Streifzüge, Heft 84
März
2022

Eine radikale Friedens­bewegung ist nötiger denn je

Der Ukraine droht ein ähnliches Schreckens­szenario wie Syrien – und der Welt vielleicht ein Atomkrieg.

Mag der Kriegsverlauf für Russlands Armee bislang auch ein Desaster sein, so hat der Kreml doch einen günstigen strategischen Zeitpunkt für die Invasion der Ukraine gewählt. Dies legen zumindest die explodierenden Preise für viele Rohstoffe, fossile Energieträger und Grundnahrungsmittel nahe. Mit den Sanktionen, die der Westen im Rahmen seines Wirtschaftskrieges gegen die Russische Föderation verhängt hat, trifft er somit auch sich selbst. Die ohnehin seit Pandemiebeginn bestehenden Lieferengpässe, die sich im Gefolge der expansiven Geldpolitik der westlichen Notenbanken beschleunigende Inflation – sie werden durch die Sanktionen zunehmen. Die Neigung zu weiteren Sanktionsverschärfungen, insbesondere in der Bundesrepublik, dürfte dadurch rasch vom ökonomischen Kalkül überlagert werden. Während die Gaspreise durch die Decke gehen, schloss Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) einen Boykott russischer Energieträger bereits aus. Dem Kreml bleibt so eine entscheidende ökonomische Lebensader trotz seines brutalen imperialistischen Krieges erhalten.

Dieses eine Kalkül Putins, der sich ansonsten vor einem Scherbenhaufen seiner Großmachtpolitik sieht, scheint somit aufzugehen. Es basiert auf der strategischen geopolitischen Konzeption des Kremls, die schon Anfang des 21. Jahrhunderts, zu Beginn der Regentschaft Putins, ausgearbeitet wurde. Russland soll demnach zu einem Energieimperium aufsteigen. Zu einer Weltmacht, die ökonomisch die gesamte Verwertungskette fossiler Energieträger kontrolliert: von der Förderung in den Weiten Sibiriens, über den Transport in die Märkte Westeuropas und Chinas, bis zur Distribution vor Ort und dem Endverkauf. Die Ostseepipeline bildete ein Projekt im Rahmen dieser Strategie, bei dem unter Ausschluss der Transitländer Erdgas direkt in ein Zentrum des Weltsystems befördert wird.

Das zweite strategische Vorhaben Putins ist die Modernisierung der russischen Volkswirtschaft. Da dies weitgehend gescheitert ist, findet die Invasion der Ukraine gewissermaßen auf den letzten Drücker statt: Die derzeitigen Versorgungsengpässe in den – ohnehin rasch erodierenden – globalen Produktionsketten potenzieren einerseits die Folgekosten der Sanktionen für den Westen. Zugleich ist die Energiewende in den Zentren noch nicht weit genug vorangetrieben worden, um eine Abkopplung von russischen Energieträgern ohne schwere Verwerfungen verkraften zu können. Russlands ganze imperiale Konzeption, die fossile Energieträger als imperiales Machtmittel einsetzen wollte, scheint mittelfristig obsolet zu werden.

Gerade die im Januar 2022 angekündigte Gründung eines »Wasserstoffbüros« in Kiew im Rahmen der ersten Staatsvisite der Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hatte wohl in dieser Hinsicht im Kreml die Alarmglocken läuten lassen. Je länger der Kreml gewartet hätte, desto geringer wären seine »fossilen« Machthebel bei dem Kampf um die Ukraine ausgefallen. Aufgrund dieses imperialistischen Kalküls wurde die keinesfalls »wahnsinnige« Entscheidung getroffen, die Invasion der Ukraine zu starten.

Kampf um Einflusszonen

Die Verhinderung einer Integration der Ukraine in die Nato ist ebenfalls keine Schnapsidee eines irrational handelnden russischen Präsidenten Wladimir Putin, sondern Grundkonsens innerhalb der russischen Staatsoligarchie. Diese hatte die entsprechenden Bemühungen des Westens wiederholt klar als eine rote Linie markiert. Die Ukraine sollte ursprünglich – bis zum prowestlichen Regierungsumsturz 2014 – Teil einer von Moskau dominierten Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft werden. Putin wollte faktisch einen wirtschaftlichen Großraum zwischen China und der EU etablieren, was vom Westen – von den USA wie auch der EU – als klare Bedrohung der eigenen östlichen Peripherie wahrgenommen wurde. Den vom damaligen Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) auf neoliberale Hungerdiät gesetzten Ländern wie etwa Griechenland wären hieraus schlicht Alternativen erwachsen.

