit „Haben oder Sein“, das selbst von Papst Johannes Paul ll. hin und wieder positiv erwähnt wird, hat sich Erich Fromm zumindest der Terminologie und der Intention nach in eine eigenartige Tradition gestellt, die z.B. von Ernest Borneman als „gnostisch“ eingeschätzt wird.

Man wird an das metaphysische Tagebuch „Sein und Haben“ des katholischen Existenzialisten Gabriel Marcel erinnert, und — noch weiter zurückliegend — an Schopenhauers Hilfszeitwörter (der hatte allerdings aphoristisch geschrieben über das, was einer hat, ist und vorstellt), deren Zahl man mühelos vergrößern könnte (können, dürfen, sollen, müssen etc.).

Spaß beiseite: Mit „Haben“ wollte Fromm eine Kategorie prägen, mit der unser vom Kapitalismus (plus Staatssozialismus) infiziertes Erleben, Denken, Verhalten, unsere Konsumorientierung, die industriegesellschaftliche, „technotronische“ Zweck-Mittel-Verkehrung an den Pranger gestellt werden kann, während „Sein“ — ja was ist das eigentlich?

Zurück zu Feuerbach, zum alten Indien

Etwa die „substantia“, das „ens per se subsistens“ des Thomas von Aquin? Etwas, das Statik und Dynamik, Substanz und Akt also „transzendiert“, wie dies Gabriel Marcel nahegelegt hat? Sollen altindische Philosopheme (die bei uns fröhliche Urständ feiern — etwa in der Theologie Karl Rahners) populär gemacht werden? Geht es um Zeitenthobenheit, Gegenwärtigsein, das „hic et nunc“ von Mystik und spontaneistischen Therapieformen? Doch nicht bloß um „gesellschaftliches Sein“?

Nun, Fromms Revision der Psychoanalyse bestand auch darin, die Existenz einer Art Wesenskern des Menschen zu behaupten, der nicht bloß aus lnstinktmechanismen und Spannungsregulatoren erklärt werden kann.

Fromms Revision des Marxismus besagt, daß dieser Wesenskern den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnissen gegenüber bis zu einem gewissen Grad resistent bleiben (in vielen Fällen freilich auch verdrängt werden und verkümmern) kann, ja sich sogar dynamisch, revolutionär, emanzipatorisch, auf ein Ziel hin zu entfalten vermag. Dieses Ziel ist (und hier kommt der frühe idealistische Karl Marx, und das heißt Feuerbach ins Spiel) „der Mensch“ selbst, nachdem er seine Projektionen zurückgenommen, sich seiner selbst bewußt, Schöpfer seiner selbst geworden ist.

Dies aber nicht als isoliertes Ich, sondern als von Natur her soziales Lebewesen, darauf angelegt, Harmonie, ja Einheit mit Natur und Mitmenschen herzustellen. Das ist die Aufgabe des Menschen.

„Unabdingbare existentielle Bedürfnisse“ des Menschen sind auch jene, die aus der „lnstinktunsicherheit“ und der rationalen Potenz (dem hochentwickelten Gehirn) kommen, aus der Notwendigkeit, den Tier-Gott-Widerspruch (der Mensch weiß zwar Bescheid über „Gut und Böse", ist aber sterblich, was ihm schmerzlich bewußt wird) zu überbrücken. Es geht also um das Bedürfnis nach „Sinngebung“ (trug Erich Fromm etwa eine von Viktor Frankls logotherapeutischen Brillen?), ja gar nach Religion.

Verständlich, daß spätestens an diesem Punkt gelernte Marxisten gequält aufschreien, hat doch der reife, späte, „ökonomische“ Marx die Einsicht entwickelt, daß das, was den Menschen ausmacht, auf der Basis der jeweiligen sozioökonomischen Formation und nur soweit entwickelt werden kann, als das materielle Fundament entwicklungs- und umwälzungsfähig ist (unbeschadet der aus verschiedensten historischen Quellen stammenden ldeen, in deren Gewand dies vor sich gehen mag).

