FORVM, No. 93
September
1961

Zur Typologie der Einsamkeit

Nietzsche — Rilke — Benn — Schönwiese

Ist Einsamkeit Schicksal, ist sie selbstgewählte Lebensform, Erhöhung des Einsamen über die Menschen oder seine Erniedrigung unter sie, ist Einsamkeit Genieleistung oder Krankheitssymptom? Immer wieder werden diese Fragen gestellt, und immer wieder finden sie die verschiedensten Antworten — selbst noch in unserer Zeit, welche an das Menschliche im Massenhaften glaubt und daher in diesen Fragen fast stets ein gesellschaftliches Problem sieht, das sie mit soziologischer Apparatur beantworten will.

Die Unfähigkeit zum Alleinsein gilt heute als gesellschaftliche Tugend; das durch technische Reizüberflutung erworbene chronische Reizbedürfnis deformiert und pervertiert den Menschen vom „politischen Wesen“ zu jenem Kollektivwesen, das unsere Industriegesellschaft braucht. Diese Perversion hat bewirkt, daß jede Absonderung als Protestaktion und gesellschaftsfeindlicher Nonkonformismus in Verruf geraten ist; die Einsamkeit selbst hat aufgehört, Antithese zur Massenhaftigkeit zu sein — es gibt heute die „einsame Masse“. Der einsame Mensch ist ein Kulturfossil, der Überrest eines prätechnischen, präkollektivistischen „Antediluviums“.

Und doch ist Einsamkeit keineswegs seltener geworden. Die Unanschaulichkeit der exakten Wissenschaften von heute provoziert die „innere Schau“; die Unmöglichkeit universaler Breitenbildung, angesichts der modernen Spezialisierung und Esoterik des einzelwissenschaftlichen Betriebs, ruft nach spezieller Tiefenbildung höchst persönlicher Prägung; die Auslaugung kleiner und überschaubarer Gemeinschaften durch die abstrakten gesellschaftlichen Mammutgebilde legt den reaktiven Rückzug „ins Eigene“ nahe; die ethische Fragwürdigkeit, weil penetrante Zweckgerichtetheit der so aufdringlich propagierten „human relations“ in Gesellschaft und Wirtschaft läßt an solchen „relations“ verzweifeln. Die Massenhaftigkeit, Aufdringlichkeit und Lautstärke des äußeren Lebensbetriebes bringen mit sich, daß, wer dort nicht heimisch wird, in sich sein epikuräisches Gärtlein sucht. Seltener ist Einsamkeit nicht geworden. Sie hat lediglich in dem Kulturmodell unserer Industriegesellschaft an Geltungswert verloren. Säulenheilige würden heute nicht mehr verehrt, sondern als Störung der öffentlichen Ordnung von der öffentlichen Gewalt beseitigt werden.

Doch selbst eine die Ordnung der Massengemeinschaft weniger störende Form der Persönlichkeitsbildung, wie sie einmal humanistisches Leitbild war, ist zu einer Haltung ausgeprägter Asozialität pejorisiert worden. Sie ist fern davon, zur Nachfolge anzueifern, seit aus dem „tintenklecksenden Säkulum“ ein kollektivhätschelndes geworden ist, in dem der Einzelne bloß statistische Einheit ist. Viel zu wenig fällt auf, daß es Massenpsychologie kaum mehr gibt, weil die Masse — noch um die Jahrhundertwende eine pathologische, zumindest abseitige und regressive gesellschaftliche Erscheinung, welcher Sonderuntersuchungen gewidmet wurden — in der „Massendemokratie“ und „Massenkonsumgesellschaft“ deren Normalverfassung geworden ist, die nur noch nach einer kollektiven Verhaltensforschung ruft.

