ZOOM 1/1996
Januar
1996

Ost-West-Dimension splittert Skandinavien

Im Schatten des kalten Krieges haben die nordischen Staaten seit den fünfziger Jahren eine enge regionale Zusammenarbeit aufgebaut. Dazu gehören ein gemeinsamer Arbeitsmarkt und eine Paßunion. Doch mit dem Ausbau dieser Kooperation auf die europäische Ebene tun sich die SkandinavierInnen schwer: An der Frage der EU-Angehörigkeit, der Teilnahme an der Währungsunion und des Schengener Abkommens scheiden sich die Geister.

Gut 25 Millionen Menschen leben im nordischen Raum, zu welchem neben den fünf Staaten Finnland, Schweden, Dänemark, Norwegen und Island auch die autonomen Länder Åaland (unter Finnland), Färöer und Grönland (unter Dänemark) gerechnet werden. In dieser weitläufigen Region – Finnland und Grönland trennen fast 5000 km, und von Kopenhagen nach Longyearbyen (auf Svålbard) sind es 3500 km – wurde 1952 der Nordische Rat (NR) gegründet. Angesichts der internationalen Blockierungen und Blockbildungen, die der kalte Krieg mit sich führte, konzentrierten sich die nordischen Staaten in ihrer Zusammenarbeit auf „innenpolitische“ Themen. Mit einigem Erfolg: Seit über 40 Jahren können sich die SkandinavierInnen in ihrer Region als Arbeitende, Reisende und Sozialbeitragsberechtigte frei bewegen. Zudem hat der NR die kulturelle Identität der Region durch die Schaffung gemeinsamer Institutionen gefördert.

Grönland: Leben außerhalb der EU

Handlungsprogramm für EU-Reform

Außen- und sicherheitspolitisch gingen die ehemaligen skandinavischen Kriegsgegner – Schweden und Dänemark machten sich als regionale Großmächte jahrhundertelang die Territorien streitig – jedoch auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts getrennte Wege. Dänemark, Norwegen und Island schlossen sich dem nordatlantischen Militärbündnis NATO an; Schweden wählte die schwerbewaffnete Neutralität und Finnland unterzeichnete einen Beistandspakt mit Moskau. Erst nach einer Staatsvertragsänderung vor drei Jahren wurde es überhaupt möglich, im Rahmen des NR außenpolitische Fragen anzugehen. An der Frage der EU-Mitgliedschaft haben sich in den vergangenen Jahren jedoch die Geister geschieden. Dänemark trat der Union bereits 1973 nach einer Volksabstimmung (63 % Ja) bei. Davon wollten jedoch die mit Kopenhagen verbundenen autonomen Färöer (verzichtete auf Beitritt) und Grönland (trat 1982 aus der EG aus) nichts wissen. Norwegens Bevölkerung hatte den Beitritt 1972 (53,5 % Nein) abgelehnt. Nach 1989 wurde die EU-Frage von den Regierungen in ganz Skandinavien erneut auf die Tagesordnung gesetzt: Die Finnen stimmten dem Beitritt schlielich (57 % Ja) am 16.10., die Schweden (52 % Ja) am 13.11. und die Åaländer (65 % Ja) am 20.11.94 zu. In Norwegen blieben die BürgerInnen eine Woche später bei ihrem Nein (52 %). Zusammen mit Island gehört Norwegen seit dem 1. Januar 1994 dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) an, ist also dazu verpflichtet, die EU-Erlässe zu übernehmen.

Neue Europadebatte unerwünscht

Die hitzigen Diskussionen rund um das Verhältnis zur EU haben in Skandinavien neue Konfliktlinien an den Tag gebracht. Große Minderheiten (in Norwegen eine Mehrheit) sprachen sich 1994 gegen die Mitgliedschaft aus. Viele befürchten eine Schwächung der Demokratie und des nordischen Wohlfahrtsstaatsmodells. Eine Schwächung, die jedoch weniger mit der EU als solche, als mit der Globalisierung der Wirtschaft und der Anpassungspolitik der eigenen Regierungen zu tun hat. Führende Politiker von Kopenhagen bis Helsinki versuchen gleichzeitig im Zusammenhang mit der EU-Regierungskonferenz, die am 29. März in Turin eröffnet wird und mindestens ein Jahr andauern wird, neue intensive Debatten im Innern zu verhindern.