Die Kritik der Lukács-Schülerin Agnes Heller an Fromms anthropologischen Thesen ging in diese Richtung (Agnes Heller: lnstinkt, Aggression, Charakter, VSA, Hamburg 1977). Letztlich bringt eine solche Auseinandersetzung freilich nicht viel: sie mündet unweigerlich in ein Hinundherwenden des Problems Vererbungs — Umwelteinfluß, bei dem es dann nur mehr um Akzentsetzungen zu gehen scheint. Ein anpassungsfähiger und eklektischer Denker wie Erich Fromm ist da sehr schwer zu fassen.

Klarer sieht man, wenn man Erich Fromms Herkunftsmilieu berücksichtigt. Einzelkind, wie er selbst sagte, von zwei sehr neurotischen, überängstlichen Eltern. Eine lange Reihe von Rabbinern als Vorfahren. Der Vater schämte sich, weil er Kaufmann war („Haben“!) und nicht auch ein Rabbi („Sein“!).

Ein sehr einsames Kind war Erich Fromm, aufgezogen in einer altjüdisch geprägten, im Grunde noch mittelalterlichen, noch nicht bürgerlichen Atmosphäre. Aus der persönlichen Isolierung heraus bereit und offen für das Kommen eines Erlösers.

Interesse für die biblischen Propheten, Hoffnung auf den Messias und eine bessere Welt, herbeigeführt nicht durch Katastrophen, sondern eine große Erneuerung. Moralischpolitische Vollendung des Menschen. Erich Fromm wurde, wie er berichtete, immer neurotischer. Um „nicht ganz verrückt zu werden“ unterzog er sich einer Psychoanalyse, wurde orthodoxer Freudianer, praktizierte streng nach der Methode Sigmund Freuds. Bis ihm das zu langweilig wurde, zu wenig kommunikativ, zu unpersönlich. Sandor Ferenczis Zärtlichkeitstherapien waren ihm sympathischer.

Dann kam die Entdeckung des frühen Marx, die Erkenntnis, daß Kommunisten und Sozialdemokraten diesen Marx entstellen, sie nichts anderes anstreben, als die Arbeiter zu Bürgern zu machen. Wo doch Marx die bürgerlichen Werte scharf kritisiert und als Endziel nicht die totale Steigerung der Produktion, sondern die volle Entfaltung des Individuums ausgegeben hatte.

„Marx kam hundert Jahre zu früh“, sagte Erich Fromm vor seinem Tode in einem Interview. Und er erinnerte sich daran, Marx mit Moses Maimonides verglichen zu haben, dem mittelalterlichen jüdischen Rationalisten, dessen negative Theologie den atheistischen Mystiker Meister Eckhart beeinflußt hatte. Jenen Meister Eckhart, dessen Predigten Erich Fromm bis zu seinem Tod bei sich hatte, über die er und seine Frau meditierten.

Eines weiteren jüdischen Rationalisten Werk, des Neukantianers Hermann Cohen „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ beeindruckte Erich Fromm tief (schon in der Einleitung seines Buches lehnt Cohen den auf dem Lust-Unlust-Mechanismus beruhenden Materialismus ab, das „Lustprinzip“, wie er schreibt, das „Soll und Haben, Geben und Vergelten als Wesen des Menschen“). Ethik, so versteht es Erich Fromm, ist das Anliegen der jüdischen Religion, innerweltliche Ethik nach der Weise des Baruch Spinoza, jenes von der Synagoge Exkommunizierten, der Gott zur nichtanredbaren namenlosen Nichtperson gemacht hat (so Martin Buber). Fromm hielt viele Vorlesungen über die Ethik Spinozas.

Buddha & Kabbala

Die Lektüre des Buches von Georg Grimm „Die Lehre des Buddha. Die Religion der Vernunft und der Meditation“ überzeugte Fromm davon, daß es auch im Buddhismus um nicht viel anderes geht.

