Heft 4-5/2006
März
2006

Der Holocaust und Steyr

Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden betraf nicht nur Menschen aus anderen Städten und Ländern, wie man den Eindruck nach dem Lesen mancher Geschichtsbücher haben könnte, und sie geschah nicht nur weit weg, wie etwa im großen Vernichtungslager Auschwitz oder der weißrussischen Stadt Minsk. Es ist nicht so, wie ein ehemaliger Steyrer Stadtrat in den 1990er Jahren zu mir sagte, als ich ihm den Wunsch nach der Errichtung einer Zeitgeschichte-Werkstätte in der ehemaligen Baracke des KZ — Steyr unterbreitete, dass KZ und „das alles“ mit Steyr nichts zu tun hätte.

Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden hat einen vielfachen Bezug zu Steyr, weil sie auch Steyrer Juden und Jüdinnen betraf, und weil es auch Steyrer TäterInnen gab.

„Vergast in Polen“ steht auf dem Grabstein von Julie Böck, einer Steyrer Jüdin, die auf der Ennsleite wohnte. Wenn ich mit SchülerInnen eine Führung auf den Jüdischen Friedhof mache, dann beginne ich immer mit diesem unscheinbaren Grabstein am Steyrer Urnenhain, um zu zeigen, das Auschwitz und die Verfolgung und Ermordung der Juden auch etwas mit Steyr und Steyrern zu tun hat.

Ich werde im Folgenden sieben Bezugs- und Berührungspunkte dieser Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zu Steyr darlegen:

1) Jüdische Schüler als Opfer des Holocaust

In einer mühsamen Recherche konnte ich neun Schüler der k. k. Staats-Oberrealschule Steyr, heute BRG Steyr, Michaelerplatz, namentlich erfassen, die Opfer des Holocaust wurden. Ich konnte herausfinden, wann sie diese Schule besucht haben und in welchem Jahr sie deportiert wurden. Wenigstens ihre Namen sollen genannt werden, damit ihr Schicksal nicht in der Anonymität untergeht. Opferzahlen allein lassen uns meist kalt und sagen über die Person und das individuelle Lebensschicksal eines Menschen nichts aus. [1]

Garde Hugo ermordet 1944
Garde Rene unbekannt vermutlich ermordet
Garde Walter ermordet 1944
Grünwald Jakob Auschwitz 1944
Kornfein Ludwig Sobibor 1943
Sommer Josef Izbica 1942
Schulz Artur Nisko 1939
Weigner Edmund Izbica 1942
Wurmfeld Karl Theresienstadt 1942

Einen dieser Steyrer Schüler möchte ich beispielhaft herausgreifen; auch weil wir von ihm am meisten wissen: Josef Sommer. [2]

Er war der Sohn von Ludwig und Jenny Sommer, die in Reichraming eine Messingfabrik besaßen. Neben der Forstwirtschaft gab dieser Betrieb als der größte Arbeitgeber 120 Arbeitern Brot und beherrschte das ganze Ortszentrum. Die Familie kam aus Saaz in Böhmen. Einer der Mitschüler von Josef Sommer im Schuljahr 1904/1905 in der vierten Klasse der Staats-Oberrealschule war Adolf Hitler, der die Realschule in Linz verlassen musste und daher nach Steyr wechselte. Wie er sich seinem einzigen jüdischen Mitschüler gegenüber verhielt, wissen wir nicht. Seine Einstellung soll jedoch schon als 15-Jähriger stark antisemitisch geprägt gewesen sein. Von einem jüdischen Lehrer, der Physik oder Chemie unterrichtete, schrieb er später voller Verachtung. In Religion wurde der 14-jährige Josef Sommer von Heinrich Schön unterrichtet. Gekannt hat Hitler den Steyrer Rabbiner und Religionslehrer ob der geringen Anzahl von Lehrern bestimmt. Ob er ihm jemals begegnete, wissen wir nicht. Aufgrund seiner antisemitischen Einstellung ist eine Geringschätzung ihm gegenüber anzunehmen, wenn nicht sogar Hass. Geäußert hat sich Hitler über ihn aber nirgends. Josef Sommer maturierte 1908 mit Auszeichnung und studierte dann an der Technischen Hochschule in Zürich, die er als Diplomingenieur abschloss. Später übernahm er den Betrieb seines Vaters und führte ihn mit seinem Schwager, bis beide 1928 Konkurs anmelden mussten. Er beschäftigte sich dann mit Philosophie und schrieb ein Buch über Friedrich Nietzsche, das 1931 erschien. 1938 musste er mit seiner Mutter Reichraming verlassen und nach Wien übersiedeln. Im Mai 1942 wurde Josef Sommer nach Izbica in Polen deportiert und ermordet. Hitler kannte auch bei seinem ehemaligen Mitschüler keine Gnade. Seine Schwester Martha hatte ihm finanziell immer wieder über die Runden geholfen. Sie hatte ständig gehofft, dass sie nicht so schnell an die Reihe kommt, aber leider umsonst, wie sie in ihrem letzten Brief an ihren Bruder schrieb. Sie wurde einige Monate vor ihm nach Theresienstadt deportiert und dann in Auschwitz ermordet. Ein Foto, das seine Verwandten von ihm aufbewahren, zeigt Josef Sommer als ruhigen und ausgeglichenen Mann. Das Bild ist alles, was von ihm geblieben ist. Kein Grab, kein Gedenkstein. Von den meisten anderen Schülern gibt es nicht einmal ein Bild.

