FORVM, No. 263/264
November
1975

Linke Maus lockt rechte Katze

In der Kaserne der RALIS

Die Revolution in Portugal sei wie eine schwangere Frau. Der Sozialismus — das Kind, das geboren wird. „Wann sie niederkommt, weiß ich nicht, doch eines ist gewiß: jede Geburt ist blutig.“ Zehn Stunden, nachdem mir RALIS-Kommandant Dinis de Almeida diesen Vergleich ausgemalt hatte, gingen in Lissabon in der Nacht vom 23. zum 24. Oktober sechs Bomben hoch. Die Armee wurde in Alarmzustand versetzt. Noch wenige Stunden zuvor hatten sich auf einen Ruf der Basisorganisationen 50.000 Menschen auf dem Commercio, dem Handelsplatz, versammelt. So schnell wechseln in Portugal die Szenen.

Der jetzt von den „Gemäßigten“ beherrschte Revolutionsrat hat bereits vor der Gefahr einer Kommune Lissabon gewarnt. Tatsächlich haben die Organe der Volksmacht, die Arbeiter- und Einwohnerkommissionen, zusammen mit Soldatenvertretern die Stadt Lissabon in acht kommuneähnliche Zonen aufgeteilt. Die Bourgeoisie kränkelt — in den Fabriken, in den Büros, am Land und in den Kasernen. Sie schnappt nach Repressionsmöglichkeiten wie Spaniens Generalissimo nach Luft. Ehemalige Kolonialsoldaten werden als Büttel angeworben (Interventionstruppe AMI).

Die Armee funktioniert nicht mehr im Sinne der Bourgeoisie: Die Wächter sind Beschützer geworden. Ausgeschickt, um Sender zu besetzen, verbünden sie sich mit den Arbeitern. Sie geben den Arbeitern Waffen. „Es gibt viele Waffen in den Händen des Volkes“, sagt Antonio Diego Mureira, Landarbeiter aus dem 700-Einwohner-Dorf Albernora im Alentejo. „Wenn wir sie gebrauchen müssen, ist es die Schuld der 6. Regierung.“ Der in den Untergrund gegangene COPCON-Hauptmann Fernandez protestiert „gegen die Aufrufe zur Disziplinierung, die aufwieglerischen Kampagnen der bourgeoisen Parteispitzen, die Reorganisierung der polizeilichen Einsatztruppe, die Bildung von militärischen Repressionsapparaten, gegen die intensive Ausschaltung der Linken, die Isolierung und Einschränkung des COPCON“.

Am 21. Oktober versammelten sich fast 50.000 Menschen bis um halb fünf Uhr früh vor dem noch versiegelten Sender Buraca von Radio Renascença. Unter Vollmond, roter Flagge und dem Rauch von Lagerfeuern riefen, sangen und diskutierten sie, was sie wollen: ihren Sender, das elektrische Organ ihrer Basiskämpfe. Arbeiter, Studenten, Pensionisten, Hausfrauen, alte, abgerackerte Männer und Frauen, aneinandergelehnt, hingekauert mit verkniffenen Gesichtern gegen die feuchte Morgenkälte, erschöpft von der Anstrengung des vergangenen Tages, bereit, die letzten Reserven herzugeben — für ihre Revolution. Die Kinder aus dem Gürtel von Elendsvierteln um Lissabon spielen und schlafen zwischen den Beinen der mit Sturmgewehren bewaffneten maskierten Soldaten. Aus ganz Portugal waren die Soldaten gekommen, ohne oder sogar gegen Befehle, als „Arbeiter in Uniform“.

Buraca heißt auf portugiesisch Loch: Es war eines jener Löcher, in das die linke Maus die rechte Katze lockt. Die Linke braucht den Angriff der Rechten für ihren Gegenschlag. Die Rechte braucht und erzeugt die Provokation, um ihren Angriff zu rechtfertigen.

Der reaktionäre Kolonialoberst Jaime Neves forderte bereits einen Showdown „zwischen den Militärfraktionen ohne Beteiligung der Bevölkerung“. Wird das Volk seine Soldaten im Stich lassen? Wie 1973 in Chile die linken Marinesoldaten?

Solange die Mehrheit der Offiziere reaktionär ist, sieht Major Dinis de Almeida die Gefahr eines zweiten Chile in Portugal. Ohne fortschrittliche Offiziere könnten die Soldaten die Revolution nicht verteidigen.

Während des Interviews marschierten Soldaten in Reih und Glied an den Panzern der RALIS vorbei. Über den Kasernenhof knatterte der Lärm der Schießübungen. „Werdet ihr dem Volk Waffen geben, wenn es sie von euch fordert?“ — „Ja, natürlich, sofort. Wir haben hier 3.000 Maschinenpistolen und nebenan bei den befreundeten Kameraden vom DGMG weitere 5.000.“

Portugiesische Journalisten bekommen nur schwer ein Interview mit Major Almeida, und wenn, dann schriftlich. Sogar der República verweigerte er kürzlich ein Gespräch, weil sie ihn einmal falsch zitiert hatte. Obwohl Almeida gut französisch und englisch spricht, wollte er nichts Druckreifes in einer Fremdsprache sagen. Ich fragte also auf französisch, er antwortete auf portugiesisch.

Almeida stammt aus wohlhabendem Haus. Seine Familie besitzt Antiquitätengeschäfte. Durch die sozialistische Entwicklung sind sie um ihre Kunden gekommen ... Eine Woche vor diesem Interview besetzten Landarbeiter die 1.500 Hektar große Farm der Familie Almeida. Seine Eltern sind wütend auf den jungen Major, weil er ihnen nicht zu Hilfe kam, weil er sein Regiment nicht gegen die Landarbeiter einsetzte! Dinis: „Ich bin ein Klassenverräter. Ich gehöre zu den anderen.“

Das Gespräch mit ihm ist wie unter Arbeitskollegen. Nur: Er leitet jedes Thema von seiner Person weg auf die Rechte seiner Genossen, die es zu erkämpfen oder zu verteidigen gilt. Er spricht wie ein Studierter, ein Systematiker, mit dem Bleistift unterstreichend, strichliert die Worte, bricht plötzlich mitten drin mit einem Nicken ab, steht auf, öffnet die Tür, läßt die Dame vor, wortlos, murkst den Gruß ab mit einer kurzen Kehrtwendung nach links ... zu den einsatzbereiten Panzern im Kasernenhof der RALIS — des REGIMENTO DE ARTILHARIA LIGEIRA NO. 1.

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