MOZ, Nummer 57
November
1990

Zwischen Kultur und Folklore

Zur Philosophie in Afrika und ihrer Relevanz für eine verkappte Diskussion: Multikulturalität. — Vermischte Bemerkungen über einen verleug­neten Diskurs.

Die europäische Philosophietheorie, Ethnologie und Afrikanistik verharrt bis heute in der diffamierenden Ignoranz zur Philosophie in Afrika. Aus der ‚diffamierenden Ignoranz‘, deren Haupttendenzen unten erwähnt werden, behauptet sich die faktische Ignoranz, die geographisch im Durchschnittsintellektuellen zu lokalisieren ist. Ihre wesentlichste Auswirkung ist, daß keinerlei Vorwissen zur Philosophie in Afrika existiert.

Das Bild Afrikas ist durch faschistische Mythen geprägt: Als Beispiel sei der deutsche Ethnologe Leo Frobenius angeführt. Er sprach sich offen für den Kolonialismus aus und begrüßte den Nationalsozialismus als die reinigende Kraft Deutschlands. Der Deutsche Christoph Marx kommt zur stimmigen These: „Er (Frobenius, Anm.) will die deutsche Seele, die er von der westeuropäischen Rationalität absetzen will, im Umweg über Afrika wiederfinden und damit zur Renaissance eines neu-alten Deutschtums beitragen, dessen Gehalt von einem mystisch-romantischen Mittelalterbild geprägt ist.“ Die Gründe für beide Formen der Ignoranz hat Frantz Fanon formuliert: „Die Spezialisten des Mutterlandes (die Ethnologen, Anm.) entdecken diese Veränderungen sehr rasch und verurteilen sie insgesamt im Namen eines kodifizierten Stils, eines kulturellen Lebens, wie es sich im Rahmen der Kolonialsituation entwickelt hat. ... Die Kolonialisten sind es, die sich zu Verteidigern des Eingeborenenstils aufwerfen“, um dem indirect rule, das heute im großen Stil im Rahmen des Neokolonialismus praktiziert wird — weswegen man auch weiterhin des ‚Eingeborenenstils‘ bedarf — eine ideologische und administrative Basis zu verleihen. Den Kolonialisierten wird ihr Mensch-Sein durch Vorenthaltung der selbsternannten Krone Europas — die Philosophie als Zeichen und Ausdruck von Kultur — abgesprochen. Bestenfalls will man ihnen ein deformiertes Sein in Form einer folkloristischen Weltanschauung zubilligen.

Paulin J. Hountondji (R.P. Bénin) fragt an dieser Stelle kritisch, warum das reflektiv-kritische Hinterfragen der eigenen ‚Stammeskultur‘ für die europäischen Intellektuellen als sine qua non gilt, hingegen den afrikanischen Intellektuellen bloß zu Schimpf und Schande gereichen soll.

Aus dem Ghetto des Folklorismus dürfen sie nur als ‚Assimilierte‘ treten, wollen sie einem intellektuellen Exhibitionismus im Zeichen des Ethnokitsches entkommen.

Die „Dritte Welt“ darf bloß Tradition, aber keine Geschichte, bloß Folklore, aber keine Kultur besitzen; vorzüglich entschärft von internationalen Zusammenhängen. Die Apologie wird auf die Spitze getrieben, wenn Folklore als Kultur und Tradition als Geschichte gelesen und schließlich gleichgesetzt wird, wie z.B. unter dem Apartheid-Regime. Über den Umweg der „Dritten Welt“ wird reaktionäre Begriffsgeschichte betrieben und der Irrationalismus — Boden für jede nationalistische und/oder faschistische Weltanschauung (G. Lukács) — durch die Losung vom „Ganz Anderen Afrika“ (sic) bedient.

Heute wird versucht, diese erkenntnistheoretische Apartheid der monolithischen Kulturkreise durch das Konzept der Multikulturalität fortzuschreiben, wo Folklorismus, ‚Tradition‘ und ‚nationale Identität‘ als altes Opium für neue Völker verabreicht werden. Nicht zu vergessen ist hier die Erkenntnis von Adorno, der die Sucht nach Identität als Urform der Ideologie erkannte. Theoretisch und empirisch anspruchsvolle Kulturbegriffe und -diskussionen werden a fortiori aus der Debatte gekippt. Und KritikerInnen sitzen dieser Verdrehung schließlich auf und räumen ohne Not bereitwillig das Feld, wenn sie Multikulturalität und den Kulturbegriff verfemen, statt eine Kritik an Multifolklorismus und seiner Herrschaftsfunktion zu führen.

