Heft 1/2000
Februar
2000

Antimilitarismus in der Türkei

Der türkische Staat führt seit 15 Jahren Krieg. Die Friedensarbeit gestaltet sich dementsprechend schwierig.

Zwei Ereignisse haben die Türkei in diesem Jahr nachhaltig erschüttert: die Entführung und Verhaftung von Abdullah Öcalan und das Erdbeben von Ismit. Der Prozeß gegen Öcalan und seine vorherzusehende Verurteilung zum Tode konnte zwei Dinge in der europäischen Öffentlichkeit deutlich werden lassen. Es wurde abermals klar, mit welch nationalistisch-chauvinistischer Macht die türkische Regierung und die Medien im Konflikt um Kurdistan agieren. Der „Satan sei hinter Gittern“ titelte die „Sabah“, eine der größten türkischen Zeitungen, am 17. Februar vergangenen Jahres, und die türkische Regierung vermeldete ihren größten Erfolg in der Terrorismusbekämpfung. Der nachfolgende Gerichtsprozeß ließ erkennen, daß das „Problem“ rasch erledigt werden sollte. Deutlich wurde auch, daß es einen Weg für eine politische, friedliche Lösung geben kann. Abdullah Öcalan und mit ihm die PKK ist in die Offensive gegangen. Mit der Entschuldigung bei den Angehörigen der getöteten Soldaten und mit dem zum 1. September 1999 angekündigten Waffenstillstand hat die PKK das Tor zu einer friedlichen Lösung weit geöffnet. Es gab erste Anzeichen, daß sich der türkische Staat langsam auf eine Verhandlung über eine Lösung zubewegt. Allerdings ist der Fortgang der Dinge noch unentschieden und es liegt unter anderem an den westeuropäischen Regierungen, entsprechenden Einfluß auszuüben. Das fordert die Solidaritätsgruppen auf, ihrerseits Druck auf die jeweiligen Regierungen in ihren Ländern zu entfalten.

Wie auch immer der Prozeß hin zu einer politischen Lösung auf Regierungsebene aussehen sollte, es ist bereits zu diesem Zeitpunkt geboten, an der Basis und in den türkischen und kurdischen progressiven Organisationen für eine Verständigung auf gemeinsame Ziele und Arbeitsweisen im Sinne einer demokratischen Zivilgesellschaft hin zu arbeiten. Noch immer wird die Frage, ob erst die „kurdische Frage“ gelöst werden muß, bevor es zu einer „Demokratisierung“ der Türkei kommen kann oder umgekehrt, polarisierend für die eine oder die andere Variante beantwortet. Die Antwort liegt nicht in der einen oder anderen Möglichkeit, sondern vielmehr in einem gleichzeitigen Prozeß, der als erstes diese Polarisierung innerhalb der kurdischen und türkischen Linken überwinden muß.

Das Erdbeben von Ismit zeigte für die türkische Gesellschaft auf, wie unfähig der türkische Staat ist, angemessen auf die Naturkatastrophe und ihre Folgen zu reagieren. Alle, auch die staatstragenden Medien, prangerten diese Unfähigkeit an. In dieser Situation waren es progressiv-linke Gruppen, die in der Kleinstadt Degirmendere die Rettungs-und Hilfsarbeiten in die Hand genommen haben, und die diese Arbeit basisdemokratisch organisierten. Daß sich Menschen ohne den Staat und auch nicht als Partei, sondern als basisdemokratische, politische Bewegung mit einem konkreten Ziel organisieren, ist eine relativ neue Entwicklung seit dem Militärputsch von 1980. Nur wenigen Gruppen ist es bisher gelungen, über mehrere Jahre hinweg an der Verwirklichung ihrer Ziele zu arbeiten. In mehreren europäischen Staaten haben die Aktionen gegen den geplanten Goldbergbau in Bergama und das auf einer Erdbebenspalte geplante AKW in Akuyu eine begrenzte Öffentlichkeit erlangt. Die Frauenbewegung, bisher ein Anhang an traditionelle Parteien und Gewerkschaften, erarbeitete sich ein eigenes Profil.

