Hermann Engster, geb. 1942, lebt in Göttingen, Studium der Nordistik und Germanistik, Tätigkeit am Skandinavischen Seminar der Universität Göttingen, danach in der Erwachsenenbildung im Bereich Fremdsprachen, z.Zt. Dozent an der Universität des dritten Lebensalters der Universität Göttingen, Seminare zu Literatur und Opern, Vortragstätigkeit zum Thema „Wagner und der Antisemitismus“, seit 25 Jahren Fan der Wertkritik bei der Krisis und nun auch im Trafoclub der Streifzüge.


Dieser Artikel will eine Erkenntnis wieder ins Bewusstsein rufen, der die Zeit, zu der sie formuliert wurde, nicht günstig war. Es handelt sich um eine Deutung des zweiten Teils von Goethes Faust durch den Germanisten Heinz Schlaffer. Schlaffer ist einer der Scharfsinnigsten seines Fachs und hat (...)

Heine und die Menschenware
Heinrich Heine gilt nach landläufiger Meinung als der romantische Dichter überhaupt. Das ist zu einem kleinen Teil richtig, zu einem größeren aber falsch. Er hat in der Tat einige höchst romantische Gedichte geschrieben, wie z.B. das rätselhafte Der Tod, das ist die kühle Nacht, er beherrscht virtuos (...)

Heinrich Heine, Die Wanderratten Es gibt zwei Sorten Ratten: Die hungrigen und satten. Die satten bleiben vergnügt zu Haus, Die hungrigen aber wandern aus. Sie wandern viel tausend Meilen, Ganz ohne Rasten und Weilen, Gradaus in ihrem grimmigen Lauf, Nicht Wind noch Wetter hält sie auf. Sie (...)

No future for Jenny
Welches ist Ihr Lieblingsbuch, Herr Brecht? – Sie werden lachen: die Bibel. Brecht hat das Gedicht Die Seeräuberjenny 1926 geschrieben, im selben Zeitraum wie die Ballade Von der Kindesmörderin Marie Farrar, einer als Dienstmädchen schuftenden jungen Frau, die ihre (ungewollte) Schwangerschaft (...)

Im Jahr 1848 beschreiben Marx und Engels in ihrem Manifest der Kommunistischen Partei die grundstürzenden Veränderungen, die in Deutschland und Westeuropa mit dem Siegeszug des Kapitalismus und der Herrschaft der Bourgeoisie einhergegangen sind. (In: Die Frühschriften, ed. Landshut, 1971.) In (...)

Ich – eine Zwiebel
Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. (Karl Marx, VI. These über Feuerbach) Henrik Ibsens Drama Peer Gynt, ursprünglich ein dramatisches Gedicht nach der Vorlage (...)

Vorschule der Dialektik
moderiert und dann textlich destilliert von Hermann Engster Das Problem: Ich wollte herausfinden, ob Brechts Kindergedichte auch in der Schulpraxis funktionieren. Die Versuchsanordnung: drei Grundschulen in Göttingen, vier vierte Klassen an jeweiligen Terminen, Buben und Mädchen im Alter von (...)

Kein ärgrer Brauch erwuchs den Menschen als Das Geld! Es äschert ganze Städte ein, Es treibt die Männer weg von Haus und Hof, es wandelt auch die redliche Gesinnung um und lehrt sie hässlichen Geschäften nachzugehn; es unterweist die Menschen in Verschlagenheit, und auch Verbrechen nicht zu scheun (...)

Gefahr der „Umvolkung“
Rezension zu: Heinrich Detering, Was heißt hier „wir“? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Stuttgart: Reclam 2019, 60. S. Politiker/innen der in deutschen Parlamenten vertretenen Rechten beschwören die Gefahr der „Umvolkung“ Deutschlands, mit „Kopftuchmädchen“ und „Messermännern“ als Vorhut (...)

Nachruf Ruth Klüger – Wienerin, Amerikanerin, Göttingerin
Und Jüdin. „In Birkenau bin ich Appell gestanden und hab Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon.“ So berichtet sie in ihren Lebenserinnerungen „weiter leben“. Ein Titel mit bedeutsamer Lücke: weiter leben statt weiterleben. „Schnoddrig“ wurde ihr Stil genannt. Ein Fehlurteil. (...)