Einer von Fromms Lehrern, der Sozialist, Kabbalist, Talmudist Schneur Salman Rabinkov, führt seinen Schüler in die Geheimnisse chassidischer Mystik ein. Es handelt sich dabei um den sogenannten „Chabad-Chassidismus“, der rationalistisch getönt ist: Chabad ist ein Akrostikon für Chokmah, Binah, Daath, das sind jene drei obersten Sefiroth des Otz Chiim (des kabbalistischen Lebensbaumes), die bei der Schöpfung (= der Einflutung des göttlichen Lichtes in die „Gefäße“) nicht zerborsten und böse geworden sind. Sie entsprechen dem Haupt (= den drei Gehirnkavernen) des kosmischen Ur-Adam. Chokmah kann mit Weisheit (potentieller geistiger Energie), Binah mit Verstehen (geistiges Unterscheiden), Daath mit Erkenntnis (Logik, Ratio, sexuelles „Erkennen“) übersetzt werden.

Für andere Richtungen der Kabbala ist Daath freilich die elfte, zusätzlich zu den zehn regulären Sefiroth auf der Rückseite des Baumes angebrachte „falsche Sefirah“. Sie symbolisiert die Ausweglosigkeit des rationalistischen Denkens und muß beim mystischen Aufstieg überwunden werden.

Der Lebensbaum der Kabbalisten wächst von oben, vom Himmel über dem Kopf des Urmenschen herunter zum Körper mit dem Phallus, und nicht umgekehrt von der Erde aufwärts. Ein gutes Bild für die idealistischen Auffassungen Erich Fromms.

Die Freundschaft mit dem japanischen Zen-Professor Daisetz Teitaro Suzuki (von anderen Zenisten wegen dessen angeblich „unverständlichen Rationalismus“ mit Vorsicht bewertet) rundete die mystische Weltanschauung Fromms ab. Zen ist ja sehr verwandt mit Meister Eckhart, in den sich Fromm gerne versenkt hat (siehe dazu: Shizuteru Ueda: „Die Gottesgeburt der Seele und der Durchbruch zur Gottheit. Die mystische Anthropologie Meister Eckharts und ihre Konfrontation mit der Mystik des Zen-Buddhismus“, Gütersloh 1965).

Aus einer Fußnote zu Erich Fromms Schrift „Psychoanalyse und Zen-Buddhismus“ geht hervor, daß Fromm am Satori-Erlebnis (bescheidener „Kensho“ genannt) interessiert war, und dieses mit Buckes „kosmischem Bewußtsein“ in eins setzte (Richard R. Bucke: Cosmic Consciousness. A Study in the Evolution of the Human Mind, New York 1901).

Fromm lobte Bucke als einen „Psychiater von großem Wissen und großer Erfahrung“, einen „Sozialisten mit einem tiefen Glauben an die Notwendigkeit und Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft“ (Abschaffung des Eigentums = Befreiung der Erde von Reichtum und Armut), nach dessen Hypothese sich die Menschheit bereits an der Schwelle zu einem revolutionären Ereignis befindet, nämlich dem nicht nur animalischen und nicht bloßen Ichbewußtsein, sondern eben dem „kosmischen“.

Dieses besteht unter anderem in der „Aufhebung der Zeit”, dem felsenfesten Bewußtsein der Einheit mit dem All, und der Evidenz, das ewige Leben nicht dereinst zu erlangen, sondern es bereits zu besitzen, besser gesagt, es zu „sein“.

Mystiker des Abendlands

Diese Erlebnisse gibt es, wie mir mancher Acid-head bestätigen wird, tatsächlich (phänomenologisch unterscheiden sich höhere psychedelische Stufen in nichts von mystischen und Zen-Erlebnissen). Besonders beeindruckend für den, der das schon einmal mitgemacht hat, ist die unabweisbare Realität des Erlebten (erst einige Zeit nachher hebt die Kritik durch das Alltagsbewußtsein an).

Ist Erich Fromm hier in das Ghetto reiner Innerlichkeit geflüchtet? Kann man so „Entfremdung“ überwinden?

