LICRA
November
2021

Ein Gespräch über das Lueger-Ehrenmal in Wien

Benjamin Kaufmann, Wien, in Korrespondenz mit Christian Fuhrmeister, München

Diese Korrespondenz entwickelte sich von März bis Juli 2021 per E-Mail und ist ursprünglich für die kritischen berichte des Ulmer Vereins entstanden (49. Jg., Heft 3/2021, S. 151-163, Inhaltsverzeichnis abrufbar auf den Seiten der UB Heidelberg).

Christian Fuhrmeister (CF), 1.3.2021
Der Politiker Karl Lueger, geboren 1844, war von 1897 bis zu seinem Tod 1910 Bürgermeister von Wien. In den Jahren 1913–1916 entwarf der Bildhauer Josef Müllner (1879–1968) für ein privates Komitee ein Denkmal für Lueger, das auf dem Rathausplatz aufgestellt werden sollte, jedoch erst 1926 auf dem Dr.-Karl-Lueger-Platz im 1. Wiener Gemeindebezirk Innere Stadt errichtet wurde. Die antisemitische Haltung Luegers wurde oft kritisiert, doch erst 2009 schrieb ein Arbeitskreis an der Universität für Angewandte Kunst Wien, Klasse Kunst und Kommunikative Praxis, einen Wettbewerb für ein Mahnmal aus, «das sich gegen jede Form antisemitischer und rassistischer Agitation wendet». Mir erscheint es bemerkenswert, dass nicht die Beseitigung gefordert wurde, sondern – in der Tradition der ‹Gegendenkmäler› – eine Art Antithese, weil antisemitische Politiker «nicht durch Denkmäler geehrt werden» sollen, aber zugleich die «Tatsache, dass es passiert, [...] auch nicht verschwiegen werden» sollte. Es scheint, als ob mit dem Aufruf bewusst ein diskursiver Prozess in Gang gesetzt werden sollte. Stimmen Sie zu?

Benjamin Kaufmann (BK), 2.3.2021
Die Ausschreibung der Universität für Angewandte Kunst und die Inszenierung derselben lassen mich annehmen, dass die Verantwortlichen sehr wohl gerne eine Umsetzung gesehen hätten. Dass nicht die Entfernung des Ehrenmals gefordert wurde, lag wohl eher daran, dass den Handelnden so eine Realisierung wahrscheinlicher schien. Ich habe mich mit einem Mitglied der damaligen Jury ausführlich über die Entscheidungsfindung ausgetauscht und es beteuerte, dass die Realisierbarkeit nicht in die Erwägungen der Jury eingeflossen ist. So hat sich die pragmatische Entscheidung der Verantwortlichen in einer ironischen Wendung gegen ihr Vorhaben gerichtet, ist doch der prämierte Entwurf auch daran gescheitert, dass seine Umsetzung sehr kostspielig gewesen wäre.

Eine Entfernung des Ehrenmals kann nur ein erster Schritt im Umgang mit diesem Ort sein und darf natürlich keinesfalls bedeuten, dass dieser Raum entpolitisiert wird. Dass die Ausschreibung die Entfernung nicht vorsah, halte ich tatsächlich für ihr wahres Versäumnis. Das hätte einem echten Countermonument im Sinne James E. Youngs Raum geschenkt, ein Mal also, das Passantïnnen zu kritischem Austausch herausfordert statt nur passive Betrachtung zu verlangen und zugleich anti-messianisch ist und sich selbst reflektiert. Ein Countermonument ist immer auch eine Gegen-Setzung vis à vis einem dominanten Narrativ, das konfrontiert oder gar dekonstruiert werden soll. Es ist wenig verwunderlich, dass unter den 150 eingereichten Entwürfen keiner war, dem es gelungen ist, dieses Monument aus Marmor und Bronze von mehr als zehn Metern in Höhe und Durchmesser, das seit fast einem Jahrhundert Identifikations- und Sammelpunkt für Antisemitïnnen, Rechtsextreme und Geschichtsrevisionistïnnen ist, von einem Ehrenmal in ein Gegendenkmal umzudeuten.

CF, 3.3.2021
So, wie es dem Prinzip Spolie inhärent ist, dass es einen Sieg dokumentiert, nämlich die Überwindung eines früheren Systems (was durch das Vorführen von Gestaltungshoheit dokumentiert wird, etwa wenn römische Kapitelle oder Grabsteine in christliche Kirchenfassaden integriert wurden), so setzt ja das Prinzip Gegendenkmal oder Countermonument die Existenz des Anderen voraus, als Fixpunkt, Setzung oder Behauptung, der indes eine fortgesetzte Relevanz abgesprochen wird. Peter Springer, Corinna Tomberger und Dinah Wijsenbeek haben diverse Beispiele gesammelt und analysiert: Dieses (diese Aussage, diese Intention) soll nicht mehr gelten, jenes (jene Widerrede, jene Gegenposition) wird nun als adäquat und maßgeblich angesehen. Das Alte bleibt, wird aber annulliert.

Beseitigung – durch Zerstörung oder Abtransport – dürfte in der Geschichte wesentlich häufiger praktiziert worden sein als die anspruchsvolle Dialektik einer Gegensetzung. Die physische Annihilation ist zudem sicherlich weiter verbreitet als die Usurpation (etwa durch Austausch der Inschriften und dadurch erzeugter Inversion der Aussage, oder Einverleibung einer Deutungstradition, oder leere Reklamation einer Autorschaft). Ich arbeite mich hier, wie Sie merken, an der Figur der ‹Entpolitisierung› ab, und an Ihrer Deutung der (im Gefolge des Wettbewerbs von 2009) nicht vollzogenen Entfernung des Lueger-Denkmals als ‹Versäumnis›. Denn wenn man eine Aussage (wie eine Ehrung) als ungültig markieren möchte (etwa weil sie menschenverachtend oder rassistisch ist), benötigt man sie ja dennoch als Fond; sie muss präsent sein, damit sie erfolgreich als – nunmehr – bedeutungslos erklärt werden kann.

