FORVM, No. 23
November
1955

Italiens versäumte Revolution

Das Erbe des Risorgimento

Die westlichen Partner Italiens hätten viel weniger Ärger mit Rom, wenn sie sich einmal die Mühe machen wollten, italienische Geschichte zu studieren. Es müßte ein selbständiges Studium sein und sie müßten den Mut haben, durch den Nebel der patriotischen Rhetorik hindurchzustoßen. Denn die historischen Triebfedern, die das politische Kräftespiel des gegenwärtigen Italien bewegen, liegen tief hinter jener Fassade, die alle Lehrbücher und Katheder als Geschichte Italiens vorstellen. Offiziell wird gelehrt, die Italiener hätten seit den Tagen der Völkerwanderung kein anderes Ziel gekannt als das der 1870 endlich verwirklichten Einigung. Aber der nationale Gedanke, ein Kind der französischen Revolution, war in Wahrheit das exklusive Eigentum einerseits der liberalen und katholischen Intelligenz, anderseits einiger junger republikanischer Heißsporne, meist Studenten, die sich um den Sozialreformer Giuseppe Mazzini und dessen militärischen Exekutor Giuseppe Garibaldi scharten. Das Volk stand abseits, stand — wie De Santis es sagte — „zwischen den Fronten, um sich einen Hinterausgang der Vorsicht zu sichern.“ Das Risorgimento, obwohl durch eine Serie von Volksabstimmungen sanktioniert, war trotzdem keine nationale Volkserhebung. So blieb dieser stolzesten Ära italienischer Geschichte nicht nur die Vollendung des nationalen Einigungswerkes versagt, das die Herzen des kleinen Volkes, des „popolino“, nie erreichte, sondern seine nationalrevolutionäre Komponente überdeckte auch die (in Österreich, Deutschland und Frankreich bereits vollzogene) bürgerliche Revolution, die nachzuholen man sich bis heute vergeblich bemüht. Das Italien Cavours war konservativer und reaktionärer als das Österreich von 1850. Die Führungsschicht, deren Liberalismus in erster Linie als Antiklerikalismus in Erscheinung trat, rettete ihre Stellung ungeschmälert aus den kleinen Teilstaaten in das große geeinte Vaterland hinüber. Und Mazzinis soziale Reformideen erstickten, weil für sie auch im größeren Raum keine Luft war.

Was man heute als „Krise des italienischen Bürgertums“ anspricht, ist das Erbe dieser Risorgimento-Vergangenheit. Die Tatsache, daß die italienischen Staaten die protestantische Reformation nicht mitgemacht, wohl aber die Gegenreformation getragen hatten, führte später zum heftigsten und lärmendsten aller liberalen Antiklerikalismen und mündete vielfach in Anarchismus. Die um die Mitte des 19. Jahrhunderts versäumte bürgerliche Revolution ist die Ursache des sozialen und parteipolitischen Wirrwarrs, der seit 1900 herrscht und der selbst Mussolinis autoritär geführte Faschistische Partei immer zwischen Extremen hin- und herriß. Von einer „Krise des Bürgertums“ zu sprechen, ist darum nur teilweise richtig. Die ganze Gesellschaft ist krank. Und den zwischen politischen und wirtschaftlichen Extremen auf stets schwankenden Tauen knapper parlamentarischer Mehrheiten balancierenden Regierungen bleibt die Erkenntnis der richtigen Diagnose natürlich versagt, weil sich ihre Programme nicht mit der Suche nachalten Krankheitsherden, sondern nur mit den Heiltherapien fürs Heute beschäftigen können.

Der verlagerte Bodensatz

Verhältnismäßig krisenfrei ist nur die kommunistisch-linkssozialistische Volksfront, die in Nord- und Mittelitalien über den einzigen homogenen Massenblock von Wählern verfügt. Sie baut geschickt auf allem Negativen weiter, das die bürgerlichen Regierungen besonders in Süditalien und auf den Inseln in die Fundamente des Staates eingemauert haben. Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, Kinderreichtum, Analphabetismus, das in der Landwirtschaft vielfach herrschende Feudalsystem und der protzige Prunk der reichen Landherren, die kriechende Langsamkeit des riesig aufgeblähten Beamtenapparates und die korrupte Aushöhlung der Justiz — all das sind Bausteine für den Kreml der italienischen Volksfront und zugleich Aspekte jenes Zustandes, der als „bürgerliche Krise“, als „Mangel einer klassischen Rechten“, als „Lähmung der italienischen Mitte“ in allen Leitartikeln geistert und hinter allen Regierungskrisen wirkt.