Fromm hat sich in den letzten Jahren seines Lebens mit noch einer anderen buddhistischen Meditationsmethode beschäftigt, die weniger dynamisch-ekstatisch ist als Zen, und mehr analytisch: mit dem in Birma und Sri Lanka gelehrten „Satipatthana“ (siehe: Nyanaponika: Geistestraining durch Achtsamkeit, Verlag Christiani, Konstanz 1970). Es geht dabei um Übungen reinen Beobachtens, die zu Geistesruhe und Wissensklarheit führen können. Das sieht schon besser aus.

Gerechterweise sei auch darauf hingewiesen, daß selbst Sigmund Freud nicht frei von all-einheitsmystischen Gelüsten war, auch wenn er diese abgewehrt hat, wie sein Nichtverstehen des „ozeanischen Gefühls“ zeigt. Freud war fasziniert und beunruhigt von „okkulten“ (heute würde man sagen parapsychologischen) Vorgängen, vor allem von telepathischen Kontakten, die sich gleichsam hinter dem Rücken der isolierten bürgerlichen Individuen herstellen, und so die Ahnung einer mitmenschlichen Verbundenheit aufkommen lassen, für die es in der bestehenden Gesellschaft keine „normale“ Form geben kann. (Adorno hat sich — im Rahmen der Friedrich-Hacker-Foundation — eingehend mit der Frage des Okkulten beschäftigt!)

Schließlich war Erich Fromm bis zuletzt politisch engagiert, als Berater amerikanischer Politiker, Initiator von Friedens- und Bürgerbewegungen, Mitglied der jugoslawischen „Praxis“-Gruppe, Programmentwerfer der Sozialistischen Partei der USA.

Was Fromms Gegner Herbert Marcuse in seinem letzten Vortrag (am 18. Mai 1979 in Frankfurt) von den heutigen „Kulturrevolutionären“ verlangt hatte, nämlich bei der notwendigen radikalen „Umwertung der Werte“ nicht aus Verzweiflung am Politischen eine Scheinpolitik der „ersten Person“ zu betreiben, sondern die „Erinnerung an Auschwitz“ festzuhalten, d.h. nicht „in schlechtem Sinne abstrakt“, sondern sehr konkret zu sein, das hat Erich Fromm bis zuletzt praktiziert: Durch nimmermüdes Warnen vor den Schwindeleien geschäftstüchtiger Mystifikatoren (östlicher und westlicher Gurus z.B.), vor den immer noch vorhandenen faschistischen Potentialen, durch Anprangern unserer gesellschaftlichen Malaise, die die Menschen krank („leicht chronisch schizophren“) macht.

Weiße Festung Industrie muß fallen

Fromm riß dem Zentralwert, dem Götzen „Erfolg“ die Maske des Glücks vom Gesicht, prophezeite der „weißen Festung“ der Industriegesellschaft (zu der er auch den Osten rechnete: „Staatskapitalismus im konservativen Stadium der Metternichzeit“), sie sei „nicht mehr uneinnehmbar“ (angesichts der Entwicklungen in der Dritten Welt), und klagte darüber, daß „keiner die Konsequenzen zieht, keiner Mut zum Neuen hat“, immer noch und immer wieder „die Wahrheit verdrängt“ wird.

Mag man seine Gedanken über „den Menschen“ beurteilen wie man will, in der Praxis hat Erich Fromm (wie Rainer Funk in Psychologie heute, Mai 1980 berichtet) gezeigt, was ein Mensch sein kann: in der Zärtlichkeit zu seiner Frau, in völlig nichtautoritärem Verhalten gegenüber seinen Gesprächspartnern.

Und, obwohl er die Wahrscheinlichkeit für einen guten, nicht katastrophalen Ausgang des Unternehmens Menschheit schon sehr gering einschätzte, erwähnte er doch die „ein bis zwei Prozent“, die „kleine Chance“, die wir vielleicht noch haben, rief dazu auf, sie zu nutzen.

[1Siehe Günther Nennings Nachruf: Kopfarbeiter aller Länder, vereinigt euch! FORVM September/Oktober 1979

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