Mir fällt hier zugleich die Zwickmühle ein, in der sich 1949 die AutorInnen des Grundgesetzes befanden, als sie in Artikel 3 in bester Absicht festhielten, dass «niemand [...] wegen [...] seiner Rasse [...] benachteiligt oder bevorzugt werden» dürfe. Obwohl als Antidotum zur NS-Ideologie gemeint, wurde just das hoch belastete und problematische Konstrukt ‹Rasse› benutzt und damit festgeschrieben.

Die Frage lautet daher: Wie geht Negation ohne die Gegenwart des zu Negierenden? Wie demonstriere ich Dissens, wenn der Grund für meinen Einspruch nicht sicht- oder greifbar ist?

BK, 3.3.2021
Denke ich an Spolien, denke ich nicht zuerst an Siege, an Überwindung im kulturoptimistischen Sinn, sondern an jüdische Grabsteine, mit denen Parkplätze gepflastert wurden, wie etwa in Erfurt noch in den 1960er Jahren. Dort, wo Ungerechtigkeit und Gewalt geschehen, ist es wichtig zu benennen, wem sie widerfahren, denn nur so lassen sie sich bekämpfen. Der Begriff der ‹Rasse› im Grundgesetz ist nur eines von abertausenden Beispielen der Lingua Tertii Imperii in den Rechtstexten er beiden postnazistischen Länder. Diese Sprache zu verwenden, bedeutet Gewalt fortzuschreiben. Das Grundgesetz verwendet diese Wendung, weil es im selben Satz von Benachteiligung und Bevorzugung spricht und beides gleichermaßen ablehnt. Tatsächlich werden hier zwei ungleiche Tatbestände vermengt. Trennt man diese, so ließe sich etwa formulieren «niemand darf rassistisch diskriminiert werden». So würden wir den Begriff, von dem Gewalt ausgeht, löschen, nicht aber die Schutzfunktion, die er bietet.

Gewalt und Erinnerung sind nicht junktimiert, es ist möglich, letztere zu erhalten, ja zu nähren, während man erstere löscht. Das zu Negierende, der Grund für den Einspruch – das ist der Antisemitismus – ist natürlich sehr wohl gegenwärtig, sicht- und greifbar. Es braucht nicht zusätzliche Manifestationen des Antisemitismus in Form von Ehrenmalen für Antisemitïnnen, damit Dissens demonstriert werden kann. Auch spricht eine Gegen-Setzung dem Narrativ, dem sie begegnet, nicht die Relevanz ab, würde das doch die Geste selbst ad absurdum führen. Niemand nimmt dieses Ehrenmal so ernst wie jene, die die Gewalt spüren, die von ihm ausgeht, und für die, die diese Gewalt spüren, ist nichts naheliegender, als ihr Ende zu fordern.

Das Countermonument zentriert die Erinnerung, es erinnert an die Verfolgung, ohne sie zu reproduzieren, oder erinnert an die Verfolgten. Eine häufige Strategie ist es etwa, die Abwesenheit, die Leere zu thematisieren, also die Folgen der Gewalt, nicht die Gewalt selbst. Man kann einem Ehrenmal die Ehrerweisung verweigern, indem man ihm ausweicht, wie es Widerstandskämpferïnnen taten, als sie in der Zeit des Nationalsozialismus der Feldherrenhalle in München durch die dahinter gelegene Viscardigasse auswichen. Der Erinnerung aber entkommt man nicht so leicht. Wer umgekehrt bewusst die Viscardigasse meidet, die durch einen Eingriff von Bruno Wank im Ganzen zu einem Erinnerungsmal geworden ist, aktualisiert doch die Erinnerung. Den Begriff des Countermonuments selbst hat Young von Esther Shalev-Gerz’ und Jochen Gerz’ Eigenbeschreibung ihres Mahnmal gegen Faschismus in Hamburg als Gegendenkmal entlehnt. Durch die Absenkung des Mahnmals in den Boden, sein eigenes Verschwinden also, fordert es dazu auf, Dissens nicht durch das Auslagern von Erinnerung in Mahnmale zu demonstrieren, sondern selbst wachsam zu bleiben, Einspruch zu erheben und Schutz zu bieten, wo anderen Unrecht und Gewalt widerfahren.

CF, 10.3.2021
Ich folge Ihnen, und zwar gebannt (um Gottfried Benn abzuwandeln). Das ist ein weites Feld oder großer Bogen, den Sie skizzieren. Ich verstehe vieles, aber nicht alles, oder nicht restlos. Das macht aber auch nichts.

