Café Critique, Jahr 2004
Dezember
2004

Propaganda der Tat, Freiheit des Opfers

Gerhard Scheit über sein neues Buch Suicide Attack

Gerhard Scheit ist Autor verschiedener Bücher zum Antise­mitismus und Mitglied der Wiener Gruppe Café Critique. Soeben erscheint im ça ira-Verlag sein neues Buch: „Suicide Attack“ — Zur Kritik der politischen Gewalt. Phase 2 be­fragte Gerhard Scheit zu dem von ihm wiedereingeführten Begriff des „Rackets“ sowie zur politischen Dimension des Selbstmordattentats.

In dem Computerspiel „Zwölfter September“ geht es darum, Terroristen aufzuspüren und zu erschießen; trifft man dabei die Falschen, produziert man virtuell selbst immer mehr Attentäter. Dieser Spielmodus impliziert ein sehr naives, aber doch gängiges Erklärungsmuster für die Entstehung des vernichtenden Hasses, der im Selbstmord­attentat gipfelt — mehr Tote, mehr Leiden, mehr Verzweif­lung, mehr Attentate, noch mehr Tote — der Kampf gegen den Terror wird hier zum Multiplikator von suicide bombers. In der Realität scheint sich der religiöse Wahn der Islamis­ten ebenso auszubreiten, wie auch das Selbstmordattentat, zu dem sich unterschiedlichste religiöse Gruppen be­kennen, weltweite Konjunktur hat. Welche Ursachen lassen sich hierfür ausmachen und inwiefern handelt es sich bei dem Anstieg der letzten Jahre um ein notwendiges Ne­benprodukt des Anti-Terror-Kampfs?

Die Frage, die kein Computerspiel berücksichtigen kann: wer sind die Falschen, wer die Richtigen bzw. was heißt: richtig und falsch? Und es geht nicht um Kriminelle, sondern um die Formen politischer Gewalt. Die Frage nach „den Ursachen“ ist dabei immer in bestimmter Weise falsch gestellt: Ursache wäre doch immer das unwahre Ganze, sobald es auf eine einzelne oder mehrere einzelne „Ursachen“ reduziert wird – etwa „die Armut“ oder „den Westen“ – hat man es mit Abspaltung und Projektion zu tun, bei der zuletzt „die USA“ und „die Juden“ herauskommen können. Insofern jedoch als einzige Ursache das Ganze festgehalten wird, die Totalität des Kapitalverhältnisses, bleibt auch prinzipiell der einzelne für das, was er tut oder nicht tut, verantwortlich. Das schließt aber natürlich nicht aus, sobald man sich mit einem einzelnen Individuum und seinen Handlungen beschäftigt, also konkret mit einem Selbstmordattentäter, die Bedingungen seines Lebens und die Möglichkeiten seines Handeln genau zu untersuchen, um die je einzelne Tat zu beurteilen.

Der Selbstmordattentäter, der die Heideggersche „Freiheit des Opfers“ verwirklicht, ist die individuelle Vollendung des kollektiven Wahns. Inwieweit der einzelne Attentäter, die einzelne Attentäterin diesem „Idealtypus“ entspricht, nicht einfach nur von außen unmittelbar gezwungen oder sogar ferngezündet wird, kann nur im Einzelnen geklärt werden. Zunächst aber, und darum geht es in meinem Buch, muß der Idealtypus, besser gesagt die ideologische Form, in der das repressive Kollektiv heute Gestalt annimmt, herausgearbeitet werden – immer unter der Voraussetzung, daß der einzelne sie zu seiner eigenen Sache machen kann und dann dafür verantwortlich ist.

Darum widerspricht dieses Buch grundsätzlich einer Auffassung, wie sie etwa Moshe Zuckermann immer wieder kundtut: daß die Selbstmord-Attentäter unmittelbar durch die Notsituation zu ihren Taten getrieben werden, die Ideologie demgegenüber ganz zu vernachlässigen wäre. Das führt letztlich dazu, daß die Hamas mit einer jüdischen Widerstandsgruppe im Warschauer Getto gleichgesetzt wird.

