Kritik und Entlastung
Wenn sich ein respektabler Journalist wie Hans Rauscher, seriös und Meinungsbildner, mit Antisemitismus auseinandersetzt, so ist das zunächst einmal ein Grund für Zuversicht, hat er doch gute Chancen damit auch gehört zu werden.
Mit dem im Oktober 2004 erschienen Buch Israel, Europa und der neue Antisemitismus, möchte der Autor Klarheit schaffen: wo verläuft sie, die Grenze zwischen legitimer Kritik an Israel und Antisemitismus? Doch die angestrebte Klarheit kann Rauscher nicht gelingen, ist doch die Fragestellung mit der dahinterliegenden Annahme, es sei nur ein quantitativer Unterschied zwischen Kritik und Ressentiment, selbst schon Teil des Problems. Bei keiner anderen Regierung, keinem anderen Land wird diese Frage je gestellt. Die Geschichte hat ein normalisiertes Verhältnis zwischen Israel und den NS-Nachfolgestaaten unmöglich gemacht. Und da aktuelle Ereignisse immer wieder den Fortbestand dieser Unmöglichkeit belegen, kann europäische, österreichische, deutsche „Kritik“ an Israel niemals nur Kritik sein. Im Gegenteil, sie ist immer (auch) Entlastungsversuch.
Das aktuelle Handbuch, so der Untertitel des Buches, gliedert sich in drei Abschnitte: Es beleuchtet die neuesten Studien über Antisemitismus in Europa, widmet sich dann der Geschichte Israels und dem Nahostkonflikt und beschäftigt sich in einem ausführlicheren dritten Teil mit dem neuen Antisemitismus, also jenem Antisemitismus, wie er derzeit in Allianzen zwischen Linksextremen und Islamisten sowie in deren diskursiver Querfront mit Rechtsextremen aktuell in Erscheinung tritt.
Es gibt positive Aspekte in Rauschers Buch. Erfreulich eindeutig werden jene Verschwörungstheorien rund um 9/11 behandelt, die ja selbst in akademischen Kreisen ernst genommen werden. Erfreulich ist auch die explizite Forderung nach Empathie für die BewohnerInnen Israels, die tagtäglich mit der Terrorgefahr leben müssen.
Positiv ist weiters, dass sich Rauscher nicht scheut, die von der EU finanzierten palästinensischen Schulbücher zu erwähnen, in denen Israel auf der Landkarte nach wie vor nicht existiert, weiters den Antisemitismus in arabischen Gesellschaften sowie die Hasspredigten in Moscheen weltweit. Problematisch ist allerdings, dass er die islamistischen TrägerInnen des neuen Antisemitismus als „junge(n) Muslime(n) nordafrikanischer Herkunft“ charakterisiert und damit als Fremde konstruiert, das Problem auf ein importiertes reduzieren will. Jene „jungen Muslime“, die laut EUMC-Studie mit dem Ansteigen antisemitischer Übergriffe in Frankreich zwischen 2002 und 2003 in Verbindung gebracht werden, agieren nicht im luftleeren Raum, sondern inmitten einer Gesellschaft und eines politischen Klimas, das dem Ressentiment die Tore öffnet.
Im Israelteil des Buches wird der Bau des Sperrwalls verurteilt — er trage „nicht dazu bei, die Neigung der palästinensischen Bevölkerung zu einer Friedenslösung mit den Israelis zu verstärken“ — und das Faktum der dadurch drastisch verringerten Anschläge ausgelassen. Das Vorgehen der israelischen Armee in Jenin wird als „Exzess der militärischen Gewaltanwendung“ bezeichnet, ohne die Erwähnung, dass das Verstecken von TerroristInnen in Wohngebieten zu deren Strategie gehört.
Rauschers Selbstentlastungsversuch zeigt sich besonders hier: Er zitiert zustimmend den israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery. Auf die Frage, ob Israel mehr zu kritisieren ist als andere Länder, antwortet letzterer, die Israelis hätten nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs eben höheren Standards zu entsprechen. Besonders problematisch ist: Der Antisemitismus der Hamas wird nicht erwähnt und — nicht zuletzt — Sharon wird unterstellt, die Errichtung eines Staates Palästina grundsätzlich hintertreiben zu wollen.
Skandalös ist der Abschnitt über Antisemitismus in Russland. Die laut Rauscher geradezu „idealen“ Voraussetzungen für „traditionellen Antisemitismus“ werden u.a. damit begründet, dass sich dort einige wenige Juden und Jüdinnen den Reichtum teilen.
Es sind solche „Analysen“ und „Beobachtungen“ Rauschers, die sein Werk in gewisser Weise gefährlich machen. Gefährlich, weil eine sehr spezifische LeserInnenschaft statt Reflexion auf die eigenen Verstrickungen in das Gemisch aus Schuldgefühl und Entlastungsversuch vielmehr die Anleitung zu sehr fragwürdiger „Israelkritik“ daraus ableiten kann. Ja mehr noch: das Buch selbst und die sich damit identifizierenden LeserInnen sind Teil des neuen Antisemitismus.
„Weniger Gedanken um die Ursachen machen, sondern energisch vorgehen“ empfiehlt Rauscher gegen Ende seines Buches. Eine Empfehlung die so gut gemeint, wie überflüssig ist. Ist doch das Problem die Unfähigkeit, (auch den eigenen) Antisemitismus als solchen zu erkennen. Wie zum Beweis dafür zitiert Rauscher am Schluss noch Joschka Fischer: „Wenn uns eines in den 30er Jahren gefehlt hat, dann Zivilcourage.“
Hans Rauscher: Israel, Europa und der neue Antisemitismus. Ein aktuelles Handbuch. Molden Verlag: Wien 2004, 250 Seiten, Euro 22,80.