«Gewalt und Erinnerung» sind in dialektischer Spannung, anders als Präsenz und Absenz, die eher einfache Gegensätze oder Pole darstellen. Das Gefüge von «Gewalt und Erinnerung» ist viel komplexer; zum einen, weil das bürgerliche Verdienstdenkmal affirmativ konnotiert ist, nicht negativ, und in der Regel auch nicht kritisch. Ich kenne nur wenige Denkmäler, die Gewalt als Problem thematisieren beziehungsweise Gewalterfahrungen ohne Parteinahme problematisieren. Und Erinnerung ist, so kann man verschiedene rezente Forschungsarbeiten knapp zusammenfassen, auch niemals neutral oder objektiv – schon deshalb nicht, weil sie ursächlich mit Sinnstiftung und Identitäts(re)konstruktion verquickt ist. Sie sagen (hingegen): «Gewalt und Erinnerung sind nicht junktimiert, es ist möglich, letztere zu erhalten, ja zu nähren, während man erstere löscht.» Das ist eine spannende These. Aber können wir der Referenz wirklich entbehren? Fehlt ohne den zu negierenden Bezugspunkt nicht ein Teil der raison d’être? Kann die Manifestation eines (überkommenen, regressiven, rassistischen) Gesellschaftsbildes nicht auch als Energiespeicher (im Beuys’schen Sinne) fungieren, als permanentes Reservoir, aus dem sich Dissens formiert und nährt? Zugespitzt gefragt: Birgt die Annihilation nicht die Gefahr einer aseptischen tabula rasa, die ein viel schwierigeres Terrain für die Etablierung und lebendige Weiterentwicklung von Erinnerung – als Gegenerinnerung beziehungsweise sogar als alternative Vergewisserung – bildet?

Ich stelle diese Fragen natürlich im Hinblick auf den Umgang mit dem Lueger-Denkmal: Was wäre die maximal beste Lösung für diese spezifische raumzeitliche Konfiguration? Welche Ein- oder Überschreibungen, welche Um- und Neudefinitionen wären theoretisch und praktisch möglich? Diese Frage kann man nach oben skalieren: Wieviel Geschichte brauchen wir (als Basis oder Folie), um Veränderung zu markieren? Ein Palimpsest (mit Relikten, Fragmenten, Spuren) oder eher ein vorgeblich neutrales, unbelastetes oder gar voraussetzungsloses Trägermaterial? Oder ist der Dr.-Karl-Lueger-Platz schon so kontaminiert, auch rezeptionsgeschichtlich bis heute, dass man das Denkmal von 1926 (dem man seine kaiserzeitliche Prägung deutlich ansieht) selbst gar nicht mehr brauchen würde, weil seine Botschaft auch ohne Materialisierung greifbar ist?

Der Akzent der berühmten Arbeit in Hamburg-Harburg liegt meines Erachtens in einer anderen Volte, nämlich der Inversion, oder der unerhörten und ungesehenen Einstülpung. Der Rückzug des Denkmals fördert, einfach gesagt, die Aktivierung des Betrachters; dies ist vielleicht auch ein Prozess der Übertragung von Verantwortung, damit letztlich auch von Empowerment. Was leistet das Denkmal, was leistet der Betrachter?

Sie verfolgen bestimmt auch die Entwicklung der Positionen in der Debatte um die Hamburger Bornplatz-Synagoge und das Mahnmal von Margrit Kahl. Können wir diese Prozesse zusammendenken und auf die Wiener Konstellation übertragen – was ist ähnlich, was anders?

CF, 11.3.2021
Noch ein Nachsatz zur gestrigen E-Mail: Obgleich wir ein existenziell politisches Thema traktieren, das sogar eine unmittelbare Dringlichkeit (Urgency) hat, weil es konkrete Phänomene des öffentlichen Raums (und damit Bürgerlichkeit und sogar Menschsein) behandelt, können wir die Gemengelage offenbar ergebnisoffen sondieren, was ja keine Selbstverständlichkeit ist; ich schätze diesen gespannten Schwebezustand sehr.

BK, 15.3.2021
Wohlgefallen mag interesselos sein, Gewalt aber ist es nie. Gewalt ohne Parteinahme zu ‹problematisieren› bedeutet, ihr nicht gerecht zu werden, weil es verdeckt, dass Gewalt niemals passiv ist, sondern angetan wird. Gewalt ist nicht nährend, sondern – im Gegenteil – verzehrend. Gewalt umzudeuten erfordert Distanz und Ressourcen in einem Ausmaß, die jene der Instanz, welche die Gewalt perpetuiert, übersteigen. Im Rahmen der Schandwache ist eine Umdeutung des Lueger-Ehrenmals an sieben aufeinanderfolgenden Tagen gelungen, auch weil die immense Kraftanstrengung der performativen Umdeutung von siebzehn Gruppen getragen wurde. Auf Dauer ist ein solcher Aufwand allerdings unzumutbar. Ich möchte hervorheben, dass der Satz, mit dem Sie mich zitiert haben, im Präsens steht. Es geht hier um die Fortschreibung, die ständige Aktualisierung der Gewalt. Das Begehren ist, dem ein Ende zu setzen – nicht historische Gewalt zu löschen, sondern vielmehr zukünftige zu verhindern.

Um besser zu verstehen, worum es mir hier ist, müssen wir einen kleinen Ausflug ins Jüdische Denken unternehmen und es mit der säkular-christlichen Denktradition der Mehrheitsgesellschaft kontrastieren. Diese Gegenüberstellung soll auch die Fragen, die zur Zeit in Hamburg diskutiert werden, illuminieren.

Schămor – wahre – und Săchor – erinnere – sind die zwei Imperative, denen observante Jüdïnnen jeden Schabbat Folge leisten. Der Eingang des Schabbat wird gefeiert, nicht aber Schabbat selbst. Schabbat wird auch nicht begangen, nichtmal gehalten, sondern gewahrt (Buber/Rosenzweig), das betrifft die Verbote, und erinnert, das betrifft die Gebote. Die Schabbat-Ruhe ist nicht Ruhe im Sinne von Entspannung, sondern im Sinne von Unterbrechung; sie ist nicht Unterlassung, sondern bewusste Setzung. Wer regelmäßig Kontinuitäten unterbricht, gewinnt neue Aufmerksamkeit für die Welt und begreift sie nicht als etwas, das ‹schon immer so war›, sondern als etwas, das wir konstant durch unsere Entscheidungen formen – durch jene zu handeln ebenso wie durch jene, Handlungen zu unterlassen. Solange das Lueger-Ehrenmal steht, ist es so zu begreifen, als wäre es jeden Tag neu erbaut.