An der Wiege der jungen italienischen Republik standen 1946 jene Politiker, die 1926, nach der faschistischen Revolution, abgetreten waren. Sie begannen mit dem von Benedetto Croce verkündeten „Heri dicebamus“ und meinten mit dem „heri“ ein Gestern, das zwanzig Jahre zurücklag, das durch das Experiment einer gescheiterten Diktatur und eines größenwahnsinnigen Kartenhaus-Imperiums, durch einen verlorenen Weltkrieg und einen von den Kommunisten gewonnenen Bürgerkrieg überholt war. Und nicht nur das: Diktatur, Bürgerkrieg und Wirtschaftskrise hatten die Gesellschaft revolutioniert, die allgemeine Not verschärft, die Flibustier aller Farben nach oben geschwemmt. Für die Arbeiterschaft und das gehobene Beamtentum brach eine Ära sozialen Aufstiegs an: durch Streiks und starke Verhandlungstaktik mitschwachen Regierungen und unternehmungsunlustigen, vom Faschismus verwöhnten Wirtschaftsführern erreichten sie einen Lebensstandard, der in den ersten Nachkriegsjahren dem der Arbeiter in andern europäischen Ländern weit vorauseilte. Aber der soziale Bodensatz blieb, er wurde nur verlagert: Teile der niedrigeren Beamtenschaft, die süd-italienischen Klein-Kaufleute, Klein-Pächter, Klein-Bauern, die Rentner aller Art — sie wurden, obwohl stolz auf ihr „Bürgertum“, zum Unter-Proletariat.

Die bürgerliche Sehnsucht

Wie verlaufen die Grenzen in der italienischen Parteipolitik? Wer steht links und wer rechts? Ist die Mitte überhaupt Mitte? Im Mosaik des italienischen Parteienspiels verlieren all diese Begriffe ihren wirklichen Gehalt. Schon daß die Neofaschisten (MSI) rechts stehen, obwohl sie radikale Planwirtschaft und Verstaatlichung befürworten, ist Zufall und nur darauf zurückzuführen, daß Mussolini von kommunistischen Partisanen und nicht von einem Peloton der königlichen Carabinieri exekutiert wurde. Die beiden monarchistischen Parteien (der „Partito Nazionale Monarchico“ des römischen Rechtsanwalts Giuseppe Covelli und der „Partito Popolare Monarchico“ des steinreichen Reeders und Neapler Bürgermeisters Achille Lauro) entpuppen sich, dringt man tiefer in ihre Struktur ein, als private Einrichtungen, vom Band familiärer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen zusammengehalten, und wenn Lauro das soziale Moment stärker betont als sein Konkurrent Covelli, so nur deshalb, weil er auf die Stimmen des großstädtischen Proletariats Neapels und anderer Städte spekuliert. Neben ihnen stehen — bereits im Regierungslager der sogenannten Mitte angelangt — die Liberalen (PLI), die traditionsreichste und jahrzehntelang die stärkste Partei des Landes. Heute angelt sie Stimmen aus dem reichen Reservoir der Industriellen, Kaufleute, Agrarier, der Aktionäre und Sparer und jener Intelligenzschichten, die, wirtschaftlich gesichert, in betonter Opposition zum kleinbeamteten und kleinbürgerlichen Intelligenzproletariat stehen. Aber sie angelt wenig. Denn das bürgerliche Sammelbecken bleibt die aus Don Luigi Sturzos kleinem „Partito Popolare“ hervorgegangene Democrazia Cristiana, die mit ihren 1,3 Millionen Mitgliedern von De Gasperis agilem Nachfolger Fanfani zur „Arbeiterpartei“ umgebaut wurde, obwohl sie zu ihrer Wählerschaft neben maximal drei Millionen Arbeitern sieben Millionen Bürger zählt.

Bürger: man darf den Begriff nicht mißdeuten. Er steht für alles, was nicht Arbeiter ist. Die Beamten sind Bürger. Die landwirtschaftlichen Pächter sind Bürger. Die Kaufleute sind Bürger. Und durch dieses Bürgertum geht wie durch alle Parteien, alle Berufsorganisationen (die kapitalistischen Industriellen- und Grundbesitzervereinigungen ausgenommen) die schneidende Abgrenzung gegen ein verelendetes Proletariat. Wenn sich ein Volkslehrer, ein Kleinhändler, ein süditalienischer Kleinbauer „Bürger“ nennt, so gewinnt das Wort den Inhalt eines Programms: ich und meine Nachkommen wollen einmal Bürger sein. Es ist der individuelle Versuch, die bürgerliche Revolution nachzuholen.

Von 600.000 Stimmen ...

Dieses bürgerliche Proletariat — man darf seine ziffernmäßige Stärke mit wenigstens 12, wahrscheinlich mit 15 Millionen annehmen — steht begreiflicherweise zwischen den Parteien. Bei den Wahlen bildet es das fluktuierende Stimmenmaterial und wird vor allem von der lärmend und demonstrativ die „Armut“ vertretenden Volksfront umworben, die ihm eine Jakobinerrolle in der proletarischen Revolution von morgen verspricht. Daß der Linken trotz aller propagandistischen Anstrengung in Süditalien der entscheidende Einbruch in dieses Unterproletariat noch nicht gelang, ist in erster Linie seinem stolzen Individualismus zu danken. Es will nicht Masse sein. Oder wenn schon Masse, dann mit jenen Parteien, denen Masse nicht Programm ist — mit den Neofaschisten etwa, die in Süditalien Nationalismus und Sozialismus als jene hybride Heilslehre predigen, die einmal Nationalsozialismus hieß.

