Streifzüge, Heft 3/2001
Oktober
2001

Identitätslogik und Kapitalismuskritik

Anmerkungen zu den Reaktionen der Linken auf die Terroranschläge von New York und Washington

1.

Der Terror in den USA und der anschließende Bombenkrieg gegen Afghanistan haben (nicht nur) in der wertkritischen Linken zu Verwirrung und Polarisierungen geführt.
Einer Position, wie sie „Bahamas“ und mehrheitlich die „Jungle World“ vertreten, die sich beide vorbehaltlos auf die Seite der westlichen Werte und der westlichen Zivilisation vor dem geschichtlichen Hintergrund der Nazis und des Holocaust stellen, bis hin zur Extremforderung einer flächendeckenden Bombardierung der islamischen Länder (Bahamas-Erklärung), stehen u.a. Ansätze gegenüber, die eine wertkritische Erhellung von objektiven Strukturen der gegenwärtigen kapitalistischen Entwicklung, also der (welt)gesellschaftlichen Ursachen dieser barbarischen Terrorangriffe betreiben. Die Gemeingefährlichkeit der Bahamas-Position in ihrer Zuspitzung liegt dabei auf der Hand.

Im folgenden will ich zeigen, daß es darum gehen muß, sowohl den übergreifenden Mechanismen und abstrakt-allgemeinen Strukturen Rechnung zu tragen (also gesellschaftsanalytisch die heutigen Ursachen des Terrorismus herauszuarbeiten), als auch die spezifisch deutsche Geschichte und in der Folge auch die Reaktionen hierzulande auf die Terroranschläge ideologiekritisch ins Visier zunehmen, ohne das eine mit dem anderen zu verwechseln oder gleichzusetzen. Beide Ebenen müssen einerseits getrennt, andererseits in ihrer Vermitteltheit betrachtet werden.

Dies betrifft insbesondere den antisemitischen Charakter der Anschläge. Dabei gilt es meines Erachtens, die Ansätze von Moishe Postone, der „Dialektik der Aufklärung“ und der „fundamentalen Wertkritik“ auf heutige Verhältnisse bezogen zu verbinden. Mit Postone gehe ich davon aus, daß die Juden schon seit dem 19. Jahrhundert mit den zerstörerischen Seiten von Kapitalismus und moderner Zivilisation identifiziert werden, eine Vorstellung, die schließlich im Holocaust kulminierte. Der „Krisis“-Position ist dabei insofern recht zu geben, wenn sie verschiedene Phasen des Kapitalismus und damit verbunden auch verschiedene Formen des Antisemitismus auseinanderzuhalten bestrebt ist, also auf einer kapitalistischen Entwicklungslogik besteht. Diese Position scheint mir am ehesten fähig, den gegenwärtigen weltgesellschaftlichen Hintergrund der Globalisierung angemessen, nämlich als Verfallsprozeß des Kapitalismus zu analysieren. Allerdings plädiere ich dafür, die unterschiedlichen gesellschaftlichen Qualitäten bei weitem stärker in ihrem historischen Gewordensein (also auch die aktuellen Entwicklungen und Ereignisse in ihrer historischen Dimension) zu beachten, als dies bis jetzt in der Theoriebildung der „Krisis“ vor allem in bezug auf Deutschland geschieht.

Wenn die entsprechenden Bestimmungen prinzipiell von der Annahme einer „Dialektik der Aufklärung“ ausgehen sollen, so müssen sie auch mittels einer Kritik der Identitätslogik geleistet werden, wie sie bei Horkheimer und Adorno zu finden ist. In diesem Zusammenhang muß daran erinnert werden, daß Horkheimer und Adorno die Vernichtung der Juden im Nationalsozialismus selbst mit der im Kapitalismus dominierenden Identitätslogik in Verbindung gebracht haben, wonach das Allgemeine über das Besondere herrscht und von oben her Ordnung gemacht werden muß, d.h. auch Differenzen und Differenzierungen ausgeblendet werden müssen. Diese Denkform führte im NS zur Liquidierung der Abweichenden.

Für Adorno und Horkheimer ist es freilich nur der Warentausch, der diese Denkform bestimmt und wonach Ungleichnamiges gleichnamig gemacht wird. Dagegen ist hinsichtlich der zugrunde liegenden gesellschaftlichen Grundform mit der „Krisis“ und Postone vom Wert (bzw. in meinem Verständnis von der Wert-Abspaltung, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann) als Verhältnis auszugehen und nicht bloß vom Warentausch. Dabei ist es ein Manko der „Krisis“-Position, daß sie bis jetzt eine mit der Wertkritik einhergehende Kritik der Identitätslogik weitgehend ausgeblendet hat und noch immer die Tendenz besteht, unterschiedslos alles unter den Wert-Hut zu packen. Das birgt die Gefahr, noch im kritischen Wissen vom Wert als Negativprinzip die anstehende Subjekt-Kritik insofern zu verfehlen, als in der negativen Bestimmung der Subjektform dennoch ein alter Subjekt-Objekt-Dualismus beibehalten wird.

Ganz und gar identitätslogisch, wenngleich in anderer Hinsicht, verfährt die „Bahamas“ Position, indem sie noch nicht einmal eine entwicklungslogische Differenzierung zuläßt. Geht sie doch prinzipiell unhistorisch von einem immergleichen Kapitalismus aus und wird von ihr im Grunde eine bestimmte historische Konstellation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Denkschablone auf jedwede neue Entwicklung gelegt.

2.