Aber neben der „einsamen Masse“ gibt es noch immer den einsamen Menschen. So oft auch seine Einsamkeit als Seelenzustand bis in die tiefste aller Tiefen erlebt worden ist, noch nie wurde sie als Seinsproblem auch nur annähernd vom Verstand zu Ende begriffen, und schwerlich kann sie es je werden. Denn wann und warum dieses Einsamkeitserlebnis Menschen packt, die ihm erwählt sind, ist nicht zu sagen. Das Wunder der Selbstentrückung mag den einen mitten im Strudel des Lebens überfallen wie jenen Prinzen Siddharta, der Palast, Vater, Weib und Kind verließ und in sieben Jahren der Absonderung zum Erleuchteten, zum Buddha wurde. Dieser gleiche Standort „media in vita“ kann dem Menschen aber auch als eine Bestimmung zur tätigen Anteilnahme an der Welt erscheinen, was nicht notwendig zur vollen Verflechtung mit ihr führen muß — als eine Verpflichtung, wie sie Pico de Mirandola in seiner Rede über „Die Würde des Menschen“ durch Gott Vater so begründen ließ:

Wir haben dich mitten in die Welt gestellt, auf daß du sie von dort um so besser überblickest. Und wir haben dich nicht zum Himmlischen, nicht zum Irdischen, nicht zum Sterblichen noch Unsterblichen geboren, damit du als dein eigener Bildner und Dichter dir selbst die Form bestimmest, in der du leben willst.

Müssen wir nicht, so fragt Mirandola, als höchstes Glück des Menschen bewundern, daß ihm gegeben ist, zu sein, wer er sein will?

Da plötzlich, Freundin, wurde Eins zu Zwei — und Zarathustra ging vorbei ...

Es ist nicht eben häufig, daß der Mensch ein Einsamer sein will; doch wenn es ihn in diese Lebensform drängt — sei es, weil ihm die Epiphanie Christi oder die Erscheinung Zarathustras oder auch nur, wie jenem indischen Prinzen, der Anblick eines Armen und Kranken widerfuhr —, auch, ja gerade dann erlebt er sich als einen Erwählten, weil Beschwerten und an der großen Welt großes Leid Tragenden. Diese Weltleidenden sind es fast stets gewesen, die aus ihrer Einsamkeit als Weltformende tiefer und breiter in die Zukunft gewirkt haben als die meisten jener, die sich an die Gegenwart verlieren.

Daß solches Einsamkeitserlebnis Anderes und Größeres ist als das, was die Soziologen den Kontaktverlust nennen und pädagogisch zu verhindern trachten, da sie Gesellschaft zu bilden und nicht Einzelschicksale zu formen haben, sollte leicht verstanden werden. Nicht minder, daß mit der klinischen Diagnose „Vereinsamung“ der Erwählung zu diesem Erlebnis nicht einmal in die Nähe zu kommen ist, geschweige denn, daß es medizinisch ausgedeutet werden könnte. Denn der Befund, Absonderung sei pathologisch, geht von der Norm des gesellschaftlichen Menschen aus, einer Norm, die dann ihre Gültigkeit verliert, wenn der Einzelne nicht neurotisch vereinsamt, sondern sich absondert aus jener freien Wahl der Erkenntnis- und Erlebnisform, die Mirandola dem Menschen als höchste Würde nachrühmt. In solcher Abgeschiedenheit entfaltet dann die Seele gegen die zur Geselligkeit gebildete Natur des Menschen ihre höchsten Kräfte und unterscheidet ihn vom Herdenvieh, das allein nicht sein kann, wie vom einsam schweifenden Tier, das sich nicht vergesellschaften kann. Dann zeigt es sich, daß es wahrhaftig des Menschen Größe ist, zwischen der Welt und der Einsamkeit wählen zu können — „als sein eigener Bildner und Dichter“.

Die ganze Tragik der Weltsuche, Weltverlorenheit, Weltbedürftigkeit und Weltüberwindung des Dichters offenbart sich in seinem Spannungsverhältnis zum Publikum. Denn dieses ist ihm ein so paradigmatischer und prototypischer Teil der Welt, daß es ihm meist geradezu stellvertretend für sie entgegentritt.