Der erste Denkmalentwurf von Margrit Kahl für den damaligen Bornplatz, heute Joseph-Carlebach-Platz, sah vor, das Wort Awodah in den Boden einzulassen. Awodah wird je nach Kontext mit Dienst oder Arbeit übersetzt. Dienst, im Sinne von Gottes-Dienst oder Götzen-Dienst (Awodah Zara) oder auch im Dekalog das Diensthaus [Ägypten]. Von der Aufladung her ist das Wort aber – in der religiösen wie der säkularen Verwendung – näher an der Arbeit als an dem im Deutschen sehr nüchternen Wort Dienst. Es heißt, die Welt ruht auf drei Säulen, Torah, Awodah und Gĕmilut Chassidim – guten Taten, genauer Übung von Liebeswerken. Der Begriff Awodah verleitet – ähnlich wie jener des Holocaust – dazu, eine messianische Teleologie in die Katastrophe der Vernichtung zu lesen. Observante Jüdïnnen lassen aus Achtung vor der Heiligkeit der hebräischen Buchstaben nicht mal ein Buch aufgeschlagen liegen, die Buchstaben auf den Boden, und damit unter die Füße der Passantïnnen zu setzen, war undenkbar. So ist es nicht verwunderlich, dass die Jüdische Gemeinde Hamburg diesen Vorschlag ablehnte.

Erst im zweiten Anlauf präsentierte Kahl das Denkmal wie wir es heute kennen, welches das Deckengewölbe und den Grundriss der zerstörten Synagoge nachzeichnet. Es ähnelt in mancher Hinsicht Blatt, der einige Jahre später entstandenen Arbeit von Micha Ullman, Zvi Hecker und Eyal Weizman, die an die Berliner Lindenstraße-Synagoge erinnert. Es unterscheidet sich aber auch in wesentlichen Punkten. Kahl zentriert mit dem ornamentalen Muster das Gebäude, Ullman/Hecker/Weizman aber zentrieren den Menschen: Blatt besteht aus Bänken, angeordnet wie die Sitzreihen der zerstörten Synagoge, die auf die Abwesenden verweisen, ohne illustrativ zu werden, gleichzeitig aber den Erinnernden Platz bieten. Erinnerung kann niemals von den Lebenden entkoppelt werden, sind sie es doch, die erinnern.

Die Wurzel des hebräischen Worts für Erinnerung, Secher, bedeutet durchdringen, so wie die Erinnerung die Zeit durchdringt. Der Imperativ – Săchor – ist eines der wichtigsten Konzepte im Judentum. Wir erinnern uns an den Auszug aus Ägypten, wir erinnern uns an den Überfall der Amalekiter in den Jahren der Wüstenwanderung, wir erinnern uns an die Zerstörung der Tempel, wir erinnern uns an Schabbat. Erinnern und das Weitergeben von Erinnerung sind menschliche Praxen, die nicht auf eine bauliche Substanz angewiesen sind. Erinnerung an die Shoah ist nicht von einem Mahnmal abhängig und die Erinnerung an die Gewalt Luegers ist nicht von seinem Ehrenmal abhängig.

Die entscheidende Frage ist: Für wen ist dieses Ehrenmal, dieses Mahnmal, diese Synagoge? Es gibt Synagogen, die wieder aufgebaut wurden, um ein Bedürfnis der Täterïnnen und ihrer Erbïnnen zu befriedigen. Sie sind leicht daran erkennbar, dass sie nicht genutzt werden – die Jüdïnnen, die Verwendung für sie gehabt hätten, sind ermordet. Das ist in Hamburg nicht der Fall – die Gemeinde wächst und wünscht sich eine neue Synagoge. Es ist problematisch, wenn lebendiges Judentum verdrängt wird mit Verweis auf die toten Juden; wenn gefordert wird, die lebenden Juden haben sich auf die ihnen zugewiesene Rolle im Gedächtnistheater zurückzuziehen und den Ort der Zerstörung ihrer Synagoge gefälligst frei zu halten, damit andere besser gedenken können. Das gilt gleichermaßen für geläuterte Hamburgerïnnen wie für Hinweisgeberïnnen von andernorts. Nach der Zerstörung des Tempels König Salomos wurde an gleicher Stelle wieder ein Tempel errichtet. Dieser war zunächst klein und einfach, den kaum vorhandenen Mitteln entsprechend, und wurde mehrfach ausgebaut, bis er unter Herodes selbst den Tempel Salomos überstrahlte. Obwohl aberhunderte Vorschriften, welche die Funktion des Tempels regeln, nur eingeschränkt Spielraum ließen, wurde neu gebaut, nicht rekonstruiert. Am Leben ist die Erinnerung an die Tempel aber in observanten Jüdïnnen, die
täglich im Gebet und an vier jährlichen Fasttagen an sie erinnern, in Jüdïnnen, die manches davon manchmal halten und in säkularen Jüdïnnen, die andere Strategien zur Wahrung der Erinnerung entwickelt haben. Die Rekonstruktion ist tatsächlich geneigt, die historische Gewalt zu löschen und die Phantasmagorie einer Heilung zu propagieren.