Seit 1993 entwickeln sich antimilitaristische Gruppen, deren hervorstechender Ansatzpunkt der vergangenen Jahre die konsequente Kriegsdienstverweigerung und eine Kampagne gegen die Militärjustiz war. Der Fall von Osman Murat Ülke, der bis zum März 1999 zweieinhalb Jahre für seine Kriegsdienstverweigerung in Militär- und Zivilgefängnissen inhaftiert war, ist in Deutschland über einschlägige Friedenskreise hinaus bekannt geworden. Ülke ist Mitglied im Verein der KriegsgegnerInnen Izmir (ISKD), in dem sich KurdInnen und TürkInnen versammeln, um gegen eine tragende Säule des türkischen Staats aktiv zu werden: den Militarismus. Die antimilitaristischen Gruppierungen beschränken sich allerdings nicht darauf, sich gegen eine Struktur zu wehren, die durch einen 15 Jahre andauernden Krieg und den damit verbundenen immensen Rüstungsausgaben die Gesellschaft zu zerstören droht. Ziel des Vereins der KriegsgegnerInnen ist es, auch alternative, gewaltfreie Wege der Konfliktaustragung bekannt zu machen und zu praktizieren. So konnte es dieser recht kleinen Gruppe von Menschen innerhalb von fünf Jahren gelingen, die Begriffe „Gewissensverweigerung“ und „Gewaltfreiheit“, für die es keine türkischen Wörter gab, in der progressiven Linken bekanntzumachen. Die Konzepte, die dahinter stehen, sind aber noch nicht verbreitet und so war es ein wichtiger Schritt, Literatur zu diesem Thema zu veröffentlichen. Aus der Kooperation zwischen dem ISKD, der Deutschen Friedensgesellschaft — Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) und der Bildungs- und Begegnungsstätte für gewaltfreie Aktion KURVE Wustrow sind Veröffentlichungen in deutsch und türkisch hervorgegangen. [1]

Antimilitaristische Vernetzung: Osman Murat Ülke im Gespräch

In der jetzigen Situation, in der viele politische Kräfte in der Türkei das Gefühl haben, in der Sackgasse zu stecken, wollen die antimilitaristischen Organisationen die Ideen gewaltfreier Konfliktaustragung intensiver an MultiplikatorInnen weitervermitteln. Mit Hilfe von Seminaren und Trainings zu gewaltfreier Aktion und Strategie soll eine Vielzahl von Personen in linken Gruppen und in sich im Aufbau befindenden Bewegungen mit alternativen Handlungsweisen bekannt gemacht werden. Dabei kann auf bestehende Aktionsformen wie Hungerstreiks und Aktionen zivilen Ungehorsams zurückgegriffen werden. Der ISKD hat für diese Arbeit personelle Unterstützung aus Deutschland eingeladen. Zwei Friedensfachkräfte der KURVE Wustrow unterstüzen seit dem 1. November diesen Jahres für mindestens ein Jahr die Arbeit im Verein der KriegsgegnerInnen. Sie bringen ihr Wissen aus der Arbeit gewaltfreier Gruppen in Deutschland und den Aufbau ähnlicher Strukturen in Bosnien-Herzegowina ein. Sie unterstützen die Trainingsarbeit und beraten bei der Planung von Aktionen.

Die Anwesenheit der ausländischen Friedensaktivisten verspricht auch einen gewissen Schutz. Der türkische Staat hat sich bisher durch internationale Präsenz zwar wenig beeindrucken lassen, aber kleine Verbesserungen können so dennoch erreicht werden. Für den Bereich Antimilitarismus gibt es seit Jahren ein funktionierendes Alarm- und Informationsnetz. Sollte ein Aktivist oder eine Aktivistin verschleppt und inhaftiert werden, wird im Schnellballsystem eine Briefaktion gestartet, die mit Protestbriefen zumindest die Behandlung im Gefängnis zu lindern vermag.

Inzwischen zeichnet sich ab, daß eine Förderung aus den neuen Mitteln des deutschen Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) für den Aufbau eines Zivilen Friedensdienstes (ZFD) ausgeschlossen ist. Die Friedensarbeit in der Türkei ist auf die politische und finanzielle Solidarität vieler Menschen angewiesen. Strukturen von gewaltfreier Konfliktaustragung brauchen Zeit und Geld, um errichtet zu werden. Ein Einfluß auf gesellschaftliche Veränderungen wird über wenige, aber pointierte Ereignisse, wie zum Beispiel die Verhaftung eines Kriegsdienstverweigerers, die über mehrere Wochen zum öffentlichen Thema gemacht werden konnte, sichtbar werden.

Spenden für das Projekt Friedensarbeit in der Türkei unterstützen können auf das Konto 55 66 33-309 der KURVE Wustrow, Postbank Hannover, BLZ 250 100 30 eingezahlt werden. SpenderInnen werden in das Alarmnetz aufgenommen. Weitere Informationen sind erhältlich bei: KURVE Wustrow, Kirchstraße 14, D-29462 Wustrow, Tel.: 05843-507, Fax 1405

[1Aufstehen gegen Kulturen der Gewalt. KOMZI-Verlag, 1997

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