„Ach das Publikum, seufzete Goethe.“ So notiert Eckermann am 10. November 1823, und diesen Seufzer wird schon der erste Dichter der Welt geseufzt haben, auch wenn er keinen Eckermann fand. Die Klage des Dichters um und über das Publikum klingt durch die Jahrtausende. Sie gab dem romantisch-optimistischen Friedrich Schlegel die Überzeugung: „Publikum ist gar keine Sache, sondern ein Gedanke, ein Postulat, wie Kirche.“ Sie verdichtete sich für den polemisch-pessimistischen Karl Kraus zu dem Satz: „Ich hasse das Publikum“. Gottfried Benn schließlich nannte Dichtung einen Monolog und forderte: „Man muß sehr viel sein, um nichts mehr auszudrücken. Schweige und gehe dahin.“ Alles Seufzen, Hoffen und Hassen änderte nichts an der Tatsache, daß dieses Publikum dem Dichter selbst dann unentbehrlich ist, wenn er an den „monologischen Charakter“ seiner Kunst glaubt. Denn auch dann muß Publikum sein, damit es möglich sei, nicht zu ihm zu sprechen.

Wer seinem Widerhall im Publikum lauscht, ist als Dichter wohl verloren. Doch wer ohne Widerhall dichtet, kann nicht, was Hölderlin dem Dichter nachrühmt: stiften, „was bleibet“. In einem seiner „Briefe an einen jungen Dichter“ schreibt Rilke: „Ein Kunstwerk ist gut, wenn es aus Notwendigkeit entstand.“ Notwendig ist aber immer die innere Entbürdung des Künstlers durch Mitteilung, die ohne Empfänger nicht denkbar wäre. So ist denn die Poesie durchaus auf das Mirakel der Publikumswirkung ohne Publikumssuche angewiesen, obgleich allzu viele „Monologe“ mit dem Seitenblick auf das Publikum entstehen sie sind „beiseite“ gesprochen: sie sollen nicht vernommen werden, damit sie desto gewisser vernommen würden.

Dichter und Welt, Kunstwerk und Publikum — in diesen Gegensatzpaaren liegt die ganze Drangsal und Fragwürdigkeit der poetischen Einsamkeit, die der Welt bedarf, um sich von ihr zu sondern. Hier bleibt nur jenes große Vertrauen, zu dem Rilke dem „Jungen Dichter“ rät, denn „in den Tiefen wird alles Gesetz“.

Einen Beitrag zur Erhellung dieser „Gesetzmäßigkeit“ dichterischer Einsamkeit liefert mit formanalytischen Mitteln Joseph Strelka in seinem jüngsten Buch fast ungewollt, denn sein eigentlicher Beweisgang zielt auf andere literaturgeschichtliche Zusammenhänge ab. [*] Strelkas Rilke-Deutung geht vom Vereinzelungserlebnis des Dichters aus. Denn „Rilke hat die Einsamkeit zunächst als gegebenes Realitätsfaktum, später als bejahte Verpflichtung und schließlich als beseligende Erfüllung in sein Werk hineingenommen, so wie er den Tod in das Leben, das Göttliche in das Menschliche, das Unsägliche in das Sagbare einzubeziehen suchte. Das Problem der Einsamkeit des Menschen und besonders des Künstlers hatte in der ersten Phase des deutschen Symbolismus seinen ersten allgemeinen Höhepunkt und in jener des Frühexpressionismus seine erste radikale Zuspitzung erfahren. Rilke hat diese Entwicklung zu ihrem letzten End- und Höhepunkt geführt.“

Die Ambivalenz des Einsamkeitserlebnisses umfaßt zugleich das höchste Glück der Selbsterfüllung und das tiefste Leid an der Unfähigkeit, sich dem menschlich allzu menschlichen Vergemeinschaftungsglück hinzugeben und sich in den mütterlichen Armen gesellschaftlicher Institutionen und Bindungen zu bergen. Für diese Ambivalenz findet sich tatsächlich kaum ein eindrücklicheres Beispiel, als es Rilke bietet, welcher in seiner ersten Elegie klagt: „Aber wir, die so große Geheimnisse brauchen, denen aus Trauer oft seeliger Fortschritt entspringt, — könnten wir sein ohne sie?“ Das Gegensatzpaar Einsamkeitsglück — Vereinsamungsleid bricht immer wieder in Rilkes Lebenswerk durch. „Ich bin auf der Welt zu allein, und doch nicht allein genug, um jede Stunde zu weihn.“ Die Seligkeit, „weil meine Tiefen nie gebrauchter rauschender Worte fähig sind“ ist konfrontiert mit Qual: „Welche Gebärde des Einsamen fände sich nicht von vielen Dingen belauscht?“ — Und Not: „Ich höre die Fernen Dinge sagen, die ich nicht ohne Freund ertragen, nicht ohne Schwester lieben kann.“ Doch führt solche Ambivalenz zur Selbsterlösung des Einsamen: „Sein Wachstum ist der Tiefbesiegte von immer Größerem zu sein.“ Dieses Ringen um Ich, Welt und Gott könnte nur im Nachvollzug gänzlich verstanden werden.

