FORVM, No. 241/242
Januar
1974

wir treiben eine politik des todes

aus dem unveröffentlichten nachlaß
die folgenden passagen entstammen dem 1963 von sibylle penkert in paris entdeckten nachlaß carl einsteins. mit der bereits veröffentlichten theoretischen arbeit „die fabrikation der fiktionen“ (rowohlt 1973) und der ankündigung, weitere schriften einsteins zu publizieren, ist die chance zu einer neueinschätzung seines werkes gegeben, dessen facettenreichtum und originalität bislang nur vereinzelt hervorgehoben worden ist.

1885 in neuwied geboren, studierte einstein in berlin philosophie, geschichte, kunstgeschichte und altphilologie. er begegnete picasso, braque und gris, hatte kontakte zu berliner expressionistenkreisen um hiller, pfempfert und walden, war mitglied des brüsseler soldatenrates und freund gottfried benns. zusammen mit george grosz gab er 1919 die zeitschrift „der blutige ernst“ heraus. 1928 übersiedelte er nach paris und gründete mit georges bataille und anderen die zeitschrift „documents“. unter durruti kämpfte er 1936 in spanien aktiv auf seiten der anarcho-syndikalisten. als er 1940 verhaftet und in ein