In dem Video von Prince zu „Cinnamon Girl“ sprengt eine junge amerikanische Muslimin sich und viele andere Menschen auf dem New Yorker Flughafen in die Luft. Die mitgelieferte Erklärungen: Die Verzweiflung darü­ber, dass „ihre Leute“ für den islamistischen Terror ver­antwortlich gemacht werden und ein aus der Lüge gebore­ner Krieg begonnen wurde, ließ sie zur mitleidlosen Täterin werden. Das Selbstmordattentat ist scheinbar nur der in­tentionslose Freitod, der Mord an mehreren Menschen bleibt ungeachtet, was hängen bleibt ist die Faszination, der Kult des Attentats. In Deinem gleichnamigen Buch ver­suchst Du die politische Dimension der suicide attacks her­auszuarbeiten bzw. die im suicide bombing zutage treten­de politische Gewalt als ein bestimmtes Verhältnis von Tä­ter, Mittel und Opfer zu definieren. Bedeutet dies, das Selbstmordattentat sollte als Form politischer Vermittlung, als Propaganda der Tat verstanden werden?

Das Video von Prince, das ich nicht kenne, inszeniert offenbar genau diese Ideologie, die neben vielen anderen auch Zuckermann vertritt und gegen die sich mein Buch wendet. Philosophisch gesehen gilt es gerade, den Gegensatz zwischen Freitod und Selbstmord-Attentat festzuhalten; politisch betrachtet handelt es sich allerdings um den Kampf gegen die totale Repression, die alle Vermittlung aufheben möchte – zu dem einzigen Zweck, im Selbstopfer für einen realen oder imaginären Staat möglichst viele Menschen zu töten. Dieser Wahn bestimmt aber nun nicht nur die wirkliche Tat der Märtyrer, sondern das Alltagsleben jedes einzelnen und insbesondere die Sexualmoral: Sharia ist die Bezeichnung für das gelebte Selbstopfer, die Aufhebung der Rechtsverhältnisse, die sogar innerhalb des Rechtsstaats möglich ist. Denn wenn die Bereitschaft, sich selbst zu opfern, die letzte Bestätigung ist, den pathischen Projektionen endlich vollständig zu willfahren und den längst gewollten Massenmord in die Tat umzusetzen, dann verliert auch das Recht seine Wirksamkeit: kein Gesetz wird den, der den Märtyrern wirklich nacheifert, beeindrucken, wenn er an seiner Schwester oder Frau, die anders leben möchte, den sogenannten Ehrenmord vollstreckt.

Deine Analyse stellt dem Selbstmordattentat, als neue Form der politischen Gewalt, das (Selbstmord-) Racket als politische Einheit zur Seite. Welchen gesell­schaftlichen Zustand kennzeichnet das Racket und in welchem Verhältnis steht es zu Staat und Individuum?

Da muß ich etwas weiter ausholen: Racket ist der Begriff der Kritischen Theorie für die, von Carl Schmitt affirmierte, „nicht abgeleitete“ Macht, die – auch inmitten des Rechtsstaats – ein ‚außerrechtliches‘ Leben führt, das man allerdings während des normalen Funktionierens des Rechtsstaats gerne vernachlässigt. Aber dieser Begriff ist im Unterschied zu Carl Schmitt vom Individuum aus gedacht, und er zielt immer auf ein bestimmtes Problem: die Fortexistenz oder Rekonstruktion persönlicher Abhängigkeit unter den Bedingungen von Rechts- und Kapitalverhältnis, also unter Bedingungen, die doch, sollte man meinen, von solcher Abhängigkeit prinzipiell befreien. Er realisiert den alten Einwand von Marx gegen die bürgerlichen Ökonomen, daß nämlich „das Recht des Stärkeren unter andrer Form auch in ihrem ‚Rechtsstaat‘ fortlebt“. Dieser Einwand war um 1940 offenbar überzeugender denn je, und so ist Horkheimer nicht der erste gewesen, der den Begriff des Rackets verallgemeinerte: In der Sprache der amerikanischen Juristen wurden damit üblicherweise Praktiken bezeichnet, „die auf physischer Gewalt und ihrer Anwendung bei gewerblichen Konflikten und ähnlich anstößigen Methoden beruhen“.

