FORVM, No. 209/I/II
April
1971

Dialog mit dem Popocatépetl

Seminar bei Ivan Illich

A. K., Professor für Philosophie der Politik an der Universität Basel, ständiger Beiträger und Redaktionsbeirat des NF, Präsident des „International Dialogic Committee“ (IDC) Wien-Santa Barbara, Calif. über das IDC-Seminar in Cuernavaca, siehe den Vorspann zum voranstehenden Beitrag G. N.s.

Was betrachten Lateinamerikaner, Nordamerikaner und Westeuropäer als die vordringlichsten Aufgaben in den siebziger Jahren? Über diese Frage hat ein vom „International Dialogue Committee“ veranstaltetes Seminar im mexikanischen Cuernavaca in April eine Woche lang diskutiert. Daß gerade Mexiko als Begegnungsstätte auserkoren worden war, kam schon beinahe einer Vorentscheidung der Prioritätsfrage gleich, da damit bekundet werden sollte, daß man dem Problem „Lateinamerika“ eine vorrangige Bedeutung beimißt.

Weiters bot das vom rebellischen Priester Ivan Illich geleitete „Anti-Institut“ in Cuernavaca, das sich in besonderem Maße mit den Problemen Lateinamerikas beschäftigt und eine Anzahl profilierter lateinamerikanischer Intellektueller und Politiker beherbergt — oder ihnen Asyl gewährt —, einen idealen Rahmen für ein solches Seminar.

Nicht zuletzt aber kam die Wahl Cuernavacas einer Solidaritätskundgebung für Ivan Illich und seinen schöpferischen Kampf wider alle repressiven Institutionen in Kirche, Schule und Staat gleich.

Ivan Illich begann mit der Frage, ob nicht für uns alle dem Problem der Technokratie die Priorität zukomme. Er glaubt, daß wir in dreifacher Weise durch die Herrschaft der Technik gefährdet werden: durch die von der Technik provozierte Zerstörung unserer natürlichen Umwelt; durch die Einwirkungen der Technik auf das gesellschaftliche Leben und durch die dadurch bewirkte Unfähigkeit des Individuums, seine wahren Bedürfnisse — die nicht technischer Natur sind — zu befriedigen.

Der amerikanische Politologe Harvey Wheeler sekundierte: das Hauptproblem der Zukunft ist das Verhältnis von Wissenschaft/Technik und Gesellschaft. Deshalb ist so etwas wie ein Gesellschaftsvertrag zwischen Wissenschaft und Gesellschaft nötig. Heute verfügen die Wissenschaftler nicht selbst über die Resultate ihrer Arbeit, und es muß dafür gesorgt werden, daß die Wissenschaftler verantwortlich werden für die Folgen ihres Tuns.

Für den amerikanischen Wissenschaftler und Philosophen John Wilkinson stellt sich hier ein Sprachproblem: die Technologie hat das Gesicht unserer Welt weit stärker verwandelt als irgendetwas anderes, und wir müssen eine neue Sprache lernen, um diese Technologie wieder in den Griff zu bekommen. Für Wilkinson muß das eine mathematische Sprache oder die Sprache einer Systemtheorie sein, die es uns ermöglichen soll, alle unsere Begriffe von Gerechtigkeit, Autorität usw. so zu verändern, daß sie die neue Realität der Technologie mitumfassen können.

Dieser Ansicht wurde allerdings widersprochen, vor allem von Günther Nenning, für den die Verlagerung der Technologie-Problematik auf das Gebiet der Sprache eine unzulässige Ideologisierung darstellt. Nicht die Sprache, sondern die Gesellschaft gilt es zu wandeln.

In einem brillanten Referat über „Dialog und Untergrund“ versuchte der Wiener Historiker Friedrich Heer jedoch aufzuzeigen, daß dem Problem der Sprache in der politischen Auseinandersetzung doch eine entscheidende Bedeutung zukommt. (Abdruck in diesem Heft.)