Genau diese klassische »Einflusszone«, wie sie etwa auch die USA in der westlichen Hemisphäre, oder die BRD in Mittelost- und Südosteuropa beansprucht, wollte der Westen Moskau nicht mehr zugestehen. Bei den monatelangen Verhandlungen im Vorfeld des Krieges wollten weder Washington noch Berlin eine künftige Mitgliedschaft der Ukraine in der Nato ausschließen. Sie signalisierten Kiew deutlich ihre Aufnahmebereitschaft – doch zugleich schloss der Westen eine direkte Intervention in dem Konflikt aus. Moskau und Kiew wurde somit der Expansionswille der Nato im postsowjetischen Raum signalisiert, ohne dass Beistandsgarantien für Kiew im Fall eines daraus resultierende Konflikts gegeben wurden.

In dieser Hinsicht kann eindeutig eine Mitschuld des Westens an dem Krieg konstatiert werden. Ob es sich hierbei um eine Fehlkalkulation handelte, da wohl kaum jemand einen solchen Großangriff Russlands erwartet hat, oder ob der Konflikt bewusst provoziert wurde, um Russland in der Ukraine »weißbluten« zu lassen, wie die blitzschnelle und massive Militärhilfe nahelegt, bleibt Spekulation. Fakt aber ist, dass die Ukraine als »Grenzland« zum blutigen Schlachtfeld eines imperialistischen Krieges zwischen Ost und West wurde. Eine ähnliche Konfrontation zwischen Eurasien und Ozeanien, in der Einflusssphären notfalls mit militärischer Gewalt gezogen würden, droht auch im pazifischen Raum, vor allem in Taiwan.

Moskau sah sich überdies anderer Einflussmöglichkeiten in der Ukraine beraubt, nachdem der prorussische Oppositionspolitiker Wiktor Medwedtschuk 2021 wegen »Hochverrats« verhaftet und drei russischsprachige Fernsehsender verboten wurden. Die autoritären, nationalistischen Bestrebungen in der Ukraine unter Präsident Volodymyr Selenskyj, die im Westen bezeichnenderweise kaum wahrgenommen wurden, gingen mit einer revisionistischen Geschichtspolitik einher. Bei dieser wurden viele westukrainische Nazi-Kollaborateure rehabilitiert und zu regelrechten Volkshelden stilisiert. Die politische Zweiteilung der Ukraine in einen prorussischen Osten und einen nationalistischen Westen, die sich seit den 1990er Jahren in den entsprechenden Machtwechseln zwischen ostukrainischen (Viktor Janukowitch) und prowestlichen Oligarchenklans (Viktor Juschtschenko) manifestierte, ist somit einseitig zugunsten des westukrainischen Nationalismus aufgelöst worden. Ein rotes Tuch für Moskau, das gerade durch seine imperiale Annexion der Krim zu dieser innerukrainischen Frontverschiebung selbst beigetragen hatte.

Hin zum Failed State

Die ohnehin schon verwildernde, oligarchische Machtstruktur in der Ukraine wie auch in Russland (hier hat sich die putinsche Staatsoligarchie des Staatsapparates und der Staatsunternehmen direkt bemächtigt) macht dabei aber den zentralen Unterschied zwischen dem gegenwärtigen Krisenimperialismus und dem blutigen »Great Game« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich. Dieser besteht in den zunehmenden Tendenzen zur Entstaatlichung, zur krisenbedingten Verwilderung des Staatsapparates, der in Russland in den Händen oligarchischer und mafiöser Netzwerke und Seilschaften ist und für seine Invasion der Ukraine ebenfalls auf Söldnerverbände, etwa aus Tschetschenien, setzt.

Im Fall der Ukraine sind es wiederum die faschistischen Milizen, die ein Eigenleben entwickeln. Nachdem Selenskyjs anfängliche Versuche, diese in der Ostukraine aktiven Naziverbände zu demobilisieren, an Drohungen und Widerstand scheiterten, wurden sie von ihm in die Armee integriert, oder als Hilfstruppe der Polizei (»Nationale Milizeinheiten«) dem Innenministerium unterstellt. Der wachsende Einfluss faschistischer Milizen im Staatsapparat der Ukraine, die für Überfälle auf Minderheiten wie Rom*nja und Morde an prorussischen Oppositionsaktivist*innen verantwortlich sind, manifestierte sich in der Verleihung des Ordens »Held der Ukraine« an den Nazi-Kommandeur Dmytro Kotsyubaylo durch Selenskyj im Dezember 2021.

