Grundrisse, Nummer 21
März
2007
Rainer Roth:

Zur Kritik des Bedingungslosen Grundeinkommens

Frankfurt: DVS, 2006, 84 Seiten, 3 Euro

Als erklärter Befürworter des bedingungslosen garantierten Grundeinkommens eine Broschüre eines ebenso erklärten Kritikers besprechen zu wollen, was soll dabei herauskommen? Die Wiederholung von Argumenten, Polemik, spitze Formulierungen? So etwas will niemand lesen und ich werde es auch nicht schreiben. Die hauptsächlichen Einwände von Rainer Roth seien gerne aufgelistet: Das Grundeinkommen würde Lohnsubvention bedeuten, die erwerbsarbeitslosen BezieherInnen würden auf Kosten der Lohnarbeitenden leben, die Forderung würde Lohnarbeitende und Erwerbsarbeitslose spalten und verhindere ein Bündnis zwischen ihnen. Weiters würde das Grundeinkommen an der Geldform hängen und damit die Kapitalakkumulation voraussetzen. Zu diesen Punkten möchte ich jetzt kaum etwas sagen; ich habe zum Thema Grundeinkommen ausführlich publiziert. Mich interessiert ein Aspekt in dieser Broschüre, der mit dem Thema Grundeinkommen wenig zu tun hat, der aber, wie ich meine, die Argumentation von Roth trägt.

Ich möchte diese Argumentation ausgehend von einem kurzen Abschnitt in Roths Broschüre diskutieren, in der sich seine Auffassungen verdichten: „Emanzipation, Freiheit, Selbstbestimmung und kapitalistische Warenproduktion sind ein Widerspruch in sich. Denn solange Privatleute für einen unbekannten Markt in Konkurrenz gegeneinander für die Verwertung ihres Kapitals produzieren, hat die Gesellschaft ihre Entwicklung nicht im Griff. (…) Die Menschen müssen erst Herr über ihre Verhältnisse werden, bevor von Emanzipation und Selbstbestimmung die Rede sein kann.“ (Seite 66)

Methodisch beruht der Diskurs von Roth auf der strikten Entgegensetzung zwischen dem „Jetzt“ des Kapitalismus und einem fernen „Später“. „Widerspruch“ meint keinen prozessierenden Widerspruch, sondern eine schlichte Unmöglichkeit. Emanzipation, Freiheit und Selbstbestimmung kann es im Kapitalismus nicht geben, meint Roth. Dieser Punkt markiert die eigentliche Differenz zwischen Roth und mir, die Frage des Grundeinkommens ist sozusagen nur eine Fußnote. Ich meine, die Elemente der neuen Gesellschaft müssen in der alten entstehen, damit das Projekt der Umwälzung mehr als ein frommer Wunsch ist. Dieser Satz ist klarerweise nur eine Paraphrase Marxscher Äußerungen. Falsch, sagt Roth, Dinge zu fordern, die mit dem Kapitalismus nicht kompatibel sind, das ist gefährlicher Utopismus. Ich meine im Gegenteil: Nur wenn Emanzipation und Selbstbestimmung mehr als ein bloßes Postulat sind, wenn Befreiung real, materiell wird, gibt es eine Chance, den Kapitalismus zu überwinden. Zweifellos werden die Risse und Spalten (Holloway) im Kapitalismus immer wieder geschlossen, sei es durch Repression, sei es durch Vereinnahmung oder Prozesse der Selbstlimitierung. Aber der einzige Weg zu einer neuen Gesellschaft besteht darin, die Elemente einer neuen zu praktizieren, zu fordern. Das muss nicht bewusst oder aus abstrakter Einsicht geschehen. Der Kapitalismus wird nur dann überwunden, wenn Emanzipation und Befreiung eine Dichte und materielle Intensität erreichen, die gestaltende Mächtigkeit/potentia (Spinoza) annimmt.

Roth denk genau entgegengesetzt. „Die Menschen müssen erst Herr über ihre Verhältnisse werden, bevor von Emanzipation und Selbstbestimmung die Rede sein kann.“ Wir müssen das Projekt der Emanzipation, der Freiheit und Selbstbestimmung, so wir es ernst nehmen, vertagen. Bis wann? Bis wir Herr (sic!) über unsere Verhältnisse werden. Was „Herr über unsere Verhältnisse“ bedeutet, wüsste ich nur all zu gerne. Den starken Gedanken von Marx – die Elemente der neuen Gesellschaft müssen in der alten entstehen – verwirft er, an den problematischsten Formulierungen knüpft er offenbar an. Mit dem Phantasma einer sich selbst transparenten Gesellschaft, die keiner politischen Konstitution, sondern nur einer sachlichen Verwaltung von Sachen bedarf, hat Marx uns eine höchst problematische Formel hinterlassen. Nach bald hundert Jahren Versuchen, die kapitalistische Vergesellschaftung zu überwinden, wissen wir, dass Gesellschaft niemals sich selbst transparent wird. Menschen, Gesellschaft, das Sein: das Moment des Unvorhersehbaren und Unbeherrschbaren ignorieren zu wollen, muss im Desaster enden. Wir werden niemals „Herr über unsere Verhältnisse“ werden, den Gesellschaftsgott kann es nicht geben. Unser Projekt kann nur die Konstitution eines Gemeinwesens sein, das maximale Selbstreflexion der gesellschaftlichen Institutionen und Verhältnisse erlaubt. Cornelius Castoriadis hat dies das Projekt der Autonomie genannt.

