Frieden oder Appeasement?
Die Kommentare zur Friedensbewegung und Positionierung der Linken im Irakkrieg, wie sie in der letzten Nummer von Context XXI erschienen sind, sagen vieles zur Situation der österreichischen Linken, aber wenig zur Situation im Irak.
Die Friedensbewegung hierzulande verteidigte einen Frieden, den es für die irakische Bevölkerung seit mindestens 12 Jahren nicht gab. Das faschistische Ba’th-Regime Saddam Husseins hatte schon mit seiner Machtübernahme in den Sechzigerjahren einen Krieg gegen die eigene Bevölkerung begonnen. Bereits nach dem ersten Putsch der Ba’th-Partei 1963 ließ das Regime tausende KommunistInnen und andere RegimegegnerInnen in Stadien und Gefängnissen zusammentreiben und erschießen. Nicht viel weniger blutig verlief die erneute Machtübernahme der Ba’th-Partei im Juli 1968, aus der schließlich Saddam Hussein als starker Mann hervorgehen sollte. Seither überzog sein Regime den Irak mit einem jahrelangen Krieg gegen kurdische Peschmergas und ZivilistInnen, löste mit dem Angriff auf den Iran den blutigsten Krieg des Nahen Ostens aus, der über eine Million Menschen das Leben kostete, und begann mit der Besatzung Quwaits im Herbst 1990 jenen Krieg, der nun mit dem Sturz des Ba’th-Regimes sein Ende fand.
Entgegen der medialen Wahrnehmung des Iraks in Europa dauerte dieser jüngste Krieg des Regimes für die irakische Bevölkerung nämlich an. Der Niederlage der irakischen Armee gegen eine breite Koalition arabischer und europäischer Staaten unter Führung der USA folgte für die Irakis kein Frieden, sondern ein dreifacher Krieg: ein verschärfter Krieg des Regimes gegen die eigene Bevölkerung im Inneren des ba’thistischen Herrschaftsbereiches, ein schleichender Krieg durch Sanktionen, die kaum das Regime, sehr wohl aber die einfache Bevölkerung trafen, und ein Krieg des ba’thistischen Regimes gegen die nach Aufständen kurz- oder längerfristig autonomen Gebiete im Süden und Norden des Landes.
Für die Bevölkerung des Südiraks bedeutete die Tatsache, dass George Bush sen. sie nach ihrem Aufstand 1991 im Stich ließ und den Militärschlag gegen Saddam Hussein nicht zu Ende führte, ein blutiges Massaker durch Ba’th-loyale Truppenteile. Die kurdische, assyrische und turkmenische Bevölkerung des Nordirak konnte vor einem ähnlichen Schicksal lediglich durch die Errichtung einer autonomen Schutzzone bewahrt werden. Aber auch diese umfasste nur einen Teil des Siedlungsgebietes der dem nationalistischen Regime verhassten Minderheiten. Dort, wo dem Regime die Rückeroberung kurdischer Gebiete gelang, fiel diese kaum unblutiger aus als die Niederschlagung des Aufstandes im Südirak. Was folgte, war eine rücksichtlose Arabisierungspolitik. So wurden aus Kirkuk und der Umgebung dieser wichtigen Erdölstadt tausende KurdInnen vertrieben. In deren Häusern wurden PalästinenserInnen und AraberInnen aus dem Zentralirak angesiedelt. Saddam Hussein erklärte offen, dass sich die Araber nun jenes Land von den Kurden zurückholen würden, das sie an die Israelis verloren hätten. Dies hinderte ihn aber nicht daran, gleichzeitig seine Vernichtungsphantasien weiterhin gegen Israel zu wenden und im Inneren seine antisemitische Politik gegenüber den irakischen Jüdinnen und Juden fortzusetzen.
Zudem stellte allein die Existenz des Ba’th-Regimes eine ständige Bedrohung für das kurdische Autonomiegebiet im Nordirak dar, was sich im innerkurdischen Bürgerkrieg Mitte der Neunzigerjahre besonders fatal auswirkte. Damals rief die KDP gegen die PUK das Regime zur Hilfe, und dieses rückte umgehend mit Truppen in das Autonomiegebiet ein.