Rilkes so schwer und selbstquälerisch gegen die Welt und das weltsüchtige Ich erkämpfter Einsamkeitsort war für ihn freilich nur als Stufe im Aufstieg zur neuen und höheren Vereinigung mit dem All gemeint, ein kurzer Halt auf der Suche nach Einheit im Letzten, das sich dem Begriff entzieht und zum Symbolwort drängt. Es ist jener „Turm“, um den Rilke sich kreisen fühlt, jene „Rose, o reiner Widerspruch“, die der Dichter besingt, der „Baum, o reine Übersteigung, o hoher Baum im Ohr.“ Denn „nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen“, und diese Innenwelt ins Wort gebracht, wird Orpheus, denn „Gesang ist Dasein“, wird „Leben in wachsenden Ringen, die sich über die Dinge ziehn.“

Doch auch das Ding kann durch sein Sein diesen Einsamen nicht erlösen, selbst von ihm fühlt Rilke: es war „noch unvollendet, eh ich es erschaut“, denn „es ist nicht hier, wir spiegeln es herein aus unserm Sein, sobald wir es erkennen.“ Das ist das Nichtgeheure an den Dingen, „daß wir nicht sehr verläßlich zu Hause sind in der gedeuteten Welt.“ Dieser zum Äußersten gebrachte transzendentale Subjektivismus, in dem so viele Wesenszüge des deutschen Idealismus aufleuchten, drängt Rilke sogar zum Gebet. „Um einen eignen Tod.“ Er hat sich für die Aussage der totalen Verlassenheit des Menschen die atembeklemmenden Verse des „Ölbaumgarten“ abgequält: „Ich finde dich nicht mehr. Ich bin allein.“ Seit Nietzsches Qualschrei „Gott ist tot“ hatte die Angst vor der absoluten menschlichen Ungeborgenheit keinen so verzweifelten Ausdruck gefunden.

Daß auch diese Qual der Verlorenheit nur eine Stufe im Daseinsaufstieg Rilkes war, der im leidvollen Glück zur höchstpersönlichen, ganz subjektiven Selbstvereinigung mit dem Höchsten hindrängte, fühlt Strelka, wenn er schreibt:

Rilke versucht in seiner einsamen Isolation für sich selbst den schweren Weg zu gehen, der aus ihr herausführt, bis dahin, wo sich wieder alles zu einem heilen Ganzen zusammenschließt. Es gehört dabei zum unumgänglichen Paradox seines subjektivistischen Zeitalters, daß er je weiter er dabei kam, sich umso mehr in einem vordergründig-rationalen Sinn von allen anderen absonderte, indem er sie hinter sich ließ, aufging in der Wortwunderwelt eigentümlicher Symbol- und Sprachzeichen, die er in sich errichtete.

Und doch konnte sich Rilke, der in seinen „Briefen an einen jungen Dichter“ klagt: „Im Grunde und gerade in den wichtigsten Dingen sind wir namenlos allein“, aus seiner immanenten Einsamkeit nur in eine transzendente durchquälen. Gott ist dem Dichter „der zweite seiner Einsamkeit, die ruhige Mitte seiner Monologe“, er ist „der Rätselhafte, um den die Zeit in Zögern stand“, er wird zum „Wald der Widersprüche, ich darf dich wiegen wie ein Kind.“ Ja schließlich umkrampft den Einsamen hier die Sorge um den Einsamen dort: „Was wirst du tun, Gott, wenn ich sterbe ... mit mir verlierst du deinen Sinn.“

Die Weltschranken vermochte Rilke zu überwinden, die Ichschranken nicht, und alle seine religiöse Sehnsucht führte ihn nur in einen transzendentalen Solipsismus, dem keine Erlösungshoffnung blieb. „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge vor seinem stärkeren Dasein ... ein jeder Engel ist schrecklich“

Allein: du mit den Worten
und das ist wirklich allein.