Der Terror in den USA war ganz offensichtlich antisemitisch motiviert. Postones Thesen bewahrheiten sich hier symbolisch verdichtet. Die Anschläge zielten aus einer rückwärts gewandten Ideologie heraus auf die Zerstörung des Abstrakt-Universalistisch-Allgemeinen im Kapitalverhältnis. Islamischen Fundamentalisten ist es, wie sie immer wieder bekräftigen, um den Kampf gegen die Juden und Christen, den Westen, zu tun. Auch wenn sie keinen affırmativen Bezug auf die „Arbeit“ proklamieren, so pochen sie doch auf die Religion als das scheinbar kulturell „Konkrete“.

Dennoch ist ein abstrakter positiver Bezug auf den Kapitalismus in dieser Situation von radikallinker Seite falsch. Er zeugt ebenso von falscher Unmittelbarkeit. Dabei wird verdrängt, daß der Antisemitismus selbst ein durch und durch kapitalistisches Produkt ist. Je mehr sich die Warenform und darüber auch westlich-universalistische Werte verallgemeinerten, desto mehr wurden die Juden damit in personalisierender Weise identifiziert. Erst mit dem Kapitalismus kam eine durchgängige warenfetischistische Denkform und demzufolge ein ideologisierender positiver Bezug auf das „Konkrete“ und die „Arbeit“ auf, ohne daß gesehen wurde, wie dieses scheinbar Ursprüngliche selbst schon immer Produkt der warenförmigen Realabstraktion ist. Die Juden wurden fast schon als Verursacher, auf jeden Fall aber als die eigentlichen Nutznießer des Kapitalismus angeschen, dessen destruktive Potenzen ihnen egal seien. Dieses antisemitische Stereotyp ist fester Bestandteil der westlichen Kultur; die in vieler Hinsicht durchaus zutreffende Rede von der judäo-christlichen Kultur verschleiert diese Tatsache.

Dabei ist es jedoch wichtig, den Kapitalismus als historischen Prozeß aufzufassen und in diesem Zusammenhang auch den Antisemitismus jeweils historisch zu bestimmen unter Berücksichtigung von Kontinuitäten. So unterscheidet sich etwa der eliminatorische fordistische Antisemitismus der Nazis vom Antisemitismus in der Globalisierungsära, wobei der heute dominierende Antisemitismus in Deutschland ein sekundärer ist (nicht trotz, sondern wegen Auschwitz). Gerade eingedenk der Tatsache, daß die Juden schon seit dem 19. Jahrhundert in der identitätslogischen Setzung mit der zerstörerischen Erscheinung des Kapitalismus schlechthin identifiziert wurden, gilt es verschiedene historische Phasen auseinanderzuhalten. So handelt es sich bei den Terroranschlägen in den USA einfach nicht um eine systematische, fabrikartig-planmäßig betriebene Vernichtung der Juden wie im NS, sondern eben um die Militanz von selbstmörderischen Terrorakten, auch wenn diese noch so postmodern ausgeklügelt waren und als solche einer High-Tech-Hybris gleichzeitig den Stinkefinger gezeigt haben.

Die historische Differenzierung impliziert nicht zuletzt, daß wir uns heute nicht in positivistisch-platter Manier einfach auf die Seite der abstrakt-universellen „westlichen Werte“ stellen können gegen einen im Grunde unhistorisch gedachten Antisemitismus, sondern wir müssen uns dieses Unmittelbarkeitsdenkens entschlagen, um noch viel grundsätzlicher in der kritischen Theorie und Analyse auf die Ebene des übergreifenden Abstrakt-Allgemeinen zu gehen. Das bedeutet, eine kritische (negative) Totalitätsperspektive geltend zu machen, und zwar in ihrer historischen Dimension; also heute im Hinblick auf den Globalisierungsprozeß.
Insofern geht es darum, die „Abstraktionszumutungen“ von Moishe Postone noch zuzuspitzen. Darauf ist freilich erst recht gegenüber antiimperialistischen Positionen zu bestehen, die ebenfalls positivistisch-platt in einer schon immer affirmativ gedachten Nation, „Kultur“ usw. das unterdrückte Partikulare retten möchten. Die Parole „Zivilisation ist Völkermord“ ist völlig abwegig, denn „Völker“ wurden erst mit der Entstehung der Nation konstruiert und konstituieren sich seither in rituellen Zwangshandlungen selbst.

Es verbieten sich somit eine reflexhafte Scheinanalyse und entsprechend kurz greifende Schlußfolgerungen. Gerade aus der Perspektive einer übergreifenden Analyse auf der Ebene des Abstrakt-Allgemeinen in gleichzeitiger historischer Konkretion kann weder für die USA noch gar für Bin Laden Partei ergriffen werden. Dabei gilt es auch zu bedenken, daß man sich z.B. wie Stoiber dezidiert auf die Seite des christlich-abendländischen Universalismus schlagen und zugleich stolz darauf sein kann, mit den demokratisch gewählten Medien-Rechtsradikalen wie Berlusconi ebenso wie mit Rassisten und Antisemiten vom Schlage Haiders die Köpfe zusammenzustecken. Der Kontext der Terroranschläge in den USA muß so auf der gebotenen Abstraktionshöhe, im Weltmaßstab und auf der historischen Stufe der postmodernen Globalisierung geklärt werden, ohne deswegen irgendetwas zu entschuldigen. Das heißt auch, sich nicht in oberflächlicher Weise von der widerlichen und kriegslüsternen Rambo- und postmodernen Gutsherrenart der US-Funktionseliten provozieren zu lassen, wie sie sich allabendlich in den Medien präsentiert.

3.

Aus der Perspektive einer Kritik der Identitätslogik gilt es, nicht nur die historische Dimension, sondern auch länder- und kulturspezifische Differenzen zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang fragt es sich insbesondere auch, wie in Deutschland mit seiner Geschichte des NS und des Holocaust auf die Terroranschläge in den USA reagiert wird. Welche Motive liegen diesen Reaktionen in der Globalisierungsära zugrunde?

Ein Fehler wäre es dabei, wie etwa die Bahamas immer noch von einem schweinsbraten- bzw. körnerfressenden Ruralteutonen mit einer entsprechenden Psychostruktur auszugehen. Stattdessen haben wir es heute mit einem Typus zu tun, den ich einmal in essayistischer Verallgemeinerung als „teutonischen Yuppie“ bezeichnet habe. Dieser teutonische Yuppie schätzt die Errungenschaften des postmodern-kapitalistischen Vergesellschaftungs- und Konsumniveaus durchaus. Deutschland gehört zu den führenden Weltmarktnationen. Just als indirekte Folge des 2. Weltkriegs und durch das Eingreifen der USA wurden der BRD ein Wohlstand und eine Machtstellung zuteil, die den bestialischen Taten im NS eigentlich Hohn spricht. Dennoch hält sich ob der Kriegsniederlage ein kaum hörbares, tabuisiertes Grollen, ein Ressentiment gegenüber den (ehemaligen) Besatzern. Dabei spricht einiges dafür, daß Industrialisierungsschübe hierzulande erst durch die nationalsozialistische Transitphase (und damit in dieser NS-Form) vorbereitet wurden; wurde doch der Ausbau des deutschen Sozialstaats als Voraussetzung für die Individualisierungsprozesse der Nachkriegszeit erst durch den NS forciert und institutionalisiert, während dabei jeglicher sozialer Ingrimm in der deutschen „Volksgemeinschaft“ aufging. Jene postmoderne Individualisierung, wie sie heute im Zuge der Globalisierung und mittlerweile auch in zunehmender Entbundenheit von sozialstaatlichen Leistungen für das kapitalistische System dringend gebraucht wird, basiert so in Deutschland im Grunde auf den Leichenbergen von sechs Millionen ermordeten Juden.

Dieser Zusammenhang, auch wenn er nicht thematisiert wird, wirkt nach in allen deutschen Reaktionen auf die weltkapitalistische Entwicklung. In einer Art Haßliebe formuliert man so eine „totale Beistandschaft“, wie Rita Süßmuth während des Golfkriegs Anfang der 90er Jahre gegenüber Israel und gegenwärtig wieder deutsche Politiker gegenüber den USA. Ich gebe Holger Schatz recht, wenn er feststellt, daß ein neues BRD-Nationalbewußtsein sich gerade durch diese bedingungslose Beistandschaft gegenüber den USA behaupten kann, und zwar eben in einer Zeit, in der das traditionelle Nationsverständnis durch Globalisierungsprozesse ausgehöhlt wird. Dabei zeigt sich der deutsche sekundäre Antisemitismus heute, allen Mahnmaldiskussionen, Gedenktagen und -reden zum Trotz, gerade darin, daß unter dem Druck der Globalisierung die permanente „Modernisierung“ der Gesellschaft beschworen wird, notwendigerweise der Gesellschaft, wie sie geworden ist, und in dieser hektischen Betonung des „Neuen“ die Besinnung auf die Opfer in den Hintergrund tritt. Man will also im Grunde nichts mehr zu tun haben mit der geschichtlichen deutschen Schuld, indem man bloß noch rituelle Waschungen vornimmt.

Die Situation ist somit mehrfach paradox und die Gefühle sind ausgesprochen gemischt. Deshalb ist die einfache Deutung einer Identifikation der deutschen Tätergesellschaft mit den islamistischen Terroristen auf einer Heideggerschen Todestrieb-Seinsgrundlage mehr als reduziert. Die Bahamasposition kann Widersprüche und Ambivalenzen kaum aushalten und selbst dort, wo sie benannt werden, erscheint letztlich doch das Bild eines selbstmordgeilen Ruralteutonen, bleibt die Analyse also identitätslogisch. Umgekehrt ist es jedoch ebenso problematisch, wenn man (wie es teilweise in der „Krisis“-Position erscheint) nur die historisch neue Situation benennt und die auch historisch bedingten Motivationen weitgehend ausgeblendet werden.

Stehen traditionellen Stereotypen zufolge die Juden für die „überzivilisierten Übermenschen“, so in der kolonialen Tradition z.B. die „Schwarzen“ für die „unterentwickelten Untermenschen“. In der heutigen Situation sieht man sich in der BRD gleichermaßen in einer Übermenschen- wie einer Untermenschenposition. Dies ist die Grundlage für die Identifikation mit den USA wie auch einen damit zusammenhängenden Wohlstandschauvinismus: aus der Furcht heraus, daß jetzt der Globalisierungsterror auf die Zentren zurückschlägt und womöglich auch „zu uns her“ kommt. Von daher auch das kitschig inszenierte Mitgefühl mit den US-Terroropfern. In diesem Zusammenhang ist allerdings ein Verweis etwa auf die Verhungernden in der Dritten Welt und andere Modernisierungsopfer äußerst angebracht; denn dabei handelt es sich um keine „Aufrechnung“, sondern um die Kritik einer westlich-wohlstandschauvinistischen Empfindungsweise.

Eine Konsequenz der spießigen deutschen Heraushalte-Position, die bloß die Krisengewalt verdrängen möchte, ist die sich konstituierende Friedensbewegung. In diesem Kontext können das chauvinistische Bangen um erreichte Lebensstandards und ein vulgärer Antiimperialismus antiamerikanischen Zuschnitts ein paradoxes Amalgam eingehen, wobei die Angst vor bin Laden und den USA ungefähr gleich groß ist, weil man befürchtet, daß die Militärschläge der USA neuen Terror womöglich auch hierzulande auslösen. Insofern ist eine solche Friedensbewegung scharf zu kritisieren und zu bekämpfen, ohne deswegen (in bloßer Scheinkritik daran) umgekehrt in die hysterische Kriegshetze à la Bahamas einzustimmen, die das kapitalistische Abstrakt-Allgemeine selber bloß abstrakt bejaht und mit ihrer wertkritisch und antideutsch frisierten, geradezu religiös anmutenden Bekundung der „totalen Beistandschaft“ gegenüber Israel prinzipiell auf einer Linie mit der Art der Süßmuth-Bekundungen liegt. Eine Friedensbewegung, die antisemitischen Tendenzen entschieden entgegentritt und das Problem reflektiert, könnte dagegen unterstützt werden.

In Wirklichkeit hätte vor allem Israel nichts von einem abstrakt-reduktionstisch begründeten militärischen Kreuzzug gegen „die“ islamischen Länder. Selbst Scharon dürfte sich kaum ernsthaft für eine solche Haltung einsetzen, die für Israel selbstmörderisch wäre. Man wagt es kaum in Betracht zu ziehen, aber dies bedenkend könnte man fast meinen, daß die Bahamas mit ihrer vordergründig absolut pro-israelischen Haltung und ihrer maßlosen Denunziation in Wahrheit Israel die Pest an den Hals wünschen, sprich die von einem islamistischen Selbstmordattentäter überbrachte Atombombe. Das wäre die naheliegende Konsequenz der Bahamas-Strategie, wie sie sich vor dem Hintergrund einer solcherart hoch problematischen „Kulturalisierung des Sozialen“ zeigt.

Abwegig erscheint mir in diesem Zusammenhang auch der Vorwurf des Bahamas-Autors Horst Pankow gegen Robert Kurz, dieser könne ob seines eher systemischen Kapitalismusbegriffs, der Personalisierungen vermeidet, keine Schuldigen mehr erkennen, sprich „den Islam“ bzw. die islamistischen Terroristen (während absurderweise Gerhard Scheit inzwischen den genau umgekehrten Vorwurf einer Personalisierung des Kapitalismus qua fehlender Parteinahme für die USA erhoben hat). Hier findet eine Projektion statt, nämlich eine wiederum identitätslogische Gleichsetzung von Nazi-Deutschland mit den islamischen Ländern.

Antiamerikanische und antisemitische Haltungen könnten sich künftig umso mehr zeigen, je stärker die ökonomische Lage sich verschlechtert und der Wohlstandslevel dementsprechend heruntergefahren wird; auch wenn die Anti-Globalisierungsbewegung, die sich mit der Friedensbewegung überlappt, infolge der Terroranschläge momentan bemüht ist, einen unverblümten Antiamerikanismus zu vermeiden. Zu erwarten ist aber auch gleichzeitig, daß die Rassismen jedweder Couleur zunehmen und sich eine „multikulturelle Barbarei“ (R. Kurz) noch stärker als bisher zeigen wird, die von der „Dominanzkultur“ (B. Rommelspacher) durch verschärfte Sicherheitsauflagen eingedämmt werden soll. Eine Linke, die dabei wie die Bahamas den Kampf gegen den Antisemitismus und den gegen den Rassismus platt prowestlich gegeneinander ausspielt, ist nichts anderes als ein bewußtloser Teil dieser barbarischen Konstellation.

4.

Eine nicht-identitätslogische Analyse kann nicht umhin, festzustellen, daß der Antisemitismus in den arabischen bzw. islamischen Ländern einen anderen Charakter als im Westen und insbesondere auch in Deutschland hat. Die Selbstmordanschläge in Israel wie in den USA stehen im Unterschied zur planmäßigen, selektiven und massenhaften Vernichtung der Juden durch den NS „nur“ in einer kriegsmetzlerischen Tradition, wie sie die konventionellen Kriege ganz allgemein auszeichnen, wenngleich in einer neuen postmodernen Form; schließlich handelt es sich bei den Tätern um extrem westgeprägte Hybridexistenzen auf der technischen Höhe der Globalisierung. Auch müßte dabei die spezifische Geschichte und Beziehungskonstellation: arabische Länder — Israel — USA und hintergründig auch Deutschland genauer unter die Lupe genommen werden.

Zwar gab es schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts im islamischen Raum ebenfalls Gleichsetzungen Jude = Geld. Jedoch ist zu vermuten, daß es selbst im islamischen Fundamentalismus keine antisemitische Biologisierung bzw. überhaupt Ontologisierung wie im NS gibt. Würde ein Angehöriger mosaischen Glaubens zum radikalen Islamismus konvertieren, so würden seine jüdischen Ursprünge keine Rolle mehr spielen. In den Bahamas, aber auch bei Matthias Küntzel wird permanent eine Ähnlichkeit zwischen Islamismus und Nazismus propagiert, die dann letztlich — und schon von der ganzen Intention her — zur Identität wird.

Dabei sind Selbstmordattentate auch als solche postmoderne, neue Gewalt- und Barbareiformen, die es in der Vergangenheit (meines Wissens nur mit Ausnahme von Japan) nicht gegeben hat und die heute in einer „Selbstlosigkeit“ im Sinne von Hannah Arendt gründen, die ähnliche Erscheinungen aus der Zwischenkriegszeit noch bei weitem übergipfeln. In den arabischen Ländern war diese Erscheinung noch bis vor kurzem nicht anzutreffen. Die deutsche Selbstmordsehnsucht im NS war etwas anderes; sie war eher über das Kollektiv und nicht über Individualisierungsprozesse vermittelt. Hybridexistenzen, die freiwillig Selbstmordattentate mit einer quasi-ausgesetzten neoreligiösen Ideologie und insofern fanatisch-fundamentalistischen Stoßrichtung begehen, waren damals noch gar nicht denkbar.

5.

Grundsätzlich muß bei solchen Analysen der Tatsache Rechnung getragen werden, daß es dem kritischen Gesellschaftstheoretiker im Gegensatz zum positivistischen (Natur)wissenschaftler unmöglich ist, sich im Sinne eines omnipotenten, allwissenden Subjekts zum Objekt zu verhalten, da er sich immer als Teil der von ihm untersuchten Gesellschaft weiß. Das heißt auch, daß wir, sofern wir als Deutsche aufgewachsen sind und der deutschen „Dominanzkultur“ angehören, unter Einbeziehung der intergenerationalen Übertragung die besondere Qualität des Holocaust im deutschen Kontext mit seinen Konsequenzen bis zum heutigen Tag berücksichtigen müssen.

In diesem Zusammenhang ist es übrigens problematisch, auch wenn dies auf einer Metaebene zutrifft, den (deutschen) Rechtsextremismus, der bekanntlich aus der Mitte der Gesellschaft kommt, ebenso als zur demokratischen Gesellschaft selbst gehörendes „Reich des Bösen“ zu betrachten wie den islamischen Fundamentalismus im Weltmaßstab. Das spezifisch Partikulare im Kontext der modernen kapitalistischen Zivilisation wird so nicht berücksichtigt und die eigene Involviertheit in die deutsche „Dominanzkultur“, indem diese im unspezifischen Abstrakt-Allgemeinen ersäuft wird.

So sehr es jedoch wahr ist, daß ein Gesellschaftstheoretiker sich niemals außerhalb der Gesellschaft befinden kann und seine Position jeweils in einem spezifischen kulturellen und historischen Kontext verorten muß, so wenig darf sich radikale Gesellschaftskritik in einer derartigen Einsicht gemütlich einrichten. Gerade weil Theorie immer einen „Zeitkern“ (Horkheimer/Adorno) hat, Gesellschaft ein Prozeß ist und in diesem Zusammenhang eine Subjekt-Objekt-Dialektik, eine Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft bei einem prinzipiellen Übergewicht der Gesellschaft besteht, verbietet sich eine verdinglichte, statische Herangehensweise, die unhistorisch ein schon immer gleich bleibend gedachtes Subjekt-Objekt-Verhältnis logisch zementiert und ontologisiert.

Dabei kann gerade eine neuartige Situation es erfordern, dieses Verhältnis von Subjekt und Objekt, von Gesellschaft und Individuum innovativ zu denken. So erscheint es in der postfordistischen Phase der letzten Jahre angezeigt, das, was die kapitalistische Welt, die Gesellschaft „im Innersten zusammenhält“, nämlich den Wert als gesellschaftliche „Grundtatsache“ (Adorno), neu zu bestimmen, d.h. vom alten „Mehrwertmarxismus“ zur grundsätzlichen Wertkritik im Sinne von Arbeitskritik überzugehen. Dies meint, wir haben die Aufgabe, aus der Verstrickung in die gesellschaftliche Formobjektivität auszubrechen. Insofern sind wir gezwungen, trotz des Wissens um dieses Drinnen-verhaftet-sein um den Begriff zu ringen, der dieses Drinnensein überwindet, eingedenk der erreichten historischen Entwicklungsstufe. Es ist dies vielleicht ein Kennzeichen kritischer Theoriebildung überhaupt, das sogar für die alte Arbeiterbewegung in gewisser Weise gültig war.

Sich dieser Verstrickung bewußt zu sein und zugleich den Versuch unternehmen zu müssen, aus ihr auszubrechen, ist übrigens selbst noch für antideutsche Positionen, die das bürgerliche Subjekt-Objekt-Verhältnis wie etwa Gerhard Scheit ontologisieren, charakteristisch; allerdings eben in affirmativer Wendung, wähnt er sich doch, indem er sich in verkürzter Kapitalismuskritik umstandslos auf die Seite des abstrakten Universalistisch-Allgemeinen stellt, seinerseits „draußen“ und gewissermaßen „aus dem Schneider“. Konsequent in dieser Weise zuende gedacht, gäbe es somit aus der bürgerlichen Subjekt-Objekt-Ontologie überhaupt keinen Ausweg. Wir sind verstrickt, verstrickt, verstrickt ... müßte bis ins Unendliche der Refrain lauten.

Wenn dem aber so wäre, dann fragt es sich, wie vom Wert überhaupt kritisch als von einem „automatischen Subjekt“ und objektiver Grundstruktur gesprochen werden kann. Verharren wir nämlich in der bürgerlichen Subjekt-Objekt-Ontologie, so ist damit automatisch und reduktionistisch ein immanent perspektivisches Denken einer im Grunde wissenssoziologischen Tradition verabsolutiert, das jegliche Möglichkeit des Erkennens einer objektiven Wahrheit bestreiten muß.

Trotzdem sind wir auch bei Erkenntnis dieses Zusammenhangs weiter Bestandteil der Gesellschaft, die wir analysieren, und kommen der Subjekthaftigkeit (Subjektform) nicht aus. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als einerseits unsere Existenz als jeweils historisch, kulturell, ökonomisch und sozialpsychologisch bestimmte Subjekte zu denken, und das heißt im hier verhandelten Zusammenhang auch Abwehrmechanismen zu reflektieren, die mit einem heute in neuer Weise virulenten Antisemitismus einhergehen; andererseits gilt es aber auch den objektiven, übergreifenden Totalitätszusammenhang zu denken, in den unsere subjektive Befindlichkeit eingebettet ist. Wir kommen nicht umhin, die Spannung zwischen diesen beiden Momenten auszuhalten.

6.

In diesem Zusammenhang ist es geboten, grundsätzlich die ideologische Ebene und objektive Entwicklungen analytisch auseinander zu halten, was im „Krisis“-Kontext bislang zugunsten der Objektivität im großen und ganzen vernachlässigt wurde. Die ideologische Dimension, die immer auch historische Überhänge umfaßt, geht nicht in objektiven Mechanismen und Entwicklungen auf. Ideologische Manifestationen können dem objektiven Prozeß hinterher hinken.

Andererseits geht Ideologie jedoch auch nie in historischen Überhängen auf und ist immer auch mit objektiven Prozessen gekoppelt. Auch wenn die Bahamas inzwischen selbst einräumen, daß gesellschaftlicher Wandel und objektive Strukturen mitberücksichtigt werden müssen, haben diese bei ihnen letztlich bloß einen akzidentiellen Charakter, während die ideologische Ebene das Ausschlaggebende ist. Die Vermittlung zwischen ideologischer und objektiver Dimension wird verfehlt. So wird etwa, was affektive und Bewußtseinsstrukturen angeht, in der gegenwärtigen BRD immer noch der selbstmordsüchtig-militaristische, ruralideologische Weltkriegsdeutsche gesehen, und man muß heute trotz allen Wissens darum, daß Religion längst obsolet geworden ist, eine klassische bürgerlich-altmarxistische Religionskritik paradox hingebogen im Sinne eines „ungeglaubten Glaubens“ (so Uli Krug vor allem im Hinblick auf den Islamismus) wie weiland zu Aufklärungszeiten leisten.

7.

Es dürfen somit insgesamt nicht verschiedene historische, kulturelle und ideologische Ebenen und Dimensionen, das Allgemeine, das Besondere, das Spezifische und Partikulare identitätslogisch in eins gesetzt werden. Nichts verschont uns vor der Mühsal der Ebenen, gerade in der fragmentierten Totalität der Postmoderne. Andererseits müssen diese Differenzierungen jedoch unbedingt in der Reflexion durch ein (welt)gesellschaftliches Band, den Wert, der in der Globalisierungs-Ära gerade durch seine endgültige weltgesellschaftliche Durchsetzung zugleich brüchig wird, als miteinander verbunden gesehen werden.

So ist kaum zu übersehen, daß eine verkürzte Kapitalismuskritik der Globalisierungsgegner mit Nähe zu antisemitischen Stereotypen den Terroranschlägen in gewisser Weise entspricht und man es auch so betrachten kann, daß letztere eine Zuspitzung der ersteren darstellen. Diese unfreiwilligen Zusammenhänge ergeben sich gerade durch die Globalisierung, die es mit sich bringt, daß jedes einzelne Land nicht mehr für sich ist, sondern wir eben eine One World haben. Insofern ist Benjamin Barber zuzustimmen, wenn er sagt, daß McDonald und Djihad sich gegenseitig bedingen. Dies gilt gleichermaßen für ein postmodernes Insistieren auf Identität als auch für eine dekonstruktivistische Sicht, die jedwede Identitätsvorstellung unglaubwürdig zu machen bestrebt ist. Queer-Politik z.B. und die Taliban haben mehr miteinander zu tun, als ihnen lieb ist. Auch insofern ist es völlig falsch, zu meinen, man könne sich bloß entweder auf die reaktionäre Seite eines antiwestlichen Fundamentalismus oder auf die Seite der westlichen abstrakt-universalistischen Werte in Form des Goutierens einer meines Erachtens ebenso oberflächlichen Libertinage, die viel mit „repressiver Entsublimierung“ und wenig mit Emanzipation zu tun hat, stellen. Insofern gehören freilich auch Spaßgesellschaft und Islamismus zusammen. Eine radikal kritische Position muß diesen inneren Zusammenhang aufzeigen, sich das Recht auf eine radikale (eben nicht abstrakte) Negation der Weltverhältnisse herausnehmen und damit beide sich bedingenden Optionen verwerfen.

So darf es auch keineswegs bloß darum gehen, in ideologiekritischer Reduktion auf die zumal in Deutschland geschichtlich wirkmächtigen Gefahren einer verkürzten, mit dem Antisemitismus kompatiblen Kapitalismuskritik bei Globalisierungsgegnern aufmerksam zu machen, die den Wert nicht als Verhältnis auffassen, ohne gleichzeitig eine Analyse weltgesellschaftlicher Strukturentwicklungen und eine Kritik an den sozialen Katastrophen der kapitalistischen Globalisierung zu betreiben.
Eine nach dem Muster der Bahamas innerhalb der Linken „tabubrecherische“, die kapitalistische Globalisierung und Zivilisation in verbogener gesellschaftskritischer Absicht affirmierende Position stellt so — ceterum censeo — selber eine verkürzte, identitätslogisch verfahrende Kapitalismuskritik dar.

Entschlagen wir uns dieses identitätslogischen Vorgehens, so müssen wir auch sehen, daß in Zeiten der Globalisierung nirgendwo mehr der Staat wie im NS den Holocaust organisiert, sondern die Staaten bzw. Staatenbünde einerseits gerade aus den Erfordernissen der Globalisierung heraus gegen den mörderischen antisemitischen Mob vorgehen, andererseits jedoch gleichzeitig die affirmative Funktion des Antisemitismus und überhaupt einer „Fremdenfeindlichkeit“ gewissermaßen durch ein Outsourcing dem „Volk“ (in der traditionellen Diktion) bzw. der „Zivilgesellschaft“ (in der postmodernen Diktion) überlassen und geradezu übertragen.

Ganz abwegig ist dabei Huntingtons These vom „Krieg der Kulturen“, die das Globalisierungsproblem von der materiell-ökonomischen Ebene ablöst. Eine radikallinke Gegenposition gegen die falschen Alternativen innerhalb des Globalisierungsprozesses muß hingegen die materielle Dimension, somit also auch die soziale Frage thematisieren und (ohne Verzicht auf Ideologiekritik) wieder in den Vordergrund rücken. Auch wenn selbst von Regierungsseite in wortkosmetischer Absicht „mehr Gerechtigkeit im Weltmaßstab“ als Ziel bemüht wird, ist die soziale Ebene seitens radikaler Kritik umso mehr zu besetzen. In diesem Zusammenhang hat nicht zuletzt der krisentheoretische Ansatz seinen Stellenwert, d.h. die Einsicht, daß heute die Zerstörung der Wertvergesellschaftung durch den Wert selbst manifest geworden ist. Die Zerstörungskraft des Terrors entspricht dem Obsoletwerden der Arbeit, den Finanzcrashs usw. Zugespitzt könnte so auch formuliert werden: Die islamistischen Attentäter sind durch ihre postmoderne Hybridexistenz, ihre technologische Kompetenz usw. der Wert; der Wert in seiner Selbstzerstörung.

8.

Als Maßstab der Zivilisationskritik müssen die Menschenrechte gelten. So sehr es zutrifft, daß schwerste Verbrechen im Namen der Menschenrechte verübt wurden, so sehr gilt auch, daß noch das Kriterium, derartige Verbrechen als solche zu benennen, die Menschenrechte selbst sind. Ansonsten gibt es keine allgemeinen Maßstäbe, Mißstände überhaupt wirksam anzuprangern. Bei dem Empfinden, daß Folter, Mord, Totschlag etc. unmöglich zu rechtfertigen sind, handelt es sich im Grunde um emotional abgelagerte Menschenrechtsnormen. Hinter die Menschenrechte darf weder zurückgefallen noch ihre Kritik als Metakritik ausgeklammert werden; vielmehr ist momentan die Spannung zwischen diesen gegensätzlichen Anforderungen auszuhalten.

Das heißt allerdings auch, daß es ebenso unmöglich ist, sich mit dem Gestus radikaler Kritik letztlich doch wieder auf die Seite der über Leichen gehenden Aufklärung zu stellen. Der Westen und die USA selbst sind barbarisch, tagtäglich werden elementare humane Normen verletzt. Das zeigt sich nicht nur an den modernen Kriegen und rassistischen Diskriminierungen in diesen Gesellschaften bis zum heutigen Tag; auch muß man nicht erst einen Blick in US-Gefängnisse und Psychiatrien werfen oder die hauptsächlich an „Schwarzen“ vollstreckte Todesstrafe bemühen, um dies zu erkennen. Dieselbe Barbarei findet sich hierzulande im Knastalltag, in der Abschiebepraxis, im Umgang mit Herausgefallenen. Die innerdemokratische Brutalität und Gemeinheit wird im offiziellen wie im linken West- und US-Patriotismus eskamotiert.

So ist die in der Jungle World gegenüber den Kritikern an ihrer Kriegsbefürwortung ausgegebene Parole „God bless the Meinungsfreiheit“ nichts als repressive bürgerliche Toleranzideologie, von der die Weltmacht-Brutalität als Ursprung westlich-zivilisatorischer Werte abgefeiert wird. Man hört geradezu die Glocken der lila Milka-Kuh klingeln, wenn in Reklame-Manier die hohlen Demokratenphrasen für bare Münze genommen und ein kitschiges Freiheitsritual zelebriert wird. Diese Toleranzideologie steht schon immer positivistisch auf der Seite dessen, was „der Fall ist“, und blendet von vornherein aus, was in radikal kritischer Absicht möglich ist.
Der innerdemokratische Multikulturalismus stellt dabei übrigens keinen Angriff auf die repressive Toleranz des abstrakten Universalismus von Aufklärung und westlichen Werten dar, sondern er befindet sich vielmehr gerade in der Ära des „Kollaps der Modernisierung“ ganz in deren Tradition. Denn nun wird nicht mehr bloß die Gleichheit unter Gleichen, sondern in paradoxer Verkehrung die Gleichheit in der Differenz im Kontext mit den bisher inferior gesetzten „Anderen“ postuliert. Dies trifft ebenso für das weithin positiv besetzte Konzept der „hybriden Identitäten“ zu, in dem das austarierungs- und übersetzungsfähige Individuum im Gegensatz zum klassischen, einheitlichen Aufklärungssubjekt hochgehalten wird. Ironischerweise gehören gerade die Selbstmordattentäter zu diesem Typus.

9.

Bemerkenswert ist nicht zuletzt, daß in der ganzen Auseinandersetzung um den Terrorismus Frauen in der westlichen Welt wieder einmal zu Zeichen werden. Man zieht die geknechteten Taliban-Frauen heran, um mit der Inhumanität der „Barbaren“ Kriegspropaganda zu machen. Frauen sind das Pfund, mit dem gewuchert wird. Die westlich-bellizistische Seite unter Einschluß ihrer linken Sekundanten erweckt manchmal gar den Eindruck, daß die Bomben auf Afghanistan ausgerechnet zur Befreiung der Frauen abgeworfen werden. Dabei haben Frauen bei der mit den USA verbündeten Nordallianz und im befreundeten Saudi-Arabien weniger Rechte als zum Beispiel im Iran. Man kann getrost davon ausgehen, daß die Situation von Frauen in islamischen Ländern dem Westen in Wirklichkeit am Arsch vorbei geht.

Dabei wird so getan, als würden die westlichen Werte schon immer die Befreiung der Frauen einschließen, als gehörte nicht ihre historische Konstruktion als „Andere“, per definitionem Ungleiche wesentlich zur Konstitution der Menschenrechte und damit zu deren negativer Kehrseite. Suggeriert wird erst recht, daß das hierarchische Geschlechterverhältnis heute im Westen kein Problem mehr und grundsätzlich gelöst sei, um davon abzulenken, wie sich die geschlechtliche Asymmetrie in postmodernen Zeiten neu darstellt, neuartige Geschlechterproblematiken und -Dilemmata hervorruft. Der Westen stilisiert sich so wieder einmal unberechtigt zum Vorbild für die ganze Welt.

Jenseits des Geredes von Chancen für Frauen, die im Zuge der Globalisierung entstünden, sind in Wahrheit auf diese Weise weltweit eine große Masse von Frauen nicht mehr bloß primär für die Reproduktion, sondern mittlerweile für „Geld und (Über)Leben“ (Irmgard Schulz) gleichermaßen zuständig gemacht worden, ohne die Möglichkeit der Existenzsicherung und ohne Überwindung der soziokulturellen Geschlechter-Asymmetrie. Im solcherart bloß verwildernden postmodernen Patriarchat hat der Mann als Familienernährer ausgedient und wird von den Frauen vielleicht sogar noch durchgezogen, wobei die Geschlechterbeziehung immer unverbindlicher wird bei gleichzeitiger Weiterexistenz männlicher Dominanz.
Dies sind die Real-Konsequenzen der westlichkapitalistischen „Geschlechterbefreiung“ für den größten Teil der Weltbevölkerung im Zerfallsprozeß des Kapitalismus.

Ebenso falsch wie hinsichtlich der „Frauenfrage“ wird in diesem Kontext der Westen auch in bezug auf das Sexualverhalten, auf männliche und weibliche Homosexualität etc. als ultra-aufgeschlossen dargestellt. Die oberflächliche Toleranz gegenüber Flexi-Transis soll darüber hinwegtäuschen, daß es hier weniger um ein Zulassen verschiedener sexueller Orientierungen geht, sondern um die Durchsetzung globalisierungs-kompatibler und durchökonomisierter Flexi-Zwangsidentitäten, ohne deswegen die zwangsheterosexuelle Grundstruktur zu überwinden. Die barbarischen Taliban als Frauenfeinde und Gegner der „Perversen“ werden so zur bloßen Projektionsfläche gemacht, um das der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegende frauenfeindliche und zwangsheterosexuelle geschlechtliche Basisverhältnis in der Feier bürgerlicher Zivilität wegblenden zu können.

Dazu noch eine quasi methodische Schlußbemerkung: In meinen Thesen fehlt ein systematischer Rekurs auf die Form und Entwicklung des Geschlechterverhältnisses in der maßgeblichen westlich-kapitalistischen Zivilisation. Dies habe ich mir deshalb verkniffen, weil dafür erstens hier nicht der Raum ist und es zweitens immer noch genug Männer und ebenso auch Frauen gibt, denen bei der Thematisierung der unüberwundenen geschlechtlichen Asymmetrie die Jalousien heruntergehen, sodaß der Text von vornherein bloß unter der Perspektive eines „Sonderaspekts“ oder vielleicht gar nicht gelesen würde. Ich kann hinsichtlich der weiteren Problematik nur auf mein demnächst erscheinendes Buch mit dem Arbeitstitel „Das Unbehagen an den Differenzen/Klasse, Geschlecht, ‚Rasse‘ und postmoderne Individualisierung“ verweisen, in dem die Matrix für die hier formulierten Thesen entwickelt wird. Im Anschluß an die Kritik der Identitätslogik geht es dabei darum, im Begriff des Geschlechterverhältnisses (Wert-Abspaltungsverhältnis) als grundlegendem Vergesellschaftungsprinzip gleichwohl mit der Vorstellung eines Haupt- und Nebenwiderspruchs zu brechen, also Rassismus, Antisemitismus und Sexismus nicht voneinander abzuleiten und sie gleichzeitig durch qualitative Unterschiede, besondere Kontexte und spezifische Konstellationen hindurch als miteinander zusammenhängend darzustellen.

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