2) Das Schicksal dreier Töchter der Steyrer Rabbinerfamilie Schön [3]

Acht Kinder hatten der Steyrer Rabbiner Heinrich Schön und seine Frau, zwei Buben und sechs Mädchen. Eines dieser Mädchen war Ida. Sie ging später nach Wien und blieb zu Hause, um den Haushalt ihrer Mutter zu führen. Hanna M. — sie ist 80 Jahre alt und lebt in Australien — erinnert sich noch, dass ihre Tante Ida und ihre Großmutter zu ihr als kleines Kind immer sehr lieb waren. 1932 — Hanna war acht Jahre alt — starb ihre Großmutter. Ida wurde am 27.April 1942, genau einen Monat vor ihrem 50.Geburtstag, nach Wlodawa in Polen deportiert, das elf Kilometer vom Vernichtungslager Sobibor entfernt lag. Von den 1.000 nach Wlodawa deportierten österreichischen Juden überlebten nur drei. Ida Schön war nicht dabei. Erst vor drei Jahren erfuhr Hanna vom wirklichen Schicksal ihrer Tante Ida. Bei der Vorstellung, wie sie wohl gelitten haben muss, kamen ihr die Tränen.

Die älteste Tochter Gertrud ging 1925 nach Wien und heiratete dort 1929 einen gewissen Ing. Ignaz Mautner, der in der Simmeringer Waggonfabrik arbeitete. 1941 wurde sie nach Kowno deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt, aber man muss davon ausgehen, dass auch sie ermordet wurde. Die Tante Trude, erzählt Hanna M., hat immer gesagt, dass der liebe Gott nichts Böses zulassen werde.

Die dritte Tochter Klara heiratete mit 24 Jahren im Tempel der israelitischen Kultusgemeinde in Steyr in der Bahnhofstrasse 5 einen Beamten der Hamburg-Amerika-Linie, einer Schifffahrtsgesellschaft, mit dem Namen Pächter, der früh verstarb. Als Witwe zog sie zu ihrer Schwester Elsa nach Wien, erkrankte und musste sich einige Male einer Behandlung in der Pflegeanstalt „Am Steinhof“ unterziehen, bevor sie in die „Heil- und Pflegeanstalt Niedernhart“ nach Linz kam. Von hier wurde Klara Pächter Anfang Juni 1940 — also mit 51 Jahren — nach Hartheim gebracht und höchstwahrscheinlich noch am selben Tag ermordet. Sie gehörte zu den ersten Opfern dieser Euthanasieanstalt. Im Mai 1940 begannen die ersten Transporte nach Hartheim. Die Transportbegleiter und Bürokräfte brachten die Opfer in den Entkleidungsraum. Kleider, Schmuck und persönliche Gegenstände wurden mit Nummern versehen und aufbewahrt. Eine dieser Bürokräfte war die Sekretärin Karoline B., genannt „Lilli“, aus Steyr. Nach dieser ganzen Prozedur kamen die Opfer mit 30 bis 60 anderen in die Gaskammer, die als Brausebad gekennzeichnet war. Nach ca. 10 bis 15 Minuten trat der Tod ein. Nach Entnahme des Zahngoldes wurden sie im Krematorium verbrannt. Die Bürokräfte hatten die Aufgabe, die massenhafte Ermordung möglichst zu tarnen. Wie üblich wurden die Angehörigen über das wahre Schicksal belogen — in ihrem Fall hieß es, sie sei nach Brandenburg verlegt worden. Nach drei Wochen traf wahrscheinlich, wie in allen anderen Fällen, die Meldung von ihrem Ableben ein. Als Todesursache wurde zumeist Herzschwäche oder Lungenentzündung angegeben.