Auch Benn ist zur Einsamkeit geboren. In dem Dialog „Können Kunstwerke die Welt ändern?“ finden sich die Sätze:

Kunstwerke sind phänomenal, historisch unwirksam, praktisch folgenlos. Das ist ihre Größe ... Denn alle ethischen Kategorien münden für den Dichter in die Kategorie der individuellen Vollendung.

Doch während sich in Rilkes Haltung zum Dasein aristokratische, ästhetische und gnostische Elemente auf das wunderlichste mischen, ist die Einsamkeit Benns kristallen intellektuell. Sie ist das direkte Produkt einer selbstgewählten Ausdrucksform, deren Esoterik geradezu den Zweck der Sprachabsonderung hat und zum Ergebnis der Vereinsamung im Worte führen muß. Strelka erkennt, daß es hier um die gewollte Qual der sprachlichen Kommunikationslosigkeit geht:

Es ist das aber eine Einsamkeit, wie sie in steigendem Maße alle modernen, wirklichen Dichter bedrängt, und auch die Totalisierung der Metapher ist keine Angelegenheit Benns allein, sondern des Expressionismus überhaupt.

Beizufügen wäre, daß diese Spracheinsamkeit, in die sich Benn freiwillig flüchtet, — mit Schiller zu sprechen — ein Akt der Freiheit am Bande der Notwendigkeit war. Denn notwendig war diese Sprache für einen Dichter, geprägt von der Ich-Spaltung durch zerebrale und „prälogische“, sinnliche und mythische Anschauungsformen. Die tiefsten Wurzeln dieser Einsamkeit lassen sich im Essay „Zur Problematik des Dichterischen“ erahnen, in welchem Benn schreibt, daß des Dichters Größe „gerade darin besteht, daß er keine soziale Voraussetzung findet, daß eine Kluft besteht, daß er die Kluft bedeutet, gegenüber diesem Zivilisationsschotter ... daß er dies alles hinter sich läßt, die Perspektive seiner Herkunft und Verantwortung weiterrückt bis dahin, wo die logischen Systeme ganz vergehen, sich tiefer sinken läßt in einer Art Rückfallfieber und Sturzgeburt nach innen.“

Den Dichter als das Mischgefäß für Ursprünglichkeit und Letztsinnigkeit schildert Benn mit diesen Worten:

Von weit her liegt in ihm ein Traum, ein Tier, von weit her ist er mit Mysterien beladen, von jenen frühen Völkern her, die noch die Urzeit, den Ursprung in sich trugen, mit ihrem uns so völlig fremden Weltgefühl, ihren rätselhaften Erfahrungen aus vorbewußten Sphären, in deren Körpern das Innenbewußtsein noch labil, die Konstruktionskräfte des Organismus noch frei, das heißt dem Bewußtsein als Zentrum der Organisation zugängig waren ... es gibt nur den Einsamen und seine Bilder, seit kein Manitu mehr zum Clan erlöst. Es gibt nur ihn: in Wiederholungszwängen unter dem individuell verhängten Gesetz des Werdens, im Spiele der Notwendigkeit dient er diesem immanenten Traum.

Aus solchem Weltgefühl, das freilich zuzeiten auch hoher Glücksaufschwünge durchaus fähig ist, erwächst Benn jenes Leid des Vereinzelten, von dem Strelka schreibt:

Es entsteht nicht zuletzt aus der Einsamkeit, Aufgespaltenheit, Zersprengtheit des Ich, von hier aus bricht ursprüngliches Gefühl in Benns Lyrik ein. Wichtiger als die Verschiedenartigkeit und der Wechsel der Ich-Perspektiven bleibt ihm die einzig verbindende durchgehende Hauptperspektive vom leidenden und zerfallenden Ich in den ihrerseits wieder wechselnden Anschauungsmöglichkeiten.