Der protestantische Pariser Theologe Georges Casalis hielt Heer entgegen, Sprache sei nur der Ausdruck politischer, ökonomischer, gesellschaftlicher Strukturen, die es als solche zu analysieren gelte.

Auch für Max Geiger, den Baseler protestantischen Theologen, geht es wesentlich um die Frage einer qualitativ neuen Gesellschaft, die er im Dialog mit Herbert Marcuses „Versuch über die Befreiung“ erörterte. Marcuses Alternative ist letztlich eine ästhetische Ordnung, er sieht in der Macht der Schönheit die wahre Qualität der Freiheit. Aber Marcuse versäumt es zu sagen, auf welche Weise in seiner ästhetischen Ordnung Autorität, Gesetz, öffentliche Dienste usw. verwaltet werden sollen.

Hier entspann sich zunächst eine Diskussion über die gesellschaftliche Relevanz des Schönen. Friedrich Heer begreift Schönheit nicht als Ästhetik, sondern als schöpferischen Prozeß. Schönheit ist für ihn die wichtigste Dimension des Lebens und durchaus auch eine politische Aufgabe. Was hingegen heute unter Schönheit verstanden wird, ist nur Opium des Volkes, das im Interesse des Establishments verabreicht wird.

David Barkin, ein junger, radikaler amerikanischer Nationalökonom, der am Colegio de Mexico doziert, wies auf die große Diskussion in Kuba hin, in der es um die Frage geht, ob man zur Organisation der Gesellschaft des materiellen Anreizes bedürfe oder ob man die Menschen auch durch nichtmaterielle Anreize — etwa den Appell an Solidarität — für eine qualitativ neue Gesellschaft gewinnen könne. Gelänge dies und könnte man sich von der Warenwirtschaft mit ihrem Prinzip des Kaufens und Verkaufens befreien, dann käme man in die Nähe einer ästhetischen Ordnung im Sinne Marcuses.

Der radikal-linke chilenische Literaturprofessor José Maria Bulnes glaubt ebenfalls an die Macht der Schönheit, die er mit dem Licht der Wahrheit identifiziert.

War so selbst von erklärten Revolutionären das Prinzip der Schönheit gerettet, so provozierte Max Geigers These, eine menschliche Gesellschaft sei nur im Rahmen von Autorität, Gesetz, Schuld und Tod denkbar, zum Teil heftigen Widerspruch. Günther Nenning meinte, das Beharren auf Autorität und Gesetz habe immer ideologischen Charakter gehabt.

Der linkskatholische Wiener Psychoanalytiker Wilfried Daim sekundierte: die These, Autorität sei immer nötig, sei immer nur zur Unterstützung der Konservativen verwendet worden.

Georges Casalis betrachtet es als einen Fehler, Autorität und Gesetz auf dieselbe Ebene wie Schuld und Tod zu stellen. Worauf Max Geiger antwortete, er habe in der Theologie gelernt, individuelle Existenzprobleme nicht von den gesellschaftlichen zu trennen.

Diese Diskussion führte zwar zu keinem Konsensus, aber sie rückte ein Grundproblem allen Bemühens um eine qualitativ neue Gesellschaft in den Mittelpunkt: die Frage, inwieweit ein utopischer oder eschatologischer Revolutionarismus à la Marcuse, der sich strikte weigert, menschliche „Begrenzungen“ anzuerkennen, im Endeffekt nicht entweder reaktionären Mächten in die Hände arbeitet, da sie als realitätsnaher erscheinen, oder selbst reaktionär entartet, indem er nur zerstört und unfähig bleibt, aufzubauen. Damit war das Problem der Revolution aufgeworfen.