Wie wir zuerst maximale Beherrschung unserer Verhältnisse erlangen können, um dann über Emanzipation und Selbstbestimmung erstmals reden können, ist ein Rätsel. Gerade für Roth muss die Beherrschung der „Entwicklung“ der Gesellschaft – damit ist letztlich wohl eine sozialphilosophisch überhöhte Planwirtschaft gemeint – ja schon die Emanzipation sein. Aber wie Emanzipation erlangen, ohne den Prozess der Emanzipation voranzutreiben? Roth führt uns in eine ausweglose Absurdität. Wenn Prozesse der Emanzipation und der Befreiung, die Kraft und Begehren entfalten und gestaltend wirken können, im Kapitalismus unmöglich sind, so ist dieser ontologisch gegen Umwälzung abgeriegelt und das Projekt einer gesellschaftlichen Transformation unmöglich. Aber offensichtlich führt der Weg zur „Herrschaft über unsere Verhältnisse“ nicht über die Entfaltung von Emanzipation und Freiheit, sondern über einen zweiten, völlig andersartigen Prozess. Aber welchen?

Des Rätsels Lösung: Es muss parallel zu kapitalismuskompatiblen Forderungen ein politisch handelndes Subjekt unterstellt werden. Wenn wir das Nichtgesagte einbeziehen, dann gewinnt der Diskurs von Roth durchaus Logik und Stringenz. Dieses projektierte „Wer“, das angenommen den z.B. Mindestlohn durchsetzt, soll dadurch zu höheren Taten fähig sein. Dieses Subjekt muss nicht unbedingt eine Partei leninistischen Typs sein, möglicherweise kann es gegenwärtig gar nicht exakt benannt werden, möglicherweise zeigt es sich als Pluralität von politisch handelnden Subjekten, möglicherweise ist es aktuell nur ein vages politisches Projekt. Dies ist der gemeinsame Nenner von Roth und allen, die im Prinzip am Leninismus festhalten, klugerweise aber erkennen, dass ein lineares Fortschreiben ihrer Parteiaufbauversuche nicht sinnvoll ist. Das je konkrete Projekt wurde zumeist aufgegeben oder relativiert, die Methode aber beibehalten. Die Polemik gegen das Grundeinkommen, stellvertretend für unkontrollierbare Emanzipation, stellt die Klammer dar. Nur wenn eine solche politisch handelnde Einheit unterstellt wird, gewinnt der Diskurs von Roth an Konsistenz und zerschellt nicht an den eigenen Widersprüchen.

Der Prozess der Konstitution dieser politisch handelnden Einheit sowie der Prozess der Emanzipation und Befreiung fallen für Roth zeitlich und logisch auseinander. Daher akzeptiert Roth nur Forderungen, die grundsätzlich vom Anspruch entlastet sind, das Bedürfnis nach Emanzipation, Freiheit und Selbstbestimmung auszudrücken. Der von ihm favorisierte Mindestlohn beansprucht ja gar nicht, Lohnarbeit und Kapitalismus überwinden zu wollen. Exakt darin soll die Stärke dieser Forderung bestehen. Durch das Grundeinkommen – oder was auch immer – den Kapitalismus aus den Angeln heben zu wollen, sei irreal. Eine läppische, ja gefährliche Illusion, so Roth. Hier und heute Freiheit realisieren zu wollen – bitte abschminken! Entsprechend genüsslich rechnet er diesen Forderungen ihre tatsächlichen Verstrickungen in die kapitalistische Vergesellschaftung vor. Sein Dualismus besitzt Logik. Die Forderung nach dem Grundeinkommen ist mit Geld verknüpft, selbstverständlich auch der von ihm favorisierte Mindestlohn. Da der Mindestlohn aber die kapitalistischen Institutionen nicht in Frage stellt, die Lohnarbeit akzeptiert, existiert hier kein Problem, wohl aber beim Grundeinkommen. Wer dieses Argumentationsschema einmal verstanden hat, kann es leicht bei allen Themen durchspielen, es passt und funktioniert immer.

Die Sprache der Emanzipation und die Sprache der Konstitution und Optimierung des politischen Subjekts sind entgegengesetzt. Nicht zufällig ist diese zweite Sprache der Macht eine militärische: Bündnis, Einheit, Strategie, Taktik, Stellungskrieg, Bewegungskrieg. Wenn Roth schlussendlich die BefürworterInnen des Grundeinkommens auffordert, ihre „spaltende und illusionäre Forderung“ (79) aufzugeben, so spricht hier der Standpunkt der Optimierung quasimilitärischer Kräfte, nicht das Bedürfnis nach Befreiung. Emanzipation im Kapitalismus ist Illusion, das haben wir gelernt, wir müssen in Kräftevektoren denken. Da wir den Diskurs der Befreiung vertagen müssen, gilt es, den Diskurs der Machtoptimierung zu führen. Diese Botschaft Roths wird verstanden und goutiert werden, dessen bin ich sicher. Der Leninismus in allen seinen Spielarten, von unverdrossen vorgeschriebenen Parteiaufbauprojekten bis zu mehr gegenwärtig nur als Projekt existierenden Strömungen, lehnt durchgehend das Grundeinkommen ab. Diese Ablehnung hat aus ihrer Sicht durchaus Sinn. Die tatsächlichen Prozesse der Emanzipation und die Machtprojekte standen immer im Konflikt, denken wir etwa an die 68er Bewegung. Doch das Konzept, die Macht der Emanzipation vorzuordnen, ist historisch gescheitert. Roth präsentiert uns eine reduzierte, etwas bescheidene Ausgabe dieses Projekts. Das Pathos fehlt, aber die Elemente sind vorhanden. Vertagung der Emanzipation, Orientierung an imaginierten Kräftevektoren (Bündnis der Erwerbstätigen mit den Arbeitslosen), Ordnung und Einordnung. Alles an seinem Platz und alles zu seiner Zeit. Auch wenn ich das Projekt des Grundeinkommens für sinnlos erachten würde, ich könnte Roth nicht zustimmen.

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