Als Zertrümmerer überkommener Formen und Vorstellungen könnte der einsame Benn durchaus in die Nähe des einsamen Nietzsche gerückt werden. Denn wenn er dem Gefühl nicht eben einen schmalen Spalt seines Einsamkeitstores öffnet, dichtet er als Verzweifelter mit dem Hammer, wie Nietzsche als Verzweifelter mit dem Hammer philosophierte. Lebte Rilke die subjektivistisch-existentielle Form dichterischer Einsamkeit, deren Drang in die Transzendenz immer neue Offenbarungswege und Ausdrucksformen suchte, so Benn die subjektiv-intellektuelle Form, die selbst den Mythos, dessen Wirken er kräftig fühlte, zum uralten „Wiederholungszwang“ rationalisierte. Gemeinsam bleibt beiden Dichtern freilich das große Leid an der Welt, zu der sie im Spiel und Widerspiel ihrer eigenen Kräfte und Gegenkräfte nicht fanden. Diese Verse könnten Benn wie Rilke gehören: „Es gibt nur eines: ertrage ... dein fernbestimmtes: du mußt.“

Wenn Strelka als dritten Dichter Schönwiese an Rilke und Benn reiht, leistet er, ohne es zu wollen, einen Beitrag zur Typologie dichterischer Einsamkeit. Rilkes Einsamkeit kommt aus der religiös bestimmten Versenkung in das ausweglose Ich. Die Einsamkeit Benns hat ihre Wurzeln in der intellektuellen Scheidung von einer Welt, der sich der Dichter in keiner ihrer Bezüge zugehörig weiß und die er aus dem Umgreifenden zum Objekt reduziert, dessen Anleuchtung von verschiedenen Blickpunkten durch unverbindlichen „Perspektivismus“ zur einzig verbindlichen Einsamkeit führt.

Schönwieses Einsamkeitserlebnis ist sehr anders. Es ist die durch Jahrtausende immer wieder vorgelebte mystische Absonderung, die nach einer Synthese von Logos und Mythos durch innere Schau sucht. Es ist die Moderne des Uralten: die „Abgeschiedenheit der Seele“. Sie wird für Schönwiese, den Kenner und Bekenner der Mythenwelt, zu dem Tor der Einsamkeit, das durchschritten werden muß — auf dem Weg zur Geborgenheit in Gott. Die Liebe zu jenem „Fünkchen“, das die Zerrissenheit der Welt überwinden soll, sublimiert sich hier zur Kunst, die das Gültige, Ewige, Universale und Objektive in uralt-heiligen Bildern umkreist.

Schönwiese ist weder weltabgewandter Diesseitsflüchtling noch subjektiver Sprach-Esoteriker. Er wendet sich als Mensch zum Menschen in den überkommenen großen Symbolworten des Menschengeschlechts. Seine Aussagen sind nur vom Mythos her zu erdeuten, denn dieser ist ihm die eigentliche Lebens-Hermeneutik — die vorgeprägte Form, die lebend sich entwickelt. Ihre Vorprägungen sind bis zu den ältesten Quellen der östlichen Mystik zu verfolgen, sie sind nachweisbar in Ekkeharts „Reden der Unterweisung“, in vielen Lehren Böhmes und Kontemplationen Hardenbergs. Ihre lebendige Entwicklung durch Schönwiese zeigt etwa diese Ver-Dichtung des Gefühls für die unio mystica:

Hast du mich ganz in dich hineingenommen, als wäre ich dein Herz, dann mag sie kommen, die große Nacht: dein Stern ist dir geblieben. [**]

Mythische Urbilder tauchen auf: Wasser, Nacht, Mond, Erde, Quelle, Kreis.

Nächtliche Seele, tritt leis
Nah an die stygische Welle,
Sieh wie die finstere Quelle
Spiegelt den sternenen Kreis. [***]

Der Kreis als archetypisches Ganzheitssymbol zieht Schönwiese immer wieder geheimnisvoll an:

Nah ist der Sommer; und bald bist du dir selber zur Last, fügst du dem Kreis, der sich rundet, nicht freudig dich ein. [**]

Die von den großen Mystikern gepredigte Weltverpflichtung des Jenseitssuchers (etwa Ekkeharts Scheidung der Minne als Wesen und Minne als Werk) singt Schönwiese so:

Nicht zu mir empor und nicht himmelein,
Auf die Erde richte fest den Blick!
Diese Welt ist dein; doch durch jenes Tor
Kehre einst gereift zu mir zurück. [**]

Die dialektische Spannung Gott—Mensch, welche die spekulative Mystik seit jeher bewegt, fühlt Schönwiese tief:

Lebst du denn wirklich, wo du mich verloren?
Wir leben beide oder beide nicht,
Ich habe dich und du hast mich geboren.
Ich brauch dich, Kerze, ich, das einzige Licht!