Die Kritische Theorie hat sich seit den vierziger Jahren sehr weit von der Formulierung einer Theorie des Staats entfernt, und die immer wieder aufgenommene Formel vom Racket erscheint auf den ersten Blick wie ein Surrogat. Damit wird jedoch zugleich etwas von einer realen Entwicklung erfaßt, die den Staat in den Individuen selbst auf neue Weise verankert – einer Entwicklung, die der üblichen Staatstheorie entgehen muß, soweit man gewissermaßen nur von oben nach unten denken kann, von den Institutionen und Eliten des Staats auf die Situation und das Bewußtsein der Bevölkerung schließt. Der kritische Begriff des Racket ermöglicht die Kritik des Souveräns aus der Perspektive des einzelnen, isolierten Individuums. Die Allgegenwart des Staats erscheint als Allgegenwart der Rackets – von der familialen Konstellation im Privaten bis zum System der Arbeitsteilung in der Produktion.

Existieren die Rackets auch fort innerhalb von kapitalistischer Warenproduktion und moderner Rechtsstaatlichkeit, so sind sie hier zugleich in ihrem Wirkungskreis eingeschränkt. In diesem Sinn hat Horkheimer – gerade als er den Begriff des Rackets einführte – das Recht in der bürgerlichen Gesellschaft verstanden und verteidigt: indem es wie andere Vermittlungen, eigene Natur und Resistenzkraft gewinnt, erlaubt es, von der bestimmten Person abzusehen, zu abstrahieren. Ist es auch das Mittel der Herrschaft, so setzt es sich ihr zugleich entgegen als die Reflexion, an der sie sich entlarvt!

Diese Vermittlungen zu verteidigen, heißt noch nicht „wahre Allgemeinheit“, Versöhnung des Allgemeinen und Besonderen; heißt zunächst nur: Verteidigung der Voraussetzungen, daß diese Versöhnung und Allgemeinheit einmal wahr werde.

Diese Vermittlungen mußten gegen den Nationalsozialismus verteidigt werden, und sie müssen heute gegen den Jihadismus verteidigt werden. Der Racket-Begriff erlaubt es, ihre Gemeinsamkeiten zu erkennen und zugleich zwischen der politischen Gewalt deutscher und islamistischer Provenienz zu unterscheiden. Der Nationalsozialismus, der auf der einen Seite als ein monolithisch strukturiertes „Staatssubjekt Kapital“ hervortritt (um mit Heinz Langerhans zu sprechen), als ein vollkommen integriertes und alles integrierendes Gebilde totaler Durchstaatlichung, entpuppt sich auf der anderen Seite als in sich vollkommen Zerfallenes, als ein „Unstaat“ und „Chaos“ (wie das Franz Neumann nannte), worin die Rackets in unablässigem Konkurrenzkampf die Vernichtung vorantreiben. Im Suicide bombing kulminiert hingegen eine politische Gewalt, die jenes integrierte Staatssubjekt fast völlig entbehrt. Zerfall, Unstaat und Chaos treten offen hervor, aber es erhält sich dennoch politische Identität, die eben nirgends so deutlich wird, wie am Selbstmord-Attentat, auf das keine bloß kriminelle Bande je verfällt. Sie wird allerdings in privatisierter Form zur Geltung gebracht.

Als eines der wichtigsten Merkmale des Selbstmord-Rackets stellst Du die Ablösung der Vernichtungsmission des Nationalsozialismus durch den politischen Islamismus in privatisierte Form heraus. Welcher Logik, wie Du es nennst, folgt diese Ablösung und als was ist sie zu ver­stehen: Kostümwechsel des eliminatorischen Antisemitis­mus und oder das Fortleben deutscher Ideologie?

