Liebe Leserin, lieber Leser!
Man kann ruhig sagen, daß das Reich der Gedanken jenem Reich aufs Haar ähnelt, in dem es entsteht.
B.Brecht: Me-ti/Buch der Wendungen
In die Eingangshalle des Hauptgebäudes der Wiener Universität wurde 1923 eine Büste, Siegfriedskopf genannt, gestellt. Dieser Kopf wurde im Zeichen menschenverachtender Haltungen wie Rassismus und Antisemitismus, und des diese Haltungen kultivierenden Rechtsextremismus errichtet. Der Kopf steht noch immer an seiner Stelle und ist für alle, die ihn noch nicht kennen über die Adresse Dr. Karl-Lueger-Ring 1, nach dem judenhassenden, populären und von Hitler geschätzten christlich-sozialen Bürgermeister Wiens des Fin-de-siecle benannt, erreichbar. Im Schatten der Büste sonnen sich nun seit fast achtzig Jahren Siegfrieds Klone aus Fleisch und Blut: Studierende, Intellektuelle und Akademikerinnen, die ganz im Sinne des Heldenschädels denken und handeln, seien es nun solche, die Bücher und Menschen verbrennen, solche die sich gerne gegenseitig das Gesicht aufschlitzen oder solche, die zeitgemäßere Sadismen oder Masochismen praktizieren.
Doch der Widerstand gegen den Heldenschädel und seine Klone kennt zum Glück viele Formen. Eine Form dieses Widerstandes ist die Schaffung von Öffentlichkeit und Teil einer solchen Öffentlichkeit ist die aktuelle Broschüre von Context XXI, LICRA-Österreich und dem Republikanischen Club — Neues Österreich.
Mit vorliegender Broschüre soll die Existenz von rechtsextremem Gedankengut, von antisemitischen und rassistischen Theorie- und Praxiselementen innerhalb des — nach außen hin so gut vor Vorurteilen geschützten — Raums der Universität und der Wissenschaft thematisiert und zur weiteren Reflexion, Diskussion und Recherche angeregt werden.
Es handelt sich dabei nicht um eine umfassende und systematische Darstellung dieses Gegenstands, im Gegenteil: die Broschüre selbst entstand als work in progress, in dem einzelne Artikel den Blick auf weitere mögliche Artikel eröffneten. So wurden viele Türen gerade einen Spalt breit geöffnet, andere noch gar nicht entdeckt; manche wiederum genauer und aus mehreren Perspektiven beleuchtet, ohne sie deshalb als einzigartig darstellen zu wollen.
Auch die Form der Beiträge sollte die Vielfalt und Unabgeschlossenheit zum Ausdruck bringen: Von Interviews über historische Zeitdokumente zu graphischen Darstellungen, von essayistischen Beiträgen bis zu wissenschaftlichen Aufsätzen reicht die Zusammenstellung. Die historische Involvierung und Verantwortung der Universität und deren Verdrängung steht ebenso zur Debatte wie neuere Entwicklungen rassistischer oder antisemitischer Theoriebildung oder die politischen Einflusszonen von Intellektuellen im Rahmen ihrer medialen Verbreitung.
Im ersten Abschnitt wenden wir uns zunächst den vielfältigen Aspekten des Status Quo zu, ohne dabei deren historische Dimension aus den Augen verlieren zu wollen. Im zweiten Abschnitt wird auf die Kontinuität brauner, weißer und anderer Flecken auf der Universität eingegangen.
Die Broschüre entstand vor allem dank der Unterstützung der ÖH, vieler anderer Studentinnenvertretungen und sonstiger Organisationen. Die wissenschaftliche Unterstützung durch das DÖW. erinnnert wieder daran, wie notwendig diese, durch Sparmaßnahmen bedrohte Institution für die Kultur des Erinnerns und des Widerstandes gegen Menschenverachtung und gegen Rechtsextremismus ist. Die Plattform der Initiatorinnen fiel für Siegfrieds Köpfe ebenfalls breiter aus, da sich der Republikanische Club — Neues Österreich neben der seit kurzem schon mitwirkenden LICRA — Österreich mit den Autorinnen und dem Projekt insgesamt solidarisierte.
Das work in progress geht weiter und eine Fortsetzung der Broschüre ist im Herbst geplant. Diese soll mehr über den österreichischen Kontext hinaus gehen und auf wissenschaftlich getarnten Neorassismen, auf die „Neue Rechte“ und auf den Umgang mit der jüngsten Geschichte in Japan, der iberischen Halbinsel und anderen Länder mit faschistischer Vergangenheit eingehen. Und im Sinne Wolfgang Purtschellers soll auch in diesem Editorial gesagt werden: Wir verstehen die breite Unterstützung vor allem als Auftrag für die Zukunft. In diesem Sinne: NO PASARAN!