600.000 Stimmen bewahren heute Italien davor, Volksdemokratie zu sein. Wenn es den in der Volksfront vereinten Kommunisten und Nenni-Sozialisten gelingt, zu ihren 9,6 Millionen Wählern noch 600.000 neue zu gewinnen, Wähler aus der Masse der 10,8 Millionen der Democrazia Cristiana, dann sind sie die stärkste Parteiengruppe des Landes und dann kann in Rom jenes tragische Spiel beginnen, das die Regierungsgewalt zwischen Nenni und Togliatti aufteilt; wobei es egal bleibt, ob man den grundehrlichen Demokraten Giovanni Gronchi am Quirinal sitzen läßt oder nicht. Von diesen 600.000 Stimmen hängt das Schicksal jener Millionen ab, die von den demokratischen Regierungen erwarten, zu Vollbürgern erhoben zu werden.

... hängt Vieles ab

Vollbürger sein, heißt für diese Millionen vor allem und zunächst nicht mehr Stiefkinder einer Gesellschaft sein, in der men die soziale Ungerechtigkeit, die bürokratische Machtlosigkeit, den Sumpf der Korruption wie Plakate in knalligen Farben zur Schau stellt. Der grausame Zynismus, dem man allenthalben in der italienischen Politik begegnet — auch er ist eine Folge der sozialen Kluft, die gerade den zum Antikommunismus prädestinierten Bevölkerungsteil in einem unterproletarischen Zustand dahinleben läßt. Zwei Gestalten verkörpern am deutlichsten das ganze Dilemma der bürgerlichen Politik Italiens: der frühere Premierminister Mario Scelba und der jetzige Regierungschef Prof. Antonio Segni. Scelba kommt aus dem sizilianischen Kleinbürgertum; er hat als Rechtsanwalt alle Winkelzüge und Kniffe des staatlichen Bürokratismus studiert, hat sich von den Strömungen des Parteibetriebs geschickt an die Spitze des Landes tragen lassen und hat in seiner Stellung, sei es als Innenminister oder als Premier, immer nur die Handvoll Macht gesehen, nie die Last einer Aufgabe. Prof. Segni, der, dem traditionsreichen Klima einer sardinischen Großagrarierfamilie entstammend, im Studium von Rechtsreformen groß geworden ist, vergißt dagegen, daß ihm das Parlament mit der Investitur eine enorme Verfügungsgewalt übergeben hat und trachtet, das Land durch das Mittel des gerechten Vergleichs zu regieren.

Leider sind überall im Parteien- und Staatsapparat die Zyniker in der Mehrzahl und die Segni in der Minderzahl (wobei wir die ideologisch gebliebenen Gruppen der historischen Republikaner mazzinischer Schule und der Sozialdemokraten Saragats ausnehmen müssen). Jede politische Woge hat die Zyniker nach oben geschwemmt. Der Faschismus brachte die erste Inflation „verdienter Kämpfer“ an die Macht und installierte sie, obwohl sie von Fachwissen völlig unbelastet waren, in Ämtern und Büros. Die Widerstandsbewegung erweiterte den faschistischen Beamtenapparat um ein ganzes Heer von neuen Emporkömmlingen, die fachlich um keinen Deut besser waren als ihre exfaschistischen Einpauker. Der schlechte Beamte begann, den Staat zu fressen. Die Überfüllung und technische „Unterentwicklung“ der Ämter, denen es vielfach sogar an Schreibmaschinen, Telephonen, modernen Registratureinrichtungen fehlt, förderte eine Korruption, die alle Instanzen erfaßte. Wollte man bei der Agrarreform — bei der wilden oder bei der legalen — Land, Häuser und Traktoren profitieren, dann war es ratsam, Kommunist zu sein. Wollte man eine Kriegspension erhalten, dann mußte man eine Verbindung zu christlich-demokratischen Parteizentralen suchen. Ob man einen Steuernachlaß oder eine Bausubvention erbittet, immer trifft man auf den beamteten Zyniker, immer ist es das gleiche grausame Spiel der Mächtigen gegen die Machtlosen.

So kann man nur hoffen, daß die große Reform an Haupt und Gliedern, die von einigen Männern aller antikommunistischen Parteien versucht wird, nicht zu spät kommt. Der Staat setzt jährlich Hunderte Milliarden ein, um vorerst das Landproletariat zu erlösen, aber die Früchte sind gering und in den Städten ist nichts geschehen. Und das Werk des Staates wird so lange unvollkommen bleiben, solange nicht auch die Privatwirtschaft ihm Opfer bringt. 600.000 Stimmen sind wenig, wiegt man sie am Schicksal, das an ihnen hängt. Es könnte das Schicksal des freien europäischen Westens werden.

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