Die Bezeichnung Ablösung scheint mir, was die Übergänge zwischen deutscher Ideologie und jihadistischer Gewalt betrifft, etwas irreführend. Der Zusammenhang mit dem Ort, von dem Vernichtung als die Sache, die um ihrer selbst willen betrieben wird, einmal ausgegangen ist, bleibt ja bestehen – und auf diesen Zusammenhang kommt es mir in dem Buch an: War noch das Reich des Nationalsozialismus Staat und Unstaat, totale Herrschaft und Anarchie in einem, so ist dieses paradoxe innere Verhältnis heute nach dem Maßstab des „Großraums“ diversifiziert. In Deutschland und „Kerneuropa“ antiamerikanische Friedensmärsche, postfaschistischer Rechtsstaat und reguläre Souveränität, d. h. zensierter Judenhaß; im Nahen und Mittleren Osten irreguläre Märtyreroperationen, Diktatur bzw. Sharia und entfesselter antisemitischer Wahn.

Du sprichst außerdem von dem „schleichen­den Charakter“ des Selbstmord-Attentats und sagst es sei falsch, davon auszugehen eine mögliche Wiederholung von Auschwitz würde in derselben Form stattfinden. Du deutest also eine qualitative Gleichwertigkeit beider Ver­nichtungspotentiale an. Ist die häppchenweise Vernich­tung der Juden also schon in vollem Gange?

Das Problem ist, daß Vernichtung nicht mit dem Adjektiv „häppchenweise“ ausgesprochen werden kann. Es ist, also ob man „Alarmismus“ durch Verniedlichung in Schach halten wollte und umgekehrt. Die Lage ist so zugespitzt und zugleich so unübersichtlich, daß die sprachliche Formulierung wirklich schwierig wird. Ich würde es so versuchen: Die Möglichkeit, daß Auschwitz sich wiederholt, ist bereits in der Logik des Selbstmord-Attentats erkennbar. Solange Israel sich erfolgreich zur Wehr setzen kann und die USA als Hegemon nicht scheitern, wird diese Möglichkeit nicht realisiert werden.

Der Gegensatz zwischen Deutschland und dem Westen scheint nunmehr in Kerneuropa aufgehoben zu sein, mehr noch, Du sprichst von einem arbeitsteiligen Verhältnis zwischen europäischer Friedensdiplomatie und islamistischer Gewalt. Handelt es sich hierbei also um zwei Seiten derselben Medaille, deren gemeinsame politische Vollendung die Judenvernichtung ist?

Die „politische“ Arbeitsteilung ist nicht wirklich geplant, sie setzt sich unwillkürlich durch und hat etwas Ungreifbares. Habermas ist für diese „neue Unübersichtlichkeit“ eines der besten Beispiele: er predigt die „Verrechtlichung der internationalen Beziehungen“ und empfiehlt gleichsam unter der Hand Ted Honderichs Buch zur Legitimierung des Selbstmord-Attentats dem Suhrkamp-Verlag. Aber natürlich bietet in dieser Hinsicht auch die vielgestaltige Tätigkeit des deutschen Außenministeriums zahlreiche ähnliche Beispiele.

Worauf zielt in diesem Zusammenhang die europäische Forderung nach der Verrechtlichung der inter­nationalen Beziehungen im Sinne des so genannten Völ­kerrechts ab und welche Konsequenzen könnte die Durchsetzung europäischer Politik bezüglich gegenwärtiger Konflikte haben?