Der Spätkapitalismus muss nicht mit einem elendig langen Wimmern vergehen – er kann auch mit einem großen Knall abtreten.

Der Krieg in der Ukraine geht mit einem von allen Kriegsparteien beförderten Zufluss von Söldner*innen, Kriegsveteran*innen, Abenteuer*innen, Islamisten und Nazis einher, die bereits zu Tausenden in der Ukraine aktiv sind. Russland lässt nicht nur die berüchtigten Truppen des tschetschenischen Machthabers Ramsan Kadyrow (der sich wiederholt lobend über AfD-Politiker*innen äußerte) für sich kämpfen, inzwischen bemüht sich Moskau auch um Kämpfer aus dem poststaatlichen Gebilde, das einstmals »Syrien« war.

Ohne eine baldige diplomatische Lösung werden diese Kräfte in der Auseinandersetzung an Gewicht gewinnen. Die Ukraine wird sich so zu einem zweiten Syrien wandeln, zu einem »Failed State«, in dem ein permanenter, von außen angefachter Krieg herrscht. Es sind bislang gerade diese eher die Peripherie des Weltsystems verwüstenden »Entstaatlichungskriege« (Robert Kurz), die den objektiv ablaufenden Krisenprozess exekutieren, gewissermaßen als »Brandbeschleuniger« der sozialen wie ökologischen Krise des kapitalistischen Weltsystems fungieren.

Alle imperialen Mächte spüren dabei die Krise im Nacken: Putin will den imperialen Abstieg Russlands verhindern, die USA sehen sich trotz Weltgeld mit wachsender Inflation konfrontiert, was die bisherige Defizitbildung gefährdet, die BRD sieht ihr exportorientiertes Wirtschaftsmodell, ihre Rohstoffversorgung bedroht, und so weiter – deswegen sind die Staatsmonster bereit, diesen ungeheuren imperialistischen »Poker« um die Ukraine zu spielen, der durchaus zu einem nuklearen Schlagabtausch führen kann.

Antikapitalistische Friedenspolitik

Die Einschläge, die in den vergangenen Dekaden Somalia, Libyen, Syrien oder Afghanistan verwüsteten, rücken somit näher an die Zentren des Weltsystems, die Ukraine ist ein Land der Semiperipherie. Mit den näher kommenden Einschlägen der unerbittlich fortschreitenden Krisendynamik nimmt aber auch die Ohnmacht zu, gerade in der Linken, die zwischen den Fronten dieser Konfrontation zerrieben werden könnte. Bewegungsautonomie kann wohl nur noch zusammen mit radikaler Kritik erkämpft werden.

Dem Zwang, sich unreflektiert einer der imperialistischen Kriegsparteien anzuschließen, müsste eine offensiv antikapitalistische Friedenspolitik entgegengestellt werden, in der die Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand mit der Thematisierung der Systemkrise einherginge – nicht aus einem linken Radikalismus heraus, sondern weil es diese real ablaufende Krisenbewegung ist, die den Spätkapitalismus instabil macht und in die Selbstzerstörung treibt.

Eine konsequente, radikale Friedensbewegung, die sich nur in Abgrenzung von rotbraunen Putin-Trollen wie von Nato-Propagandist*innen aus dem Umfeld der Grünen herausbilden könnte, müsste gerade die sich deutlich abzeichnende Notwendigkeit der Systemtransformation betonen. Dass der Kapitalismus am Ende ist, liegt ja auf der Hand, sein Ende ist aber offen. Ohne seine bewusste emanzipatorische Überwindung wird dieses System an seinen inneren und äußeren Widersprüchen zerbrechen, was eigentlich die finale Niederlage der Linken markieren würde. Der Spätkapitalismus muss nicht mit einem elendig langen Wimmern in sozialer Zersetzung und Klimakatastrophe vergehen – er kann auch, und dies scheint aufgrund des angestauten Vernichtungspotenzials wahrscheinlich, mit dem ganz großen Knall abtreten.

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