In der Hamburger Debatte hat mir der Hinweis gefehlt – vielleicht ist er mir auch nur entgangen –, dass Synagogenbau und Erhaltung des Mahnmals einander nicht ausschließen müssen. Ich sehe nicht, warum Kahls Arbeit gestalterisch nicht in einen Neubau integriert werden kann. Eines kann man in jedem Fall von Hamburg für Wien lernen: dass Veränderung auf dem Platz und Veränderung der Benennung des Platzes Hand in Hand gehen sollten.

CF, 12.4.2021
Ich finde Ihre Ausführungen ausgesprochen erhellend; ich kann mich nicht erinnern, ähnlich konkrete Überlegungen zum Dreiecksverhältnis von Gewalt, Erinnerung und Denkmal/Ehrenmal in Relation zu jüdischen Gedenktraditionen schon einmal gehört oder gelesen zu haben. Ihre Herleitung kulminiert für mich in der Charakterisierung von Erinnern als menschliche Praxis, «die nicht auf eine bauliche Substanz angewiesen» sei.

Dem kann ich folgen, darauf kann ich mich einlassen, obgleich ich mich dann sofort frage, warum wir seit rund einem Jahr – so intensiv wie zuletzt in 1989 bis 1991 – einen Denkmalsturz nach dem anderen erleben (dazu gab es im Januar 2021 eine eigene Tagung in Barcelona: «Toppling Things. The Visuality, Space and Affect of Monument Removal»). Offenbar ist in der materiellen Substanz etwas gespeichert, das aversive Reaktionen hervorruft, eben weil es eine Verbindung von Inhalt (Gedenkanlass/Sinnstiftung) mit Form und Material gibt. Wenn das richtig wäre, gäbe es auch eine in baulicher Substanz gespeicherte Geschichte. Aber das streiten Sie ja auch gar nicht ab; und ich stimme Ihnen auch zu: die «Erinnerung an die Gewalt Luegers ist nicht von seinem Ehrenmal abhängig». Völkisches Denken und antisemitische Propaganda haben fraglos viele Erscheinungsformen und existieren
auch unabhängig von Manifestationen wie Ehrenmälern im öffentlichen Raum.

Der Appellcharakter – die Wendung von der (gewordenen) Gegenwart in eine bessere (und nicht dystopische) Zukunft –, den Sie stark machen, ist bei der Problemkonstellation, die wir traktieren, stets inniglich mit historischen Gewalterfahrungen verbunden. Das schwebt mit.

Eigentlich ist kaum ein größerer Gegensatz denkbar als der zwischen dem Versprechen von Dauerhaftigkeit (monumentum aere perennius) und performativen Akten wie der Schandwache (von der ich gerne einige Aufnahmen sehen würde, wie etwa im Jewish Chronicle vom 16. Oktober 2020). Ich muss an einen Schmetterling auf einem Felsbrocken denken ... jedenfalls ist das Ephemere fragil und zugleich, wie Sie sagen, ein unzumutbarer Aufwand. Das ist meines Erachtens eine neue Dimension des Redens über Denkmäler. Denn die klassische Deutung läuft ja auf die Nutzung von Stein und Bronze als Projektionsfläche für – in der Regel partikulare, gelegentlich aber auch gesellschaftliche oder nationale – Befindlichkeiten hinaus. Das ist ein relativ stabiles Setting, auch wenn gewisse Varianzen sowie – gelegentlich auch gescheiterte – Aktualisierungen der ursprünglichen Bedeutung zu beobachten sind. Doch die Inversion, die die Schandwache betreibt und markiert (auch semantisch komplex, als Gegenbegriff zur Ehre), ist per definitionem temporär. Wie lässt oder wie ließe sich diese erfolgreiche temporäre Intervention auf Dauer stellen? Ohne dass es zum «Gedächtnistheater» (ver)kommt, zur «Phantasmagorie einer Heilung»? Denn der kategoriale Gegensatz von axiomatischer Setzung, die bald hundert Jahre währt, und der Verlautbarung von Dissens, der nur eine Woche dauerte, ist schwer zu überwinden. Andererseits reden bzw. schreiben wir über eben diesen Dissens seit ein paar Wochen. Insofern eignet auch dem Eingriff (wenn man die medizinische Definition von Intervention als «Vorgang, der den Ausbruch oder das Fortschreiten einer Erkrankung verhüten soll» so verstehen will) eine Resonanz über den performativen Akt hinaus.

Doch dem Nachdenken droht Folgenlosigkeit. Deshalb noch einmal gefragt: Im Gegensatz zu geschleiften Denkmälern und gezielt vernichteten Gedenkorten wie Synagogen ragt am Dr.-Karl-Lueger-Platz das Relikt einer Weltanschauung in unsere Gegenwart hinein – ein permanenter Anachronismus. Wenn wir zudem voraussetzen, dass Transformationen (der Geschichtsbilder, der Menschenbilder, der Vorstellungen von Gemeinschaft) zumindest teilweise stattgefunden haben, was sind dann – für observante Jüdïnnen und für andere Menschen – adäquate Adressierungen von Dissens? Ich habe im Netz das Wort ‹Weggestaltung› gefunden, also nicht die Gestaltung eines Weges, sondern die Löschung, Beseitigung oder Unsichtbarmachung (eines Denkmals). Wie kann das aussehen? Gibt es nach Ihrer Ansicht gelungene kommemorative Ansätze, die der Komplexität des Geschehens gerecht werden? Die mit künstlerischen (und folglich auch politischen) Mitteln entbergen oder vorführen, dass historische Begründungslogiken nicht mehr anschlussfähig sind?