Das scheint mir die zentrale Frage zu sein, um über die „Arbeitsteilung“ im „Großraum Europa“ aufzuklären. Wenn hier ununterbrochen von der Verrechtlichung der internationalen Beziehungen geschwätzt wird, dann wird so getan, als ob es in der Welt von Staat und Kapital Recht ohne Souverän geben könnte. Die Europäische Union erscheint dabei nachgerade als ein einziger gigantischer ideologischer Apparat zur Verdrängung des nationalen Souveräns – wie die UNO als ein solcher zur Fetischisierung des internationalen Rechts. Damit werden die antiamerikanischen und antiisraelischen Ressentiments auf ganz demokratische Weise geschürt. Die Kantsche Vision vom ewigen Frieden bringt man nebenher um ihren utopischen Gehalt – setzt sie doch, bei ihrem eigenen Widerspruch genommen, die Aufhebung von Staatlichkeit voraus – und wendet sie – solchermaßen auf den Habermas heruntergebracht – gegen die souverän handelnden Staaten Israel und die USA: Wären nur beide entmachtet oder noch besser: gäbe es jenen gar nicht mehr, die Verrechtlichung wäre vollendet und der ewige Frieden erreicht, ohne Kapital und Staat auch nur anzutasten.

Nun ist aber für den, der noch bei Verstand ist und die Einsichten von Hobbes und Hegel nicht verachtet, zwischen Recht innerhalb eines Staates und internationalem Recht, also Recht zwischen Staaten, strikt zu unterscheiden. Letzteres ist überhaupt kein wirkliches Recht, sondern besteht im Grunde nur aus Konventionen und Abkommen zwischen Staaten; es wird, im Unterschied zum Recht innerhalb eines Staates, durch keinen Souverän garantiert, da es keinen Weltsouverän, der das Gewaltmonopol besäße, geben kann. Stattdessen herrscht zwischen den Staaten der Zustand wechselseitiger Bedrohung und Abschreckung, der unter Umständen Verträge und die Einhaltung von Konventionen garantieren kann, aber nur wenn die Konstellation der Staaten, also der Gewaltverhältnisse, gerade günstig ausbalanciert ist. Die UNO ist natürlich nichts anderes, als die bloße Resultante wechselseitiger Bedrohung, hervorgegangen aus dem „Kriegsbündnis“ gegen Deutschland. Sie wird aber heute mehr denn je verklärt als Rechtsinstitut der Welt, dem es nur ums reine Recht als einer von allen Interessen freien Substanz ginge.

Hier nun manifestiert sich die neuere deutsche Ideologie, die wieder die Sache um ihrer selbst willen betreibt. Volksgemeinschaft besteht in der Vernichtung der „Anderen“, letztlich der Juden, auf die alles, was als anders erscheint, projiziert wird. So wenig die USA je eine solche Gemeinschaft waren, so sehr entspricht die neuere Politik Deutschlands einer Volksgemeinschaft, die unter Zwang und von außen demokratisiert worden ist. Das zeigt sich in deren bis zuletzt gewahrter Zweideutigkeit gegenüber dem irakischen Baath-Regime, mit der Wahlen zu gewinnen waren. Und dazu gehört, daß man tut, als wären individuelle Bürgerrechte ohne das Recht des Stärkeren zu haben – um gerade mit dieser Argumentation aus der Position des Schwächeren herauszukommen. Aber zugleich wird so eine Politik verschleiert, der es nicht einfach um dasselbe Recht des Stärkeren geht, also – wie so viele europa- und deutschlandkritische Linke meinen – um einen einfachen politischen Konkurrenzkampf mit den USA. Das wiederum läßt sich dadurch erkennen, wie das Recht des Schwächeren in extremis aufgefaßt wird: Selbstmord-Attentate gelten der Diplomatie und der Öffentlichkeit – unausgesprochen oder unverhohlen – als eine Form der Mitbestimmung in der internationalen Politik, und sie sind ja auch wirklich der zeitgemäße Inbegriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Auf diese ganz besonders perfide Art taucht hier wieder auf, was in der Gestalt des Souveräns ideologisch verdrängt worden ist: das Politische als Bereitschaft zum Nichts.