Der „Büroleiter“ war für den verwaltungstechnischen Ablauf der Massentötungen verantwortlich. Ende 1940 wurde der Steyrer Kriminalbeamte Franz Reichleitner stellvertretender Büroleiter von Hartheim. Hier lernte er wie viele andere auch Organisation, Durchführung und Methode der Massentötungen kennen. Er wurde beschrieben als perfekter Bürokrat, der seine Tötungsmaschinerie mit Präzision vom Schreibtisch aus steuerte. Als sein Chef Franz Stangl Kommandant von Treblinka wurde, wird Reichleitner im September 1942 Kommandant des polnischen Vernichtungslagers Sobibor. Offiziell wurde aber von einer Versetzung zur Gestapo nach Linz gesprochen. Ingesamt wurden in Sobibor von März 1942 bis Herbst 1943 250.000 Menschen durchwegs jüdischer Herkunft ermordet. Allein in der Zeit, als der ehemalige Steyrer Kriminalbeamte Franz Reichleitner Lagerkommandant war, September 1942 bis Oktober 1943, dürften zwischen 150.000 und 200.00 Juden ermordet worden sein. Darunter war auch der 52-jährige Steyrer Ludwig Kornfein, ein ehemaliger Schüler der k.u.k. Staats-Oberrealschule Steyr. Nach einem Aufstand im Lager im Oktober 1943 wurde Reichleitner nach Italien oder Jugoslawien versetzt und dort Anfang 1944 von Partisanen getötet. Offiziell hieß es, ‚im Dienst verstorben’.

Klara Pächters Name ist auf dem Grabstein ihrer Eltern in Wien am Zentralfriedhof zu lesen. Hanna M. hat sich gefreut, als sie erfahren hat, dass das Grab ihrer Großeltern und ihrer Tante Klara noch besteht. Auch im Gedenkraum der Lern- und Gedenkstätte Hartheim ist ihr Name auf einer Glasplatte neben vielen tausend anderen Namen zu finden.

3) Steyrer Opfer in Auschwitz und eine Überlebende

Julie Böck, ich habe sie schon genannt, wurde in Auschwitz ermordet, auch Jakob Grünwald, dessen Vater Rohproduktenhändler in der Gleinkergasse 23 war. Ich habe ihn schon unter den Schülern erwähnt. Es gibt aber noch einige weitere Opfer, wenn wir nur einmal Auschwitz herausgreifen:

  • Der in Steyr geborene Bankbeamte Georg Fried wurde am 11.9.1942 deportiert. Er wohnte am Wieserfeldplatz 27 und ging dann nach Wien.
  • Hans Fürnberg, dessen Vater Taschnermeister in der Kirchengasse 12 war, wurde 1943 in Auschwitz ermordet.
  • Otto und Ida Popper wurden am 19.April 1943 nach Auschwitz deportiert. Sie wohnten am Wieserfeldplatz 27 [4]
    Otto Popper [5] schrieb das Drama „Freiheitsdrang“, das Volksstück „Die Heimatlosen“ und die Komödie „Das Warenhausfräulein“, sein berühmtestes Werk. 1914 wurde dieses Stück als Benefizveranstaltung mit großem Erfolg in Steyr aufgeführt. [6] Er schrieb auch noch Operettentexte.