Gottfried August Bürger, Citoyen
Zu erinnern ist an den weithin vergessenen Göttinger Dichter Gottfried August Bürger, einen Bürger nicht nur dem Namen nach, sondern auch im idealen Sinn: einen Citoyen. Er ist der Schöpfer der deutschen Kunstballade, der Lenore, einer mitreißenden Schauerballade, veröffentlicht im Göttinger (...)

Peter Samol: Die Leistungsdiktatur
Der Titel ist formuliert gleich der Überschrift zu einer Erzählung, und das Possessivum „uns“ nimmt Leserin und Leser sogleich in diese hinein – tua res agitur. Als Erzählung über uns selbst ist Samols Text angelegt: nicht als deduktive Explikation von der abstrakten Höhe der Theorie, sondern induktiv (...)

Friedrich Engels, Freund
Amicus certus in re incerta cernitur. Der wahre Freund erzeigt sich in unsichrer Zeit. (Marcus Tullius Cicero, 106 – 43 v.u.Z.) Dear Frederick! Lieber Mohr! – so redeten Karl Marx und Friedrich Engels bisweilen einander in ihren Briefen an. (Mohr in Anspielung auf Marx‘ dunklen Teint.) So lautet (...)

Ja heißt Ja und Nein heißt Nein
1771 unternimmt der 21-jährige Goethe zu Pferd Streifzüge durch das Elsass und sammelt alte Volkslieder, die, wie er schreibt, „ich aus denen Kehlen der ältesten Mütterchens aufgehascht habe“; dazu hat er vermutlich auch schriftliche Vorlagen eingesehen. Er hat zwölf Lieder gesammelt, darunter auch (...)

Der Automatenmensch, ein romantischer Albtraum
Die Natur baut keine Maschinen, keine Lokomotiven, Eisenbahnen … Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur … Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte (...)

Dystopie des Kolonialismus
Shakespeares The Tempest, deutsch Der Sturm, ist eines der am schwierigsten zu interpretierenden Werke des großen Dramatikers. Es ist ein Spätwerk, geschrieben 1610, wenn auch nicht das letzte, wie lange vermutet. Sein Kernthema ist: Was ist die wirkliche Welt, wenn es nur subjektive und überdies (...)

Tausch und Täuschung
Der Roman soll das deutsche Volk dort suchen, wo es in seiner Tüchtigkeit zu finden ist, nämlich bei seiner Arbeit. Motto zu Gustav Freytags Roman Soll und Haben (1855) Seldwyla ist eine von Gottfried Keller erfundene schweizerische Kleinstadt, bewohnt von Kleinbürgern mit einer schon südländisch (...)

Tilman Tarach: Teuflische Allmacht. Über die verleugneten christlichen Wurzeln des modernen Antisemitismus und Antizionismus. Edition Telok: Berlin/Freiburg 2022, 224 S., 14,80 € „Der christliche Judenhass war zwar schlimm“, so geben die Kirchen notgedrungen zu, „aber erst richtig furchtbar war der (...)

Poesie als Tauschwert
Die Welt muss romantisiert werden. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es. (Novalis) Joseph von Eichendorffs Gedicht Sehnsucht, 1834 geschrieben, ist eines der schönsten Gedichte (...)

Care und Kehricht
Es gibt einen Punkt, von dem es keine Rückkehr gibt. Dieser Punkt ist zu erreichen. (Franz Kafka) Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Mit diesem so grausigen wie grandiosen Satz hebt eine der (...)

Heinrich Heine, Jude und Deutscher
Von Heine wird gesagt, dass er ein in sich zerrissener Mensch gewesen sei. Heine war nicht zerrissen, sondern er wurde es, weil ihm das Verlangen, Jude und Deutscher zugleich zu sein, verwehrt wurde. Es war Deutschland, das ihn zerriss. Düsseldorf, wo Heine 1797 geboren wird, ist eine (...)