Dem gegenüber stellst Du, Max Horkheimer folgend, die bürgerliche Rechtsordnung einerseits als Art Relativierung der Machtverhältnisse zwischen den Ra­ckets dar; andererseits das hieraus entstehende Rechtsbewusstsein, das in die Lage versetzt, unterschiedliche Machtverhältnisse, die nicht vom Recht abgeleitet sind, zu reflektieren und die Möglichkeit dieser zu kritisieren. Verlässlicher Garant dieses Rechtsverhältnisses und bürger­licher Rationalität ist die verbliebene Supermacht USA. Wie ist die Gefahr einzuschätzen, dass der „Kampf gegen den Terror“ und die geforderte Exekutive des Souveräns zum Selbstzweck, zum Nichtidentischen der Rechtsverhältnis­se wird und wie ist dem kritisch entgegenzutreten?

Um Mißverständnisse zu vermeiden: Die USA sind nicht und können nicht wirklich der Weltsouverän sein, der das internationale Recht garantierte. Hannah Arendt und viele, im übrigen vernünftige Leute hatten und haben diese Illusion. Es kann jedoch keinen Weltsouverän, d. h. kein Gewaltmonopol über die Welt geben, weil die Staaten zueinander in einem anderen Verhältnis stehen als die Bürger innerhalb eines Staats. Die falsche Analogie des internationalen Rechts zum Staatsrecht verdient allerdings wirklich den deutschen Namen Völkerrecht: Staaten werden dank ihrer nämlich ganz automatisch zu Völkern, da keiner mehr fragen muß, was einen Staat denn konstituiert. In meinem Buch versuche ich das weiter auszuführen.

Die USA also können nicht Weltsouverän sein, sie können aber Hegemon sein, mächtigster Staat unter den Staaten, und als solcher in einzelnen Ländern, wenn es mit ihren Interessen übereinstimmt, Rechtsverhältnisse zu etablieren versuchen und andere Staaten dazu zwingen, internationale Verträge und Konventionen einzuhalten. Innerhalb des Staates kann (muß aber nicht) die Herrschaft der Rackets relativiert, der „Naturzustand“ (wie Hegel die Gewaltverhältnisse zwischen den Staaten nennt) in Rechtszustand verwandelt werden, dafür steht die ausgeprägt westliche, die amerikanische Gesellschaft; zwischen den Staaten ist das nicht möglich. Das heißt aber auch: die Verläßlichkeit der USA als Garant der internationalen Verträge und Konventionen wie auch der Rechtsverhältnisse innerhalb anderer Staaten, hängt nicht einmal allein von den USA ab. Die Konstellation nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ermöglichte durch die Konfrontation der beiden „Supermächte“ immer wieder, daß Verträge eingehalten wurden und Rationalität in diesem bürgerlichen Sinn sich behauptete. Das ist mit dem Ende des Kalten Kriegs vorbei. Was heißt es, mit der Hamas oder dem Iran Verträge abzuschließen? Das ist so sinnvoll wie mit Nazideutschland, ohne daß ich damit das hier bereits vorhandene Vernichtungspotential mit dem Nazideutschlands schon gleichsetzen möchte. Die Rackets können jedenfalls im internationalen Raum zunehmend ungehindert agieren, und Deutschland ist ihre heimliche Schutzmacht. Gradmesser der Verläßlichkeit dessen, der als Hegemon und kraft einer bestimmten westlichen Einstellung zum Recht für Vernunft im unvernünftigen Ganzen steht, ist die Unterstützung Israels. Da es in den USA eben eine andere Einstellung zum Recht und damit zum Souverän gibt, was mit der Konstituierung als Einwanderungsland zu tun hat, reicht diese Unterstützung über ein rein taktisches Bündnis hinaus.

Die US-Politik übernimmt angesichts dieser im Suicide bombing entfesselten Rackets eine Art Sisyphos-Arbeit: der Stein rollt immer wieder herunter, denn die Arbeit kann den Bann nicht brechen, der alles zum Schlechten verhält; sie kann nur das Schlimmste verhindern. (Sisyphos hat davon selbst manchmal eine Ahnung: der „Krieg gegen den Terror“ könne eigentlich nicht gewonnen werden!) Den „mythischen“ Zusammenhang selber beseitigen, das kann natürlich kein Staat.

Erweiterte Fassung eines zuerst in Phase 2, Dezember 2004, erschienenen Interviews