Streifzüge, Heft 78
April
2020

Massen in Haft

Social Distancing darf bereits jetzt als Unwort des Jahres gelten. Soziale Kontakte reduzieren! Bleiben Sie zu Hause! Alles und alle rundum hochansteckend, wird seitens der Regierung suggeriert und mittels schwindeliger Kurven allabendlich noch dem letzten skeptischen Widerborst eingebläut. Die Schreckensszenarien (und die echten Katastrophenbilder) zeigen Wirkung. Mund-Nasen-Schutz ist auf den Straßen mittlerweile omnipräsent. In den Geschäften, da wo die Maske verpflichtend ist, führt das allerdings eher dazu, dass eins die anderen gar nicht mehr als Menschen wahrnimmt, allenfalls als Hindernis, und gegebenenfalls den Ellenbogen zum Einsatz bringt. Draußen wechseln die Leute ohnehin ab einer Distanz von zehn Metern die Straßenseite.

Das Gegenüber wird im Wortsinn gesichtslos. Potentiell sind das ja alles Überträger, an denen will eins nicht anstreifen. Selbst-Isolation wird zur „Neuen Normalität“. Einzelhaft (noch gesteigert: im Kleinfamilienverband) für alle! Die, die uns sonst noch lieb sind, sind aufgrund von Maßnahmen der Bundesregierung zu meiden. Maßnahmen auf der Basis eines Gesetzestextes, beinahe gleichlautend mit dem „Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz“ aus dem Jahr 1917. „Sie werden sich noch wundern, was alles geht“, sagte vor nicht zu langer Zeit ein hiesiger Bundespräsidentschaftskandidat. Heute wundert sich offenbar niemand mehr. Wohl wird von einigen Romantikern ein Bild neuer Solidarität – Stichwort: Nachbarschaftshilfe – gezeichnet, aber was da vor uns und mit unser aller Beteiligung abläuft, ist ein regelrechter misanthropischer Schub, garniert mit einem ordentlichen Schuss Mysophobie.

Giorgio Agamben schrieb Anfang März in der Neuen Zürcher: „Was die Maßnahmen der sozialen Distanzierung und der Panik geschaffen haben, ist gewiss eine Masse – eine sozusagen verkehrte Masse, die aus Individuen gebildet wird, die sich um jeden Preis wechselseitig auf Distanz halten. Eine nicht dichte, sondern verdünnte Masse, die aber dennoch eine Masse bleibt.“ Und weiter, mit Verweis auf Elias Canetti, „eine verdünnte, auf einem Verbot gegründete Masse, die gerade deswegen besonders kompakt und passiv ist“.

Immerhin erlauben die Ausgangsbeschränkungen „sich die Beine zu vertreten“, freilich nur „alleine, mit Personen, die im gemeinsamen Haushalt leben, oder mit Haustieren“. Ich persönlich bin ja chronisch distanziert, und so gesehen vielleicht ein Stück weniger belastet. Abstand halten ist mir auch ganz ohne virale Bedrohung durchaus Bedürfnis. Ein Tag, an dem ich weniger als 20 Stunden für mich alleine habe, ist tendenziell kein guter. Und wenn mir neuerdings die Laufanfänger bei meiner vormittäglichen Runde in den Nacken hecheln, macht das wenig Freude. Es werden ja immer mehr, auch in meiner Gegend. Zumal die Bundesregierung, in der ihr eigenen Weisheit, einen Großteil der innerstädtischen Grünflächen über Wochen zur Sperrzone erklärt hat. So ein Aufenthalt an der frischen Luft ist ja bekanntermaßen Gift für das Immunsystem. Allfällige Wiener Renitenz muss, so die Losung des Landwirtschaftministeriums, im Keim erstickt werden.

Mehrheitlich fügt sich die Bevölkerung geradezu enthusiasmiert in die staatlich verordnete Entmündigung. Kaum eine Einschränkung kann streng genug sein. Zuwiderhandeln muss drakonisch abgestraft werden. Das kann dann schon mal tausend Euro ausmachen, wenn zum Beispiel einer und eine auf einer Parkbank sitzen und gemeinsam Kaffee trinken. Da wird Leben gefährdet! Wenn dagegen aus Tirol das Virus nach halb Europa exportiert wird und die bauernschlaue Gier lokaler und überregionaler Entscheidungsträger tausende Krankheitsfälle mitzuverantworten hat, dann bleibt das – jedenfalls politisch – ohne Konsequenzen.

Wer in diesen Tagen kein Zuhause hat, ob obdachlos oder auf der Flucht, hat einmal mehr die Arschkarte gezogen. Kein Herumsitzen im öffentlichen Raum, keinerlei Bewegungsfreiheit. Es gilt: Verschärfter Arrest! In dem Fall wohl leider ohne Mindestabstand.

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