Für die irakische Bevölkerung stellte der Zustand der letzten 12 Jahre somit alles andere als „Frieden“ dar. Vielmehr war sie einem Mehrfrontenkrieg ausgesetzt, der erst mit dem Sturz Saddam Husseins sein Ende fand. So wundert es auch nicht, dass trotz teilweise berechtigter Vorbehalte gegen die USA sich sämtliche Oppositionsparteien an der Vorbereitung für einen Irak nach dem Sturz des Ba’th-Regimes beteiligten. An den Konferenzen in London und Salah ad-Din im Nordirak nahmen neben den kurdischen Parteien PUK und KDP, dem Irakischen Nationalkongress (INC), dem Hohen Rat des Islamischen Widerstands (SCIRI) und der Assyrischen Demokratischen Bewegung (ZOWAA) auch inoffizielle Vertreter der Irakischen Kommunistischen Partei und der schiitischen Dawa-Partei teil. Lediglich die beiden Letzteren lehnten das erneute militärische Eingreifen der USA und ihrer Verbündeten ab, erklärten jedoch nach dem Sturz des Regimes ihre Genugtuung über das Ende der ba’thistischen Herrschaft und beteiligen sich nun wie alle anderen relevanten Oppositionsparteien an der Übergangsverwaltung. Alle diese politischen Gruppierungen bekennen sich heute zu einer Mehrparteiendemokratie.
Aus Sicht der irakischen Bevölkerung glich die Position Deutschlands, Frankreichs und Russlands — nicht zufällig die Hauptgläubigerstaaten des alten Regimes, denen dieses schon manche Ölkonzession versprochen hatte — eher einer Appeasement-Politik als einer Friedensposition. Dass ausgerechnet Staaten, die (wie Deutschland) Giftgas-Technologie oder (wie Frankreich) Nukleartechnologie in den Irak geliefert hatten, sich zu Verteidigern des irakischen Regimes aufschwangen, wird den Opfern deutscher und französischer Rüstungsindustrie in Erinnerung bleiben. Ähnliches Unverständnis erntete eine Friedensbewegung, die einen Frieden, den es im Irak schon längst nicht mehr gab, verteidigen wollte. Schließlich konnten größenwahnsinnige faschistische Diktatoren noch nie mit einer Appeasement-Politik in die Schranken gewiesen werden. Auch wenn Saddam Hussein noch nicht an sein Vorbild Adolf Hitler herankommt, so stand seine Ideologie und Praxis doch in einer faschistischen Tradition, die teilweise direkte ideologische Anleihen am nationalsozialistischen Deutschland nahm. Die Ba’th-Partei konnte im Irak aus einem Pool arabischer NationalistInnen, die bereits in den Dreißiger- und Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts bewiesen hatten, dass sie zum Massenmord fähig sind, schöpfen und stand fest in der Tradition eines völkischen antisemitischen Nationalismus.
- Fotosammlung DÖW
Die Geschichte arabisch-nationalistischer Massenmorde begann im Irak bereits im August 1933 als irakische Truppen unter General Bakr Sidqi über 60 Dörfer der assyrischen Minderheit zerstörten und hunderte AssyrerInnen ermordeten. 1941 folgte einem NS-freundlichen Putsch der als Farhud bekannte Pogrom an der jüdischen Bevölkerung Bagdhads, bei dem zahlreiche Häuser und Geschäfte verwüstet und über 170 Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Vor diesem politischen Hintergrund rekrutierte der in Syrien entstandene und bereits in den Vierzigerjahren mit dem deutschen Nationalsozialismus sympathisierende Ba’thismus seine AnhängerInnen, die er zu einer paranoiden Gemeinschaft völkischer NationalistInnen, welche sich immer gegen neue FeindInnen innerhalb und außerhalb des Landes richten musste, zusammenschweißte.
Einmal waren es Juden und Jüdinnen, dann KurdInnen, IranerInnen, SchiitInnen oder „Sumpfaraber“, die — als „zionistische Agenten“ oder „Volksschädlinge“ enttarnt — bis zur Vernichtung bekämpft werden sollten. Um nicht missverstanden zu werden: Im Irak gab es keine industrielle Massen-Vernichtung von Menschen. Dazu fehlte dem Land auch die ökonomische und verwaltungstechnische Struktur. Auschwitz bleibt weiter eine bislang einzigartige Tat deutscher und österreichischer AkteurInnen der Vernichtung. Die Frage, ob es erst eines Auschwitz’ bedarf, um einen militärischen Sturz eines faschistischen Regimes für gerechtfertigt zu halten, müssen all jene beantworten, die gegen den militärischen Sturz Saddam Husseins auf die Straße gegangen sind.
Selbstverständlich gab es vor dem Angriff der USA und Großbritanniens eine Menge guter Gründe gegen diesen Krieg zu sein. Niemand konnte wissen, wie lange dieser Krieg dauern und wie viele Opfer er kosten würde. Wer nun nach dem positiven Ende des Krieges und dem Jubel der irakischen Bevölkerung über die Niederlage des Ba’th-Regimes, aus antiamerikanischen, völkerrechtsfundamentalistischen oder pazifistischen Gründen immer noch daran festhält, dass das Eingreifen der „Koalition der Willigen“ nicht gerechtfertigt werden könne, muss sich die Frage einer meiner irakischen Freunde stellen lassen. Dieser fragte mich angesichts der „Friedensbewegung“ in Österreich: „Hätten diese Leute auch gegen die militärische Befreiung Europas vom Faschismus demonstriert?“