„Was die heutige Elite (in Afrika und Europa, Anm.) als Tradition (in Afrika, Anm.) bezeichnet, ist zum großen Teil ein Ergebnis des Kolonialismus ... Später hat die heutige afrikanische Elite einer Pseudotradition ihre kulturelle Legitimität zuerkannt, die nichts anders war als ein durch den Kolonialismus aufgezwungener Kult der Bodenständigkeit und Folklore. Die europäische Anthropologie gab dieser Vorstellung von Tradition ihren wissenschaftlichen Segen, und Bücher über das traditionelle Afrika oder über die Bantu-Philosophie wurden zu Klassikern, auf die sich die afrikanische Elite beruft“, schreibt F. Boughedir.

Es wird eine erkenntnistheoretische Apartheid postuliert, wo gegen die Vernunft der Folklorismus gezückt wird. „Was die frühere bürgerliche Aufklärung den sogenannten Primitiven und ihrer Natur zu wenig gab, gab ihnen spätbürgerliche dekadente Barbarei zuviel, trotz wie wegen des Imperialismus“ (Bloch). Dies führt Hountondji zur ironischen Gegenthese, daß „... das moderne Afrika ebenso traditionell ist, wie das traditionelle Afrika. Dies im einzig möglichen Sinn des Begriffs Tradition. Tradition als ein System von Diskontinuitäten“ (P.J. Hountondji).

Die diffamierende Ignoranz

Das Manöver dieser verfehlten Gleichsetzung — Kultur = Folklore — und Kritik wird und wurde durch die diffamierende Ignoranz besorgt. Sie gliedert sich paradigmatisch in zwei Tendenzen: Die eine spricht Afrika eine jede Philosophie ab. Sie wird repräsentiert z.B. durch Hegel, Kant, Stirner und Hume. Die andere, bedeutendere, wird durch den Ethnologen und Demiurgen der sogenannten „Bantu Philosophie“ Placide Tempels eingeleitet. Er und die sich aus seinem Werk konstituierende Schule der Ethnophilosophie — so in der Kritik von den vier führenden Philosophen Afrikas: Paulin J. Hountondji (Bénin), Marcien Towa (Kamerun), Kwasi Wiredu (Ghana) und Henry Odera-Oruka (Kenya) — sprechen Afrika einzig eine homogene, statische und unbewußte Weltanschauung als Philosophie zu, sprich: eine sich als Philosophie gebärdende Folklore, die erst mit den angeblich Superioren Mitteln der Ethnologie aus Sprichwörtern, Grammatiken, Oratur und Sozialorganisationen zum Bewußtsein ihrer Selbst gelangt. M. Towa erkennt in ihr ein christologisches Herrschaftsprojekt, P.J. Hountondji eine neokoloniale Ideologie der afrikanischen und europäischen Bourgeoisie und H. Odera-Oruka eine Entmündigung Afrikas und pure Erfindung ohne empirische Grundlage.

Grob kann man zwei Entwicklungsetappen der Ethnophilosophie ausmachen: die imperialistische oder spezielle Ethnophilosophie, repräsentiert durch Placide Tempels und die neokoloniale oder allgemeine, vertreten durch die kulturrelativistische Ethnologie, Kulturanthropologie, durch den afrikanischen Sozialismus (Nyerere, Kaunda, Senghor) und ihm nahestehende afrikanische Intellektuelle, wobei sich letztere wiederum in sechs Strömungen gliedern lassen: 1. Christlich-linguistischer Ansatz; 2. Kollektiv-hermeneutischer Ansatz; 3. Individual-hermeneutischer Ansatz; 4. Phänomenologie; 5. Linguistischer Ansatz und 6. Apologie. Hountondji macht schließlich vier Gruppen aus, die ein Interesse an der Ethnophilosophie haben: 1. Missionare, Entwicklungshelfer etc., 2. Kolonialideologen und die Bourgeoisie in Europa, 3. Ethnologie allgemein und 4. afrikanische Bourgeoisie. Korrespondierend, in Reihenfolge, wird der Afrikaner idealtypisch durch vier Figuren beschrieben: Der Heide, der Barbar, der Exote und das Opfer.

Vermischtes zu einem verleugneten Diskurs:

Um diesem diffamierenden Konzept von Multifolklorismus entgegenzutreten, soll ein Aspekt der Kultur Afrikas — die Philosophie — schlaglichtartig beschrieben werden. Die zeitgenössische Philosophie in Afrika — die vier Stränge, Quellen aufweist: die Diskussion der Philosophie Europas, die afrikanische Diaspora, die politische Theoriebildung Afrikas und die philosophiehistorische Rekonstruktion — ist ebenso vielschichtig, widersprüchlich und in sich selbst widerstreitend wie die Philosophie in Europa, sodaß man ihr in wenigen Zeilen nicht gerecht werden kann. Die zeitgenössische Philosophie in Afrika sieht den Ursprung der Philosophie allgemein im antiken Ägypten; von da aus geht erst der Weg nach Griechenland, sodaß von zahlreichen Philosophen Afrikas Aristoteles als afrikanischer Philosoph verstanden und die griechische Philosophie auf Grund ihrer Wurzeln in Ägypten als Teil afrikanischen Erbes reklamiert wird.