Wilfried Daim vertrat die These, auf dem Umweg über die Dritte Welt könnten die beiden anderen Welten — der westliche Kapitalismus und der östliche Sekundärkapitalismus — revolutioniert werden. Er gab als christlicher Sozialist der Hoffnung Ausdruck, der Durchbruch möge in Lateinamerika, das über eine christliche Tradition verfüge, gelingen. Die Dritte Welt kann auf die erste und zweite zurückwirken, wenn es ihr gelingt, die Wiederholung der Fehler zu vermeiden, die die beiden anderen Welten begangen haben, und Modelle zu verwirklichen, die zu realisieren den anderen nicht gelang. Vor allem böte sich den Christen in der Dritten Welt die Chance, hier das zu vollbringen, was ihnen in der ersten mißlang: eine revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft. In Lateinamerika könnten die Christen sogar eine führende Rolle übernehmen. Die päpstliche Enzyklika „Populorum Progressio“ sei ein strategisches Anzeichen dafür, daß die Kirche vom Kapitalismus zum Sozialismus hinüberwechsle.

Für Prälat Leopold Ungar aus Wien, den politischen Berater von Kardinal König, gibt es keine Strategie des Vatikans, sondern bloß eine Tendenz zum Modus vivendi mit allen Mächten. Im übrigen habe „Populorum Progressio“ keine große Wirkung auf die Dritte Welt ausgeübt, wohl aber etwa den Sozialisten in Österreich geholfen.

Georges Casalis meinte, die Papstreise nach Bogotá sei eine „Anti-Populorum-Progressio“ gewesen. Wenn Daim die Situation der Dritten Welt heute mit derjenigen Rußlands im Jahre 1917 identifiziere, dann sei dazu zu sagen, daß auch die Großmächte die Dritte Welt als das schwächste Glied in ihrer Kette betrachten, weshalb sie die Dritte Welt entsprechend scharf kontrollierten. Mit Hilfe eines Neokolonialismus verwandelten die Großmächte zum Beispiel die politische Unabhängigkeit der afrikanischen Staaten in wirtschaftliche Abhängigkeit. Eine Revolution in den von Frankreich abhängigen Gebieten Afrikas würde zu einer direkten Intervention Frankreichs führen. Er glaube auch nicht, daß die USA Allende in Chile hinnehmen könnten.

Er fürchte, die Hoffnung auf eine Revolution in der Dritten Welt könnte für uns ein Alibi werden, selbst nichts zu tun. Solange es aber kein sozialistisches Frankreich gebe, erwartet er keine Revolution in Afrika. Der Chilene José Maria Bulnes wunderte sich: Warum soll es heute für die Dritte Welt schwierig sein, Revolution zu machen? Die einzigen, die in den letzten Jahrzehnten Revolutionen durchgeführt haben, waren Länder der Dritten Welt, man denke an China und Kuba.

Und was die sogenannte Hilfe der Ersten an die Dritte Welt anbelange: vor der Französischen Revolution fragten die Adeligen, wie man dem Dritten Stand helfen könne, aber die Französische Revolution ist durch eben diesen Dritten Stand gemacht worden. Der Begriff „Dritte Welt“ ist vielleicht in Analogie zum Begriff „Dritter Stand“ geprägt worden. Man meint mit der Dritten Welt die Welt der Revolution, und auch ihr gegenüber beteuert man seine Hilfsbereitschaft. Von einer solchen Hilfe will Bulnes nichts wissen.

Für Casalis stellte sich die Frage nach den Prioritäten in den siebziger Jahren primär auf dem Gebiete der Theologie. Jeder müsse heute zu seinen Quellen zurückkehren, um seine Identität zu finden. Er zitierte Hromádka: In einer Gesellschaft, die sich bloß aus halben Marxisten und halben Christen zusammensetzt, droht man dem Immobilismus zu verfallen. Hoffnung gibt es nur, wo authentische Christen und Marxisten einander begegnen. Aber der Dialog zwischen Christen und Marxisten muß sich anderen Dialogpartnern öffnen. Die Theologie muß lernen, sich als Anthropologie und als ein politisches Geschehen aufzufassen. Ihr kommt die Aufgabe zu, das historische Christentum radikal zu kritisieren, vor allem das Haben, das Wissen und die Macht der Kirche. Die Theologie muß Stellung nehmen im Kampf für die Befreiung aller Menschen, die Opfer von Systemen der Unterdrückung sind.

José Maria Bulnes schüttelte den Kopf: Das sei alles allzu idealistisch. Eine Revolution werde nicht begonnen — entweder ist man drin oder man ist nicht drin. Im übrigen ist Freiheit nicht rationale Wahl, sondern einfach der Beginn von etwas Neuem, von dem man noch nicht weiß, wohin es führt.

Hier brach auf, was Ivan Illich eine schmerzliche Inkompatibilität der Dialogpartner nannte. In der Tat hatte es sich im Verlaufe des Seminars immer wieder ergeben, daß ein Dialog zwischen den Europäern und Amerikanern einerseits und dem ebenso gebildeten wie persönlich gewinnenden Chilenen José Maria Bulnes anderseits nicht oder nur für Augenblicke möglich war, da dieser einen solchen Dialog gar nicht wünschte. Bulnes’ Haltung dürfte weitgehend repräsentativ sein für diejenige der lateinamerikanischen radikalen Linken.

Für die negative Dialektik von Bulnes steht jeder Amerikaner oder Europäer, auch der progressivste, so sehr unter dem Bann seines Systems, daß er trotz gutem Willen dessen Gefangener bleibt.

Selbst Wilfried Daim, enfant terrible der österreichischen Politik und Vater der Initiative zur Abschaffung des Bundesheeres, sagte in aller Freundschaft zu Bulnes, er könne sich dessen Haltung nur mit Hilfe psychoanalytischer Begriffe erklären.

Aber es handelte sich in keiner Weise um einen „Sonderfall Bulnes“; daß dessen Haltung tatsächlich repräsentativ ist, bestätigte Ivan Illich: in den zehn Jahren seines Aufenthalts in Mexiko habe es nur ganz wenige Momente der Kommunikation zwischen ihm und Vertretern der Dritten Welt gegeben; die Kluft zwischen den beiden Welten sei viel tiefer, als man gemeinhin annehme. Dabei ist Illich die Kommunikation in Person.

So ist vielleicht das entscheidende Ergebnis dieses Dialog-Seminars, daß ein schöpferischer Dialog zwischen progressiven bis radikalen Europäern und Amerikanern einerseits und revolutionären Lateinamerikanern anderseits nur äußerst schwer oder überhaupt nicht möglich ist.

Insbesondere die europäischen Teilnehmer am Cuernavaca-Seminar hatten es zunächst bedauert, daß nicht mehr Vertreter Lateinamerikas zu diesem Dialog erschienen waren — es befanden sich deren mehrere in Cuernavaca, aber sie zeigten sich desinteressiert —, und Friedrich Heer meinte scherzhaft, es fehle in der Seminarrunde der Popocatepetl (der mehr als 5000 m hohe Vulkan, ein Wahrzeichen Mexikos). Aber in der letzten Dialogrunde stellte Heer mit einem Blick auf Bulnes fest: „Der Popocatepetl ist doch gekommen.“

Mit Vulkanen aber, selbst erloschenen, ist schwer ein Dialog zu führen. Auch die Frage der Prioritäten stellt sich ihnen nicht. Sie sind sich selbst genug und warten nur auf den rechten Augenblick, wieder aktiv zu werden. Hier drängt eine Elementarmacht zur Eruption — was braucht sie sich um eine Handvoll superweiser europäischer Intellektueller zu kümmern, die den schweren Ballast ihrer Tradition mitschleppen und die doch zu Hause genug eigene Probleme zu lösen hätten.

Trotzdem — Lateinamerika wird keine chienesische Mauer um sich herum errichten können. Es hat sich heute auf den Weg gemacht, seine Identität zu finden, und da ist ein Sichverschließen gegen die Umwelt verständlich. Aber gerade die Identität verlangt Dialog; wie kann man anders zu sich selbst kommen als in der ständigen Auseinandersetzung mit anderen? Früher oder später wird es zum Dialog mit Lateinamerika kommen, und es gehört zweifellos zu den Prioritäten der siebziger Jahre, uns darauf vorzubereiten. Denn einfach wird er nicht sein.

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