„Nie wieder ich!“
Es wäre falsch, die Erforschung und die Analyse des Phänomens Antisemitismus in eine Richtung zu leiten, die einfache Schlüsse à la „was einmal war wird immer sein“ zulässt und das Neue auf das Alte reduziert um am Ende festzustellen, dass der Judenhass, wenn er auch manchmal vor sich hinzuschlummern scheint, doch auf immer und ewig Bestand habe und unveränderlich sei. Treffender und intelligenter ist der Versuch, verschiedene Erscheinungsformen näher zu betrachten, die Quellen, aus denen der Antisemitismus sich in jedem historischen Moment speist, offen zu legen, die Veränderungen und Mutationen dieses Jahrtausende alten Hasses zu erkennen, sowie die Grundzüge, Unterschiede, und spezifischen Eigenschaften des heutigen Antisemitismus im Vergleich zu dem anderer Epochen zu verstehen. Der Verdienst des kleinen aber beeindruckenden Buches von Alain Finkielkraut Au nom de l’Autre. Réflexions sur l’antisémitisme qui vient besteht in seinem eindringlichen Appell und in der Erklärung, warum der heutige Antisemitismus nicht mit jenem vor 60 Jahren vergleichbar ist und warum es sich bei den heutigen Ereignissen um andere handelt als zu früheren Zeiten. Gleichzeitig demaskiert er den antisemitischen Diskurs, der sich zu Beginn des XXI. Jahrhundersts hinter der Fassade des Antirassismus verbirgt.
Finkielkraut identifiziert den aktuellen Antisemitismus in Europa als einen antirassistischen, es handle sich hierbei um einen Antisemitismus im Namen des „Anderen“, des „Fremden“. Finkielkrauts These beruht u.a. auf der grundlegenden Differenz zwischen den USA und Europa bezüglich deren Haltung zum Zweiten Weltkrieg. Während die Vereinigten Staaten von Amerika die Sieger sind, übernimmt Europa gleich drei Rollen: Sieger, Opfer und Täter. Deshalb nährt die Erinnerung an Krieg und Shoah gleichzeitig den US-amerikanischen Patriotismus sowie die Verachtung Europas gegenüber seiner eigenen zentralen Stellung. Somit besteht das einigende Merkmal des heutigen Europas in der Ablehnung von Krieg, seiner Hegemonie, dem Antisemitismus und aller Desaster, die aus dem eigenen Schoße krochen. Europa wiederholt inständig: „Nie wieder ich!“ und opfert sich auf dem Altar der eigenen Bestimmung. Während die USA versuchen, ihre Feinde zu besiegen, bekämpft Europa die eigenen Gespenster.
Ab diesem Punkt werden die Juden und Jüdinnen nicht mehr beschuldigt die französische Identität zu unterwandern, sondern den PalästinenserInnen Leid „im Namen des Anderen“ zuzufügen. Nostalgisch wird nun der kosmopolitische Jude vermisst und den Juden vorgeworfen „sich in uns eingefügt zu haben, gerade als wir uns selbst aufgaben“. Die Juden, diese erfahrenen NomadInnen, sind nicht mehr schuld am Versuch Europas Wurzeln zu zersetzen, viel eher bedauert man nun, dass dieses Volk sich nicht der allgemeinen Reue anschloss, die Europa dazu brachte, seine universellen Prinzipien über jene der territorialen Souveränität zu stellen. Somit meint das neue antisemitische Argument — verwendet im Namen des Anderen — dass der Jude der einzige sei, der im Gegensatz zu allen anderen, niemals vom Nazi ahnt, der ihm innewohnt. Juden empfinden also keine Verpflichtung bezüglich Wiedergutmachung oder Erinnern. Trunken mit ihrer Kraft und ihrer nationalen Souveränität seien sie das Über-Ich der Alten Welt, verabsäumten es jedoch, ihr eigenes Ich zu entwickeln.
Ebenfalls brillant ist Finkielkrauts Unterscheidung zwischen dem „Feind“ und dem „Anderen“. In ihrer Sicht des israelisch-palästinensischen Konflikts ersetzen weite Teile der französischen und europäischen Linken die Figur des „Feindes“ durch die des „Anderen“. So betrachtet sind die PalästinenserInnen nicht mehr die FeindInnen der Israelis, sondern ihr Anderes. Und während der Krieg gegen deinen Feind eine menschliche Wahl ist, wird der Krieg gegen den „Anderen“ zum Verbrechen gegen die Menschheit. Im ersten Fall ist der Ursprung des Konflikts ein politischer, der mit gewissen Kompromissen lösbar ist; im zweiten Fall handelt es sich um Rassismus und jede Art von Rassismus muss ausgelöscht werden. Die verzerrt antirassistische Sicht auf den israelisch-palästinensischen Konflikt nährt sich aus der Scham der Vergangenheit und mündet, so der jüdisch-französische Philosoph, in den Neuen Antisemitismus des beginnenden XXI. Jahrhunderts.
Alain Finkielkraut: Au nom de l’Autre. Réflexions sur l’antisémitisme qui vient. Editions Gallimard: Paris 2003, 40 Seiten, Euro 5,50.