Ebenso erfährt die antike äthiopische und die islamische Philosophie bzw. Theologie eine Rekonstruktion. Sucht man auf der einen Seite seine Kultur und Geschichte selbst zu bestimmen, steht auf der anderen Seite, zumeist in Ergänzung, die politische Frage nach Unabhängigkeit und Demokratie oder: die Aufgabe der Philosophie für Afrika. Damit setzen sich die Philosophen Afrikas nicht nur in Opposition zum herrschenden Diskurs in Europa, sondern auch zur afrikanischen Kompradorenbourgeoisie. Deren Ideologie der Négritude und des afrikanischen Sozialismus wird heute von den führenden Intellektuellen Afrikas als Instrument zur Rechtfertigung von Ausbeutung gesehen. In der derzeitigen Auseinandersetzung um Demokratie und Selbstbestimmung ist der Marxismus in all seinen Varianten die dominante Tendenz, der gegenüber keine weitere existiert. Dieser ist mit Namen wie Césaire, Cabral, Pio Pinto, Fanon, Babu, Imoudu oder Nkrumah verbunden, um nur wenige zu nennen. Darauf berufen sich heute die Intellektuellen Afrikas. Auf Grund der Kollaboration des Kommunismus mit dem Kolonialismus und Neokolonialismus entwickelte sich in Afrika ein Schisma zwischen Marxismus und Kommunismus. Letzterer wird von ersterem heftig im Namen der Menschenrechte und Demokratie seit Césaires Austrittsbrief aus der Kommunistischen Partei Frankreichs 1947 bekämpft, worin er den Führungsanspruch der KPdSU ablehnt. Der Kommunismus andererseits wird nicht müde, die großen Befreiungstheoretiker Afrikas — allen voran Frantz Fanon — zu verleumden und auf eine schulmeisterliche Art zu belehren (z.B. Sik, Ulyanovsky, Schwabe, Schmidt), was den Graben zwischen einer unorthodoxen Marxrezeption in Afrika und dem Kommunismus nur noch mehr verbreitert.

Die Marxdiskussion kann man durch eine dreifache Bewegung der Emanzipation charakterisieren: Die Emanzipation vom Marxismus-Leninismus, die seit den 50er Jahren durch einerseits eine Rückkehr zu den Quellen (Marx, Engels), zu den eigenen politischen Philosophen (Panafrikanismus) und eine Rezeption von A. Gramsci, andererseits durch eine Hinwendung zu einem utopischen Sozialismus geführt wird. Lenin gilt für viele aber schon als Revisionist bzw. Kollaborateur des Kolonialismus. Zweitens, die Emanzipation vom kolonialen Schatten Hegels, der Afrika jede Geschichte, Moral und Philosophie absprach und es als umnachtetes Kinderland ohne Bewußtsein ausgab.

Drittens, die Emanzipation von jeglicher neokolonialen Ideologie, allen voran die Kritik an der Ethnophilosophie, also Multifolklorismus.

Erst in jüngster Zeit kann man die Entwicklung einer veritablen Gegenposition zum Marxismus innerhalb der Philosophiediskussion Afrikas ausmachen: Der platonische Anarchismus pragmatischer Orientierung, der seine Anfänge in den Arbeiten K. Wiredus und Benjamin E. Oguahs (Ghana) aufweist. Um die widersprüchlichen Ansätze Anarchismus, Platonismus und Pragmatismus zusammenzubringen, legt Wiredu das Fundament einer neuen Epistemologie, die zwei Hauptthesen verficht: Truth As Opinion und To Be Is To Be Known. Seine Epistemologie hat eine wahre Flut von Gegenartikeln und eine hitzige Debatte in Afrika ausgelöst, die von prominenten Philosophen Afrikas wie Odera- Oruka, J.I. Omoregbe (Nigeria), Peter O. Bodunrin (Nigeria) getragen, aber auch nicht mehr von europäischen Philosophen ignoriert wird, wie die Artikel Gene Blockers (USA), Robin Hortons (GB) oder Geoffry Hunts (GB) beweisen.

Die Aktualität der Philosophie in Afrika ist offensichtlich. Sie hat noch nicht Vernunft und Moral an der Garderobe der semiotischen Postmodernen abgegeben, wo alles Text und relativ ist. Der Text verliert seine Beliebigkeit in der Folterkammer und wird konkret, die korrespondierende Ideologie des Multifolklorismus wird beim Namen genannt und ein Begriff, der eigentlich erst noch zur Debatte steht, gerettet: Multikulturalität.

„Hier muß eine wahrhaft kopernikanische Wende vollzogen werden, so sehr hat sich in Europa ... von der äussersten Rechten bis hin zur äußersten Linken die Gewohnheit eingenistet, für uns zu handeln, über uns zu verfügen, für uns zu denken; mit einem Wort, es ist zur Gewohnheit geworden, uns das Recht auf einen eigenen Willen ... streitig zu machen“ (A. Césaire).