BK, 16.4.2021
Landläufig geht man wohl davon aus, dass die meisten Male, anders als Sie konstatieren, nicht vor allem «partikulare[n] Befindlichkeiten» eine Projektionsfläche bieten – ich denke etwa an christliche Male für eine christliche Mehrheitsgesellschaft, oder Kriegs- und Krieger-Denkmale, die nur das eigene Leid reflektieren, nicht aber das der Anderen, oder Ehrenmale für Menschen, die in der eigenen (oft nationalen) Geschichtsschreibung zu ‹Heroïnnen› stilisiert wurden, die nicht selten in Perspektiven anderer als Antagonistïnnen gelten. Betrachtet man diese Male allerdings mit orthodox-marxistischem Blick, so lässt sich natürlich ohne weiteres sagen, dass sie alle nur den partikularen Interessen einer herrschenden Klasse dienen. Auch das Lueger-Ehrenmal war zum Zeitpunkt seiner Einweihung alles andere als Projektionsfläche für partikulare Befindlichkeiten. Das Ehrenmal war auf vielen Titelseiten präsent, einige Blätter druckten ausführliche Lobeshymnen von den christsozialen Parteigängern Luegers, Bundespartei-Obmann – und einen Monat später zum zweiten Mal Bundeskanzler – Ignaz Seipel und dem Obmann der Wiener Landesparteileitung und des Denkmalkomitees Leopold Kunschak, ab; der Festzug bestand aus 100.000 Menschen, der sozialdemokratische Bürgermeister Seitz, Kardinal Erzbischof Piffl und etliche Minister, Bundesräte und Stadträte waren zugegen. Nichtsdestotrotz ist es verkürzt, die «Verlautbarung von Dissens» auf nur eine Woche zu reduzieren. Der Dissens ist so alt wie das Ehrenmal selbst. Die Gegenstimmen an diesem Tag waren wenige, aber dafür waren sie umso schärfer. So las man in Die Rote Fahne (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Berliner Zentralorgan des Spartakusbundes beziehungsweise später der KPD): «Zur Enthüllung des Denkmals jenes historisch gewordenen Spießbürgers, der aus dem Sozialismus des dummen Kerls eine politische Partei machte, werden aus allen Gegenden unserer liebenswürdigen Republik die zweibeinigen Backenbärte a la Kaiser Franz Josef aufmarschieren, im Herzen die Erinnerung an die selige Backhendelzeit und vor dem Kopfe ein Brett.» Ohne antisemitische Sprache kommt allerdings auch dieser Artikel nicht aus. Ein paar Zeilen weiter heißt es: «Mit Luegers Namen ist untrennbar verbunden die Verluderung des politischen Lebens in Wien, von bezahlten Klopffechtern der Bourgeoisie ‹wienerische Gemütlichkeit› genannt; jene Verluderung, gekennzeichnet durch die vielzitierten Aussprüche Luegers, daß sein theoretischer Antisemitmus [sic!] ihn nicht hindere, mit den Herren Juden gute Freundschaft zu halten und gute Geschäfte zu machen; jene bewußt und planmäßig geförderte Korrumpierung der politischen Auseinandersetzung, die es in Ordnung findet, und es lobt, daß die politischen Gegensätze beim gemeinsamen ‹Heurigen› unter den Tischen [sic!] gesoffen werden.» Für wen dieses Ehrenmal war, stand für die Verfasserïn dieser Zeilen dennoch nicht in Frage und sie benennt sie als «die Hakenkreuzler und Frontkämpfer, die organisierten Arbeitermörder» – und deren geistige Erbïnnen.

Das schöne Wort Weggestaltung prägte Marlene Streeruwitz in ihrer Rede zur
Eröffnung der Schandwache. Es verweist darauf, dass es mit einer einfachen Entfernung nicht getan ist. Im Gegenteil, einer der wenigen Punkte, auf den sich wohl alle, die sich in die Debatte eingebracht haben, einigen können, ist, dass die Geschichte, die sich in diesen Ort eingeschrieben hat, auch dort verhandelt werden soll. Dennoch sehen sich die Befürworterïnnen der Weggestaltung mit dem Vorwurf der ‹Geschichtslöschung› konfrontiert. Neben diesem Vorwurf, der auch die Haltung der Stadtregierung spiegelt, gibt es ein weiteres Narrativ, nämlich dass das Ehrenmal als «Stachel im Fleisch» gebraucht wird. Diese Argumentation gewichtet unzweideutig das Bedürfnis der Mehrheitsgesellschaft, ein adäquates Geschichtsbewusstsein zur Schau zu stellen, höher als das Bedürfnis von Jüdïnnen, nicht durch überlebensgroße Ehrenmale für Antisemiten belästigt zu werden. Diese beiden Narrative sind antisolidarisch – konkret: antisolidarisch mit jenen, die Antisemitismus erfahren – und somit strukturell rechts. Was braucht es also? Eine Weggestaltung des bestehenden Ehrenmals und eine neue Setzung im Sinne von Săchor.