Ausgeblendete Positionen

Hervorgehoben werden deshalb unumstrittene typisch nordische Fragen wie die Osterweiterung der Union (einschließlich der baltischen Staaten), die Stärkung der EU-Entscheidungskompetenzen in Umweltfragen und die Einführung eines Öffentlichkeitsprinzips nach schwedischem Vorbild. Zudem werden umfassende Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – die z. B. in Finnland bei fast 20 % liegt – verlangt. Hingegen werden die eigenen Absichten in bezug auf die notwendigen institutionellen Reformen soweit wie möglich ausgeblendet. „Die EU ist und bleibt eine zwischenstaatliche Form der Zusammenarbeit“, lautet der offizielle Tenor.

An einer Sondersession des Nordischen Rats zur Regierungskonferenz in Kopenhagen waren Mitte März nur BefürworterInnen als EinführungsrednerInnen eingeladen. Für den dänischen EU-Parlamentarier und Unionsgegner Ole Krarup war dies Beweis genug, daß sich Skandinavien nun endgültig der EU unterworfen hat. Aber auch zwischen den einzelnen nordischen Staaten wurden markante Unterschiede deutlich: „Die Handlungskraft der EU ist uns wichtiger als das Vetorecht eines jeden Landes“, erklärte der finnische Europaminister Ole Norrback. Finnland sieht auch kein Problem in der Stärkung der gemeinsamen EU-Sicherheitspolitik. Das früher offiziell neutrale Land hat sich nach der Auflösung des Beistandpakts mit Moskau radikal nach Westen hin umorientiert. Anders die Lage in Schweden und Dänemark: hier wird an der bisherigen sicherheitspolitischen Anknüpfung (Dänemark–NATO) respektive Nicht-Anknüpfung (Schweden–neutral) festgehalten.

Ostsee: Leben in der EU

(K)eine eigenständige EU-Demokratie?

Bedeutend positiver als seine nordischen EU-Nachbarn schätzt Helsinki auch die Aussichten auf Einführung und Teilnahme an der geplanten Währungsunion ein. In dieser Frage hat sich Dänemark durch das Edinburgher Abkommen 1992 ausgeklinkt; in Schweden hat der neue sozialdemokratische Regierungschef Göran Persson betont, daß das letzte Wort in dieser Frage beim Parlament liegt. EU-kritische Kreise fordern jedoch eine Volksabstimmung.

Wenig nordische Unterstützung dürfte bei der Regierungskonferenz die Forderung erhalten, die EU mit einer eigenständigen demokratischen Legitimation zu versehen, zum Beispiel durch die Stärkung des Europäischen Parlaments und die Einleitung eines Verfassungsprozesses. Davon halten auch jene Organisationen nichts, die sich in den Abstimmungskämpfen gegen den Beitritt eingesetzt haben. Im Gegenteil: Viele fordern eine Renationalisierung mancher Politikbereiche.

Neue Prioritäten an Ost- und Nordsee

Enttäuscht zog die halbe norwegische Regierung – elf MinisterInnen – wieder aus Kopenhagen ab. Sie hatten gehofft, im Rahmen des Nordischen Rats die EU-Reformarbeit doch noch mitbeeinflussen zu können. Nun will Oslo indirekt – über die Unterzeichnung des Schengener Abkommens – ein Bein in die Union setzen. Am 18. April fällt in Brüssel die Entscheidung, ob die beiden nordischen EWR-Staaten dem Abkommen beitreten können, daß zu einer Abschaffung der internen Paßkontrollen führen soll. Die drei anderen nordischen Staaten bezeichneten die Teilnahme Norwegens und Islands als Voraussetzung für ihr eigenes Mittun.

Das Kopenhagener NR-Treffen zeigte aber auch, daß der nordische Raum zunehmend in einen östlichen – EU-Mitglieder, Ostseeanrainer – und einen westlichen – Nicht-EU-Mitglieder, Nordseeanrainer – aufgeteilt wird. Im Osten steht dabei die friedliche Überwindung des ehemaligen Eisernen Vorhangs im Vordergrund. Am 3. und 4. Mai findet dazu auf der Insel Gotland ein Gipfeltreffen der Regierungschefs aus neun Ostseestaaten statt. Angemeldet hat sich auch EU-Kommissionspräsident Jacques Santer.

Im Westen haben Norwegen, die Färöer, Island und Grönland eine „West-Nord“-Zusammenarbeit eingeleitet: Die Verwaltung der Meeresressourcen (Fisch, Öl, Gas) ist hier das Haupt(streit)thema. „Die unausgereifte und zuwenig unsere nationalen Bedürfnisse berücksichtigende Fischereipolitik der EU schließt“, ist die frühere färöische Ministerpräsidentin Marita Petersen gegenüber ZOOM überzeugt, „eine EU-Mitgliedschaft der westnordischen Länder bis auf weiteres aus“.

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