Dieses Gefühl für die Abhängigkeit zwischen Schöpfer und Geschöpf führt Schönwiese aus anderen Gründen und auf anderen Wegen schließlich doch in Rilkes Nähe, wenn er in Sorge um Gott die Frage stellt: „Wo wirst du wohnen, Gott, wenn wir einst schlafen ... auch du stirbst mit, sind wir einst alle tot.“ [**]

Während Rilke sein Fühlen in immer neue mystische Bilder kleidet, sind für Schönwiese die Urbilder Gefäße für immer neues mystisches Gefühl. Während Rilke seine kunstvollen Eigenbilder prägt, wird Schönwiese durch die überlieferten Symbole geprägt. Während bei Rilke jede Übereinstimmung eines Bildes mit Urbildern Zufall ist (soweit die Tiefenpsychologie in Sachen des Mythos und der Kollektivseele Zufall gelten läßt), hat Schönwiese die Urbilder erarbeitet, erlebt, erlitten — um sie zu besitzen. Und schließlich: hat Rilkes Wesen nach Absonderung von der Welt verlangt, so zeigt Schönwiese, daß innere Abgeschiedenheit in Tiefen reichen kann, wo sie der äußeren Einsamkeit nicht mehr bedarf, sondern mit dem, was Goethe „klugtätiges“ Weltwirken nennt, durchaus zu jener Weltfrömmigkeit vereint werden kann, die alle großen Mystiker gepredigt und gelebt haben und die auch Schönwiese fordert: „Jede Stunde füll mit Leben! Nur im Wirken liegt das Wahre.“ [***]

Schönwiese ist kein „siedler auf dem berg“, er lebt in keinem Turm von Elfenbein, in keiner Einsamkeit von Muzot oder Sils Maria, sondern steht in jenem „vermischten Leben“, aus dem und zu dem Jakob Böhme sprach. Er ist im Österreichischen Rundfunk führend tätig und dennoch daheim in der ganzen Mythenwelt der Menschheit, in einer seelischen Einschicht, die aus „Geschmack am Universalen“ kommt und ihn mit allen Menschen gleichen Geschmacks vereint. Ekkehart schreibt in seinen „Reden der Unterweisung“:

Wäre der Mensch so hoch in Verzückung wie ehedem der heilige Paulus, und er wüßte einen siechen Menschen, der eines Süppleins von ihm bedürfte, ich halte es für besser, du ließest aus Liebe die Verzückung und dientest in größerer dem Bedürftigen.

Schönwiese weiß mehr als einen siechen Menschen. Er weiß die sieche Welt und ringt um ihre Heilung durchs Wort. Darum ist in seiner Lyrik kein künstliches Dunkel. Denn er fühlt: „Du bist nicht dunkel, Herr, du bist die Helle, du bist so licht wie eine Kirschenblüte.“ [**] In dieser Dichtung ist nichts zu finden, was nicht jedermann verstünde, wenn er ein Rezeptionsorgan für metarationale Frequenzen hat. Schönwieses Dichtung legitimiert sich als durchaus eigenständige metaphysische Erkenntnisform. Man kann sie getrost Transzendentalpoesie nennen. So spricht ihm Gott:

Nur der Glaube ans Ich wird zunicht,
Doch geeint meinem Willen: wie hoch
Wächst er unüberwindlich ins Licht,
Und die Berge versetzt er dir noch.
Und es spricht, der dir schwieg, dann: mein Mund.
Selbst das Staubkorn wird deutsam und viel;
Tut den Sinn, den verlorenen, kund:
Welch ein Traum! Welch ein Bild! Welch ein Spiel!

[*Joseph Strelka: „Rilke, Benn, Schönwiese und die Entwicklung der modernen Lyrik“ (Forum-Verlag, Wien-Hannover-Basel).

[**„Das unverlorene Paradies“ (Gurlitt-Verlag, Wien—Linz—München).

[***„Der alte und der junge Chronos“ (Bergland-Verlag, Wien).

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