Der Aufruf zum Lueger-Ehrenmal, der kurz vor der Schandwache erschienen
ist, fordert «eine Veränderung an Platz und Ehrenmal, die unmissverständlich jede Ehrung Luegers verunmöglicht». Der Begriff der Ehre wurde gewählt, weil er die zentrale Funktion des Mals beschreibt. Dass, wem keine Ehrung gebührt, auch kein Ehrenmal gebührt, ist ein einfacher Syllogismus. An anderer Stelle habe ich über das Ehrenmal geschrieben:

Die Ehrung Luegers besteht aus vier Teilen, von denen zumeist nur einer thematisiert wird. Lueger ist Namensgeber des Platzes und zentrale Figur des Ehrenmals, das wiederum selbst aus drei Teilen besteht: seinem Namenszug in goldenen Lettern, der Figur, der einfachsten Form der Ehrung, die in unserer Zeit fast schon lächerlich wirkt, sowie den Reliefen und den Lueger flankierenden Standbildern auf den diagonalen Achsen. Dieser untere Teil des Ehrenmals ist der interessantere, weil er die vorgeblichen Errungenschaften des ehemaligen Bürgermeisters hervorhebt (und zu anderem schweigt) – eine Form der Auszeichnung, die viel besser in unsere nominell meritokratische Gesellschaft passt. Eine Veränderung an Platz und Ehrenmal muss alle vier Elemente, die Lueger ehren, ansprechen und unmissverständlich alle Lesarten, die ihn ehren, verunmöglichen.

Diese Platznahme und der Platzname müssen unmissverständlich adressiert werden. Ich bin der Überzeugung, dass das nur gelingen kann, wenn das Ehrenmal im Ganzen entfernt wird und der Platz umbenannt wird. Dabei sollte die Weggestaltung auch die Entehrung sichtbar machen. Es soll nicht der Eindruck entstehen, dass etwas fehlt, sondern, dass bewusst etwas entfernt wurde.

Ich habe Săchor – erinnere – als dezidiert jüdische Praxis eingebracht. Eine
Praxis, die sich allerdings nach den Genoziden der Moderne auch in der christlich-weiss geprägten Mehrheitsgesellschaft durchgesetzt hat. Davor galt dort die Amnesie, also das Vergessen, als friedensstiftend und daher als probate Praxis. Das lässt sich wenigstens bis zu der hellenistischen Erlösungsvorstellung zurückverfolgen, die in den Strömen Styx und Lethe Tod und Vergessen symbolisiert sahen. Um mit Yuri Slezkine zu sprechen – die merkurianische Kultur, die immer schon im Geist der Moderne stand, wurde in der Moderne von der apollinischen Mehrheitsgesellschaft vereinnahmt. Natürlich sehen wir nicht vermehrt Denkmalstürze in sehr unterschiedlichen Gesellschaften, weil alle begonnen haben, jüdisch zu denken. Vielmehr sind die merkurianischen Elemente des Jüdischen Denkens zu Leitgedanken unserer Zeit geworden.

«Immer wenn Apollonier zu Kosmopoliten werden», schreibt Slezkine in Das
Jüdische Jahrhundert, «empfinden sie Merkurianer als ungewöhnlich widerspenstig und beschuldigen sie des Tribalismus, des Nepotismus, des Stammesgefühls und anderer Sünden, die vormals Tugenden waren». Nichts anderes geschieht, wenn nun von einigen gefordert wird, dass an Stelle des Ehrenmals eine Setzung gegen «alle Formen der Diskriminierung» stehen sollte. Hier droht die wahre Geschichtslöschung. Eine solche Setzung an einem zentralen Ort ist sehr zu begrüßen, nicht aber an diesem – ebensowenig wie anstelle des Columbus-Ehrenmals gegen Antisemitismus zu mahnen ist. In jedem Einzelfall einer Diskriminierung ist es wichtig hervorzuheben, als wem jemand diese widerfahren ist, denn nur so lässt sich auf die Ungerechtigkeit aufmerksam machen und die Agambensche Rochade verhindern, die das Besondere der Diskriminierten negiert. Das aber bleibt eine Verteidigungshaltung gegen einen ungerechten Angriff. Erst durch die Universalisierung, nicht auf Seiten der Angegriffenen, sondern nur auf Seiten des Widerstands kommen wir von einem ‹nie wieder wir› zu einem ‹nie wieder›. Das ist aber wiederum nichts, was ein Mal bewerkstelligen kann, so sehr sich manche Politikerïnnen dies auch wünschen mögen. Von einem Denkmal, einem Mahnmal oder einem Gegendenkmal wird nie Gerechtigkeit ausgehen. Das ist ein Wert, der nur in der Interaktion zwischen Menschen zu erarbeiten ist, ein Wert, der nicht in Bronze gegossen oder in Stein gemeißelt werden kann, sondern der immer wieder zu aktualisieren ist. Mahn-, Denk- und Gegendenkmale können allerdings sehr wohl auf vergangene und aktuelle Gewalt und Ungerechtigkeit aufmerksam machen. Da das bestehende Ehrenmal einem Antisemiten gewidmet ist, muss eine Gegensetzung sich als anti-antisemitisch positionieren. Eine solche sollte die Geschichte der Schande des Ehrenmals sichtbar machen, wie bei Wank, und die für eine kleine Gruppe unzumutbare Performance auf all jene, die am Mal vorbeigehen, aufteilen, wie bei Shalev-Gerz und Gerz. Vor allem aber muss ein solches Mal als Arbeitsauftrag und nicht als plumpes Postulat oder Projektionsfläche für Hoffnungen verstanden werden.

BK
Erlauben Sie, dass ich die letzte Frage des Interviews stelle?

CF
Natürlich, sehr gerne können Sie die letzte Frage (an mich) stellen.

BK, 22.6.2021
Unweit vom Lueger-Ehrenmal befindet sich der Wiener Judenplatz, ein sehr dichter Ort, an dem sich Geschichte vielfach eingeschrieben hat. Unterirdisch sind die Überreste der ältesten Synagoge Wiens zu besichtigen, die das Zentrum des ehemaligen jüdischen Ghettos bildete. 1204 erstmals urkundlich erwähnt, wurde sie während der Pogrome der Wiener Gesera 1421 zerstört; Spolien finden sich in der Alten Universität. An einem der im Zuge der Gesera geraubten Häuser prangt bis heute eine mittelalterliche Inschrift, welche die Pogrome besingt, und das Feuer, in dem die letzten in Wien verbliebenen Jüdïnnen – im Text als «Hebräische Hunde» bezeichnet – lebendig verbrannt wurden, als kathartisch preist.

Der Platz selbst wird durch zwei Denkmale geprägt. Das eine ist ein Personen-
denkmal für Lessing mit einer Bronze von Siegfried Charoux. Es ist Charoux’ zweites Lessing-Denkmal für Wien, nachdem das erste 1939 von den Nationalsozialisten eingeschmolzen wurde. Lessings demutsvolle Haltung könnte nicht in größerem Kontrast zur Selbstgefälligkeit derer Luegers stehen. Ihm gegenüber ist das Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah von Rachel Whiteread – zweifellos eines der besseren Male Wiens. Awi Blumenfeld machte mich kürzlich darauf aufmerksam, dass das wahre Mahnmal aber die Synagoge am Judenplatz ist. Jede Synagoge in Wien ist sichtbar, meist jedoch nur durch den kleinen Verschlag der Militärpolizei, die gemeinsam mit dem Sicherheitsdienst der Jüdischen Gemeinde für die Sicherheit der Anwesenden garantieren soll. Die Synagoge am Judenplatz aber ist besonders, weil sie durch ihre Buntglasfenster mit blauen Davidsternen für eine selbstbewusste, positive Sichtbarkeit steht. Nicht die bloße Existenz dieses Ortes aber ist das Mal, sondern die Awodah, die dort getan wird. Jeden Tag gehen von dort die uralten Melodien der Teffilot – das ist die Awodah im Herzen, gemeinhin als Gebete übersetzt – aus, deren Erklingen in Wien Widerstand und Desintegration bedeuten. Das ist das Gegendenkmal.

Das Denkmalbauen, als ein einmaliger Akt, der auch ohne weitere Pflege Jahr-
hunderte überdauern kann, ist eine europäisch-christliche Praxis, welche die Anderen Abrahamitischen Kulturen nicht kennen. Es ist diese Tradition, die Jüdïnnen in Europa seltene und kurze Zeitspannen bot, in denen ihre Kultur auch hier florieren konnte, die aber meist Verfolgung, Ghettoisierung, Vertreibung, Pogrome oder Versuche der Auslöschung bedeutete. Sie haben sich in Ihrer Dissertation mit jenen Materialien auseinandergesetzt, die diese Denkmaltradition ermöglichen. Den Materialien, die gewählt wurden, um die Zeit zu überdauern, die für sich im Raum stehen wie ein Machtwort, hart und unnachgiebig. Auf diese christlich geprägte Tradition anspielend haben Sie – vielleicht unbewusst? – den Ausdruck der Materialikonographie in den Titel Ihrer Dissertation geschrieben. Es ist nicht allein das Lueger-Ehrenmal, das auf diese Materialien setzt, auch Charoux’ Lessing-Denkmal und Whitereads Mahnmal kommen nicht ohne sie aus. Erörtern Sie mir, was es mit dem Material auf sich hat und wie es selbst zur Verherrlichung Luegers beiträgt: Warum diese Tonnen von Untersberger Marmor und Bronze?

CF, 11.7.2021
Zunächst zur Synagoge am Judenplatz, deren «selbstbewusste» blaue Davidsterne Sie zunächst als «positive Sichtbarkeit» wahrnehmen und beschreiben, dann aber auf die Praxis der Gebete als Awodah (also als Arbeit oder Dienst) verweisen, als dem ‹eigentlichen› Gegendenkmal. Das finde ich deshalb interessant, weil es an Ihre Wertschätzung der performativen Brechung im Rahmen der Schandwache erinnert: Eine Aktivität bündelt, versinnbildlicht und demonstriert die Markierung von Dissens. Es ist somit erneut eine Resonanz, eine Bezugnahme, auch eine Distanzerklärung, auch ein Arbeiten ‹gegen den Strich›, gegen die alte Praxis der Denkmalsetzung. Damit komme ich zum zweiten Punkt, der Frage des Materials. Meine Kenntnis ist hier trotz der Dissertation von 1998 (erschienen 2001) eher gering, denn die Fragestellung war sehr spezifisch auf die Konfliktgeschichte der langen 1920er Jahre und den Antagonismus von künstlichem und natürlichem Stein ausgelegt; zentral war für mich die versuchte Indienstnahme von Material für politische Zwecke unterschiedlicher Couleur, was sich an abstrakten Denkmälern besser darstellen lässt als an figurativen Monumenten. Im Kern ging es um den Nachweis, dass nicht nur die Form Bedeutungsträger ist, sondern auch das Material. Bezogen auf das Lueger-Denkmal und seine formale und materielle Komposition kann ich daher nur Ubiquität konstatieren: Geradezu archetypisch wird hier (wie 1913 an zahlreichen an anderen Orten nicht nur des Habsburger Reiches) eine Art bürgerliches Norm-Denkmal entworfen, gewissermaßen Bismarck im Kleinformat. Ich kann die Frage nach dem «Warum?» daher nichts anders als so beantworten: Weil dies der Standard war, weil diese Art der Materialverwendung das etablierte Verfahren der Generierung von Bedeutung darstellte, weil Ehrung und Würdigung so kodifiziert waren.

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