Die Tochter der beiden, Heli Seinfeld, geb. Popper überlebte Auschwitz. Sie schildert:

Der alltägliche Horror nahm seinen Anfang: das stundenlange Appellstehen, die Arbeitskommandos, die Essensausgabe, morgens ein Stück Brot mit Margarine, und nach der Arbeit Suppe, in der etwas Undefinierbares schwamm. Im Lager wurden aus Menschen Tiere. Man bestahl einander, man organisierte sich Dinge, nur um zu überleben. Hunger war der ständige Begleiter. In den Baracken weinten die Menschen nach ihren Angehörigen. Filzläuse, Krätze und Durchfall schwächten den Körper, aber auch die Moral. Wir wussten auch von den Vergasungen, weil wir die Gaskammern sahen. ...Bei Neutransporten wurden die Alten und Kinder sofort vergast, das wussten wir. Wir sahen Leute hineingehen, und heraus kam niemand mehr. Heraus kam nur der Gestank vom Rauchfang. Und dann denkst du: Nächstes Mal bist du dran. [7]

4) Arbeitslager für Juden Steyr / Juden im KZ Steyr

Von 1941 bis Anfang 1942 bestand in Steyr im Stadtteil Münichholz ein Arbeitslager für Juden. Es dürfte sich um ein Außenlager des Umschulungslagers „Gut Sandhof“ in Windhag unweit von Waidhofen/Ybbs gehandelt haben, das die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ dort einrichtete. Das „Gut Sandhof“ ist als „KZ-ähnliches Lager“ einzustufen. Das dürfte auch für dessen Außenlager gelten. [8] In der Münichholzer Pfarrchronik erwähnt P. Meindl einmal eine Judenkolonie. „Im Stadtverwaltungslager (rechts der Haidershofnerstraße) war einmal eine Judenkolonie (mit Stern); sie sind bald verschwunden.“ Ich glaube, dass er damit dieses Arbeitslager meint. Vermutlich wurden die Juden beim Bau des Wälzlagerwerkes der Steyr-Daimler Puch AG eingesetzt. [9]

Im KZ Steyr-Münichholz gab es zwischen 50 und 150 jüdische Häftlinge, von 1500 bis ca. 3000 Häftlingen. Die beiden Juden Josef Weinberger (Häftlingsnummer 88733) und Moses Ganz (Häftlingsnummer 88394) wurden nachweislich im KZ Steyr umgebracht. [10]

Der aus Krakau stammende und heute in den USA lebende „Schindlerjude“ Harry Freundlich schildert einen Vorfall im KZ Steyr:

… eines schönen Tages, als wir vor unserer Baracke standen, sahen wir einen kleinen jüdischen Mann, den wir ‚Zaide’ nannten. Er fing an, uns entgegen zu gehen und sagte: Setzen wir uns hier ins Gras oder auf den Stein, ich möchte euch etwas erzählen’. Er sagte uns, dass nächste Woche Rosh Hashana und sieben Tage später Jom Kippur sei. Wir alle sagten: ‚Zaide, wie kannst du das wissen, wann die Feiertage sind, wenn wir nicht einmal die Stunde oder den Tag kennen’. Er wusste es einfach. Ungefähr eine Woche später, als wir vom Appell entlassen wurden und uns auf den Weg zur Arbeit machten, sahen wir einen Mann, der tot am Boden lag, aber wir konnten nicht sehen, wer es war. Als wir später von der Arbeit zurückkamen, fanden wir heraus, dass es ‚Zaide’ war. Wir waren alle froh, weil er nicht mehr leiden würde müssen. Gott hat ihn erhört und ihn weggenommen. Unser Leben schien mit der Zeit immer schlimmer zu werden. Wir waren hungriger, schmutziger und sehr schwach. Die Kranken hatten Angst, im Lager zu bleiben und nicht zur Arbeit zu gehen, weil sie wussten, dass sie umgebracht würden. Tag für Tag starben Menschen an Krankheit und Hunger. [11]

5) Auch in Steyr wurden Juden verbrannt

Am 28.Oktober 1940 wurden im Städtischen Krematorium u.a. vier Juden und eine Jüdin, die am 23.10.1940 in Mauthausen umgebracht wurden, verascht. Ihre Namen sind:

Levon Postmann, Sigmund Somerisch, Israel Diamant, Philipp Weisz und Sara Abramovici. Auch die beiden im KZ Münichholz umgebrachten Juden, Josef Weinberger und Moses Ganz wurden hier eingeäschert. [12]

Der Leiter der Städtischen Bestattung profitierte finanziell an jeder in seinem Krematorium verbrannten Leiche. Er unterhielt deshalb einen guten Kontakt zur SS, um möglichst viele Leichen aus Mauthausen zu bekommen. Nach dem Krieg wurde er dafür verurteilt. [13]

6) Der Steyrer Otto Perkounig in Radom

Ende 1939 übernahm die Steyr-Daimler Puch AG die polnische Waffenfabrik in Radom. 1800 Juden, also ca. 50 % der Belegschaft, arbeiteten hier an der Produktion von Gewehren und Pistolen. Werkschutz und SS gingen mit Terrormethoden und Brutalität vor, um Sabotage zu verhindern und die Arbeitsleistung zu erhöhen. Im Lager in der Szkolnastraße nahe der Fabrik spielten sich unbeschreibliche Szenen ab: willkürliche Erschießungen, Vergewaltigungen, Misshandlungen; einmal wurden an einem Tag 25 Kinder erschossen. [14] Der 1915 in Steyr geborene Werkmeister Otto Perkounig war von 1941 bis 1944 in Radom tätig. Er war Mitglied der SS und wurde nach dem Krieg in einer Zeitungsmeldung als „Schlächter vom Radom“ bezeichnet. [15] In der eidesstattlichen Erklärung von Rachmil Frydlewski von 1947 heißt es: „Perkounig war der meist gefürchtete Mann in Radom und hat den Tod von hunderten Häftlingen verschuldet. Perkounig hat auch Frauen nackt ausgezogen und geschlagen.“ [16]

1953 wurde Perkounig vor dem Volksgericht Innsbruck angeklagt, nachdem er schon 1945 und 1947 einmal verhaftet wurde. Zeugen, die Perkounig belasteten, konnte das Gericht scheinbar nicht auftreiben, da die meisten schon in ihre Heimatländer zurückgekehrt waren. Den schriftlichen Berichten schenkte das Gericht keinen Glauben. Es traten nur Entlastungszeugen auf und das Gericht entschied: Im Zweifel für den Angeklagten. [17] Elisabeth Tschellnig schreibt in ihrer Diplomarbeit über Otto Perkounig:

Als einfacher Werkmeister hatte er plötzlich ‚unumschränkte Macht’, auch jene ‚über Leben und Tod’. Die Verhältnisse im polnischen Steyr-Daimler-Puch Werk und im angeschlossenen Zwangsarbeitslager ... standen den Verhältnissen im Vernichtungslager Auschwitz um nichts nach ... [18]

1968 wurde der Akt Perkounig von den Gerichten endgültig geschlossen.

7) Der Todesmarsch ungarischer Juden durch Steyr

Im April 1945 wurden tausende Juden durch das Enns- und Steyrtal nach Mauthausen getrieben. Ausgehungerte und ausgemergelte Jammergestalten schleppten sich auf der Straße dahin. Oft blieb ihnen nichts Anderes, als Gras und lebende Schnecken zu essen, vor lauter Hunger. Volkssturmleute bewachten sie und ließen ihrem Sadismus freien Lauf. Die Häftlinge wurden getreten, geschlagen, erschlagen und erschossen. Vereinzelt gab es auch Leute aus der Bevölkerung, die ihnen etwas zustecken wollten oder gekochte Erdäpfel an den Straßenrand stellten, was ein hohes Risiko darstellte. Dieser Todeszug bewegte sich auch durch Steyr. Erst vor kurzem aufgefundene Zeugenaussagen schildern Details dieses Todesmarsches innerhalb des Stadtgebietes von Steyr. [19]

Am Sonntag, den 14.April 1945 fuhr beim Friedhof ein Lastkraftwagen vor, der 29 zum Teil tote Kriegsgefangene geladen hatte. ...Die Leichen wurden von russischen Polizeihelfern der Schutzpolizei abgeladen. Ich ließ die Leichen auf den Rasen des israelitischen Friedhofs legen. Sieben davon gaben noch Lebenszeichen von sich. Sie machten sich durch leises Stöhnen und Bewegung der Gliedmaßen bemerkbar. Sie waren jedoch sämtliche im Sterben. Wie viele von ihnen Schussverletzungen aufwiesen, weiß ich nicht. Ganz bestimmt weiß ich, dass zweien von ihnen die Schädeldecke zertrümmert und abgehoben war. Bei einem der beiden war auch der linke Unterarm zerschmettert. [20]

Der Zug ging über die Redtenbacherstraße zur Wehrgrabengasse, Direktionsstraße, Wieserfeldplatz, Gleinkergasse und Artilleriestrasse zum Exerzierplatz beim Stadtgut in Dornach. Als beim Beginn der Direktionsstrasse der Zug stockte, trug eine Frau in einem Papier Kartoffelschalen zu den Gefangenen. Diese fielen über die Schalen her und es begann unter ihnen eine Rauferei, wobei einer an der Stirn blutete...In der Ennserstraße rissen die Gefangenen das Gras aus und aßen es. [21]

Ich glaube, diese sieben Bezugspunkte zu Steyr zeigen und bestätigen, dass der Holocaust nicht nur anderswo und fern von dieser Stadt vor sich gegangen ist, sondern dass er auch mitten in Steyr stattgefunden hat. Sie zeigen aber auch, dass sich SteyrerInnen in anderen Orten und Städten daran aktiv beteiligt haben und dass darüber in Steyr selbst wenig bekannt ist.

Ich glaube, dass durch die jahrelangen Bemühungen des Mauthausen Komitees Steyr und des Museums Arbeitswelt schon viel gegen das Vergessen dieses dunkelsten Kapitels unserer jüngsten Geschichte getan wurde. Am 8. November 2006 wird, angeregt durch das Mauthausen Komitee Steyr, an der Außenmauer des BRG Steyr eine Gedenktafel für die neun jüdischen Schüler enthüllt, die Opfer des Holocaust wurden. Geplant ist auch eine Gedenktafel am Jüdischen Friedhof mit den Namen aller Steyrer Holocaust-Opfer. Die Arbeit des Gedenkens und Erinnerns bleibt für uns auch weiterhin eine wichtige Aufgabe.

Referat zur Eröffnung der Ausstellung „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden 1933-1945“ am 9. November 2004 im Museum Arbeitswelt Steyr. Für diese Veröffentlichung wurden geringfügige Veränderungen und Ergänzungen vorgenommen.

[1Personaldatei des Verfassers; Datenbank der Holocaustopfer des DÖW, Daten von Yad Vashem

[2Vgl. Karl Ramsmaier, Hannas Familie, in: Erich Hackl / Till Mayrhofer, Das Y im Namen dieser Stadt. Ein Steyr Lesebuch, erscheint Ende 2005; vgl. auch: Waltraud Neuhauser-Pfeiffer / Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr, Grünbach 1998, S. 76 und 120-122.

[3Vgl. Karl Ramsmaier, Hannas Familie, a.a.O.

[4Waltraud Neuhauser-Pfeiffer / Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren. Die Geschichte der Juden in Steyr, Grünbach 1998, S.162 ff.

[5Krakowitzer / Berger, Biografisches Lexikon des Landes ob der Enns, seit 1800, S. 240.

[6Alpenbote Nr. 82 von 15.11.1914, S.3.

[7Waltraud Neuhauser-Pfeiffer / Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren, a.a.O. , S. 300.

[8Oberösterreichische Gedenkstätten für KZ-Opfer. Eine Dokumentation. Hg. Oö. Landesarchiv, Linz 2001, S.194.

[9Waltraud Neuhauser-Pfeiffer / Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren, a.a.O., S.191.

[10Ebd., S.190.

[11Ebd., S.196.

[12Ebd., S.190.

[13Ebd., S.189.

[14Ebd., S.202.

[15Elisabeth Tschellnig, „Uns kann nichts geschehen: Gewinnen wir den Krieg, sind wir Deutsche, verliert Deutschland den Krieg, sind wir Österreicher.“ Der Kriegsverbrecherprozess gegen Otto Perkounig vor dem Volksgericht Innsbruck im Jahre 1953, Dipl. Arbeit an der Universität Innsbruck, S.1.

[16Waltraud Neuhauser-Pfeiffer / Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren, a.a.O., S.202.

[17Elisabeth Tschellnig, a.a.O., S.69-72.

[18Ebd., S.74.

[19Waltraud Neuhauser-Pfeiffer / Karl Ramsmaier, Vergessene Spuren, a.a.O., S.204 und 220.

[20Zeugenaussage von Josef A. von 21.5.1946, OÖLA, Volksgerichtsakten Vg 10 Vr 869/46 Sch 15 Verfahren gegen A. R., S.39.

[21Zeugenaussage von Josef W. von Mai 1946, OÖLA, Volksgerichtsakten Vg 10 Vr 869/46 Sch 15 Verfahren gegen A. R., S.38.

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