Heft 3/1999
September
1999

Grenzcamp 99 in Zittau

Bericht über ein antirassistisches Sommercamp an der deutsch-tschechisch-polnischen Grenze

Herzlich willkommen! ... heißt es in der örtlichen Tourismuswerbung Lückendorfs. Willkommen sind allerdings weder Menschen, die aufgrund der bereits fast verunmöglichten legalen Einreise zum heimlichen Grenzübertritt im tschechisch-polnisch-deutschen Dreiländereck gezwungen sind, noch Menschen, die auf diesen Zustand durch ein Grenzcamp aufmerksam machen wollten. Die rund 550 LückendorferInnen wehrten sich mit Unterstützung des Kreisverbandes der NPD Löbau-Zittau kurzfristig, aber erfolgreich gegen das vom 7. bis 15. August 1999 geplante Camp im Rahmen der deutschen Kampagne „Kein Mensch ist illegal“ — die Begründung: Campen ist im Naturschutzgebiet verboten. Die angemietete Wiese wurde bereits am Freitag von rund hundert CamperInnen belagert. Nach der Ankunft zahlreicher weiterer CampteilnehmerInnen wurde schließlich ein Ersatzgelände in der Nähe Zittaus gefunden.

Im Einladungsflyer wurde die Entscheidung zur Organisation eines Camps an der Grenze begründet:

Grenzen sind da, um überschritten zu werden. (...) Menschen lassen sich von jeher nur schwer daran hindern, Grenzen zu überschreiten. Die Entscheidung über den Aufenthaltsort in die eigene Hand zu nehmen, mag für die einen selbstverständlich sein, andere haben oft existentielle Gründe und fliehen vor Verfolgung, Ausbeutung und Krieg, sehen in ihrem Herkunftsland keine Perspektive. Gleichgültig wieso und weshalb — bestimmte Grenzen zu passieren ist für die meisten Menschen dieser Welt heute schwerer denn je. (...) Grenzen sind überkodierte Orte, und so haben auch praktische Interventionen im Grenzgebiet notwendigerweise einen starken symbolischen Charakter.

Der Einladung ins Grenzgebiet der ehemaligen DDR zu Tschechien und Polen folgten insgesamt ca. 1200 Menschen mit sehr unterschiedlichen politischen Hintergründen. Das diesjährige Camp war bereits die zweite Veranstaltung dieser Art. Im letzten Jahr campten einige hundert AktivistInnen an der deutsch-polnischen Grenze bei Görlitz. Die Zielsetzung: Der Verschleierungs- und Denunziationskampagne von Polizei und Bundesgrenzschutz zu widersprechen und gleichzeitig alle Menschen zu unterstützen, die sich der Staatsschutzmaschinerie widersetzen wollen oder müssen. Die Mittel waren Aufklärung und sachliche Information, aber auch taktisches Experimentieren, hinterhältiges Amusement und gezielte Irritationen des Bundesgrenzschutzes (BGS) und der Bevölkerung.

Während der Woche wurden viele Aktionen durchgeführt, die in Zittau und Umgebung für Gesprächsstoff sorgten. Am Zittauer Marktplatz wurde ein Denkmal für die unbekannte FluchthelferIn eingeweiht, Informationsmaterial über Flüchtlingspolitik und die Zustände im grenznahen Flüchtlingslager verteilt und ein Feuerzirkus veranstaltet. Eine Kaserne des BGS wurde mehrere Stunden belagert, was die Grenzschützer am Verlassen ihrer Zentrale hinderte. Es wurde mit einem Auschwitz-Überlebenden diskutiert, ein Border-Rave veranstaltet und anhand eines Asylspiels die Schwierigkeiten von der Flucht aus dem Heimatland bis zum Ziel Asyl aufgezeigt — ein Ziel, das im Spiel, anders als in der Realität, immerhin einer von elf Flüchtlingen erreichte. Grenzspaziergänge wurden ebenso organisiert wie ein Trauermarsch mit Kreuzen zur Erinnerung an Flüchtlinge, die beim Grenzübertritt zu Tode gekommen sind. Aufkleber mit der Aufschrift „Besser als die STASI. Dank ihrer Hilfe“ und der Nummer des Bundesgrenzschutzes sollten die BewohnerInnen Zittaus zum Überdenken ihrer Rolle als DenunziantInnen anregen.

Der in der Gegend sagenumwobene Räuber und Schmuggler Karasek überfiel die Lokalbahn und schmückte den Zug mit antirassistischen Transparenten. In Zittau und Jonsdorf tauchten Plakate eines Arbeitskreises „Welt und All“ auf, die die Vorführung des Films „Die Sonnenfinsternis und ihre Folgen für Deutschland“ bewarben. Nach einer wissenschaftlichen Einführung in das Phänomen werden böse Befürchtungen Wirklichkeit: Der Mond bleibt vor der Sonne stehen. Nach Wochen in völliger Dunkelheit und immer extremer werdender Kälte beginnt die Massenflucht aus Deutschland: Flüchtlingskontingente, militärisch gesicherte Grenzen, heimlicher Grenzübertritt und Sammellager werden für die deutschen Flüchtlinge Realität. Ausgehend von dieser Erfahrung wurde eine anregende Diskussion mit den ZuschauerInnen geführt.

Die wenigen ZittauerInnen, die den Weg ins Camp fanden, waren von der Sinnhaftigkeit einiger Aktionen nicht immer überzeugt und erinnerten daran, daß sie weiterhin in dem Ort leben müßten und die CamperInnen der Entwickung einer linken Szene nicht immer förderlich waren. Einige beteiligten sich dennoch an den Aktionen und fühlten sich in ihrem Engagement gestärkt.

Kontakt wurde auch mit BewohnerInnen des Flüchtlingslagers in Zittau hergestellt, die teilweise an Aktionen teilnahmen und zeitweise auch im Camp lebten. Die Lebensbedingungen für die ca. 130 BewohnerInnen wurden von den Flüchtlingen als unmenschlich beschrieben: unsauberes und nicht genügend heißes Wasser; zu wenige Waschmaschinen und Kochgelegenheiten; nur zwei Stunden Heizung im Winter, keine Möglichkeit, Lebensmittel selbständig einzukaufen und bis zu zwei Wochen Wartezeit auf einen Arzttermin. Auf einer zuvor untersagten Demonstration wurden die Schließung des Flüchtlingslagers in Zittau und eine menschenwürdige, dezentrale Unterbringung gefordert. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung von CampteilnehmerInnen und Flüchtlingen wurde ein Film über die „Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen“ gezeigt und anschließend über Selbstorganisations- und Unterstützungsmöglichkeiten der Menschen im Flüchtlingslager diskutiert sowie Ansätze zur weiteren Zusammenarbeit gesucht.

Der Bund, die Grenze, der Schutz

Innerhalb des Camps wurde viel Zeit damit verbracht, Informationen und Meinungen auszutauschen. Der größte Teil der Diskussionen verlief in selbstorganisierten kleinen Gruppen. Angeboten wurden beispielsweise Workshops zur Situation von Flüchtlingen in Tschechien, Polen und Ungarn, dem NATO- Krieg in Jugoslawien, Repressionen gegen AtomgegnerInnen und zur Fluchthilfe.

Der Slogan des Camps „Keine Grenze ist für immer“ war ebenfalls Diskussionsthema, da dieser auch von Vertriebenenverbänden verwendete Spruch an der deutsch-tschechisch-polnischen Grenze unsensibel gewählt war. Die bereits im Vorfeld des Camps laut gewordene Kritik an der Übernahme revanschistischer Parolen durch deutsche Antirassisten wurde von den meisten CampteilnehmerInnen geteilt. Es wurde aber auch Verständnis dafür geäußert, daß im Chaos der unter Zeitdruck erfolgten Vorbereitungen ein unreflektierter Slogan Verwendung fand, der in der Folge, um Fehlinterpretationen zu vermeiden, mit dem Untertitel „den Rassisten auf die Finger“ versehen wurden. Die Fragwürdigkeit des Slogans wurde dadurch allerdings nicht wirklich aus der Welt geschafft.

Der Versuch, die eigenen antirassistischen Ideale eine Woche lang gemeinsam nicht nur zu propagieren, sondern auch zu leben, scheiterte aus der Sicht einiger TeilnehmerInnen in manchen Bereichen. Mangelnde Übersetzungen und die Dominanz einiger Deutscher wurden kritisiert.

Die Berichterstattung in den Lokalmedien war sehr unterschiedlich und oft abhängig von den am Tag zuvor organisierten Aktionen. Mediales Interesse erweckte unter anderem die halbstündliche Durchsage im Sächsischen Rundfunk, daß man beim Bürgertelefon des Bundesgrenzschutzes nicht mehr wegen dem bei einem Gewinnspiel einer Pizzeria versprochenen Rundfluges anzurufen brauche. Die Telefone seien überlastet und es handle sich dabei bloß um einen Scherz.

Es gab unterschiedliche Einschätzungen zu der Frage, ob die in das Camp gesetzten Erwartungen erfüllt wurden. Was das Camp auf jeden Fall leistete, war die Vernetzung unterschiedlicher Personen und Gruppen — insbesondere mit Menschen aus Polen, Tschechien, Jugoslawien und Weißrußland. Außerdem gelang die Schaffung einer Basis für eine zukünftige Zusammenarbeit mit den Flüchtlingen im Zittauer Asylheim und die längerfristige Irritation der BürgerInnen in der Gegend. Grundsätzlich kann ein solches Camp wohl auch nicht mehr, als Fragen aufzuwerfen und Diskussionen anzuregen. Fragen wurden auf diesem Camp genügend gestellt — unter anderem immer wieder auch die selbstkritische Frage, ob ein solches Grenzcamp die richtige Form antirassistischen Widerstandes gegen die herrschende (Aus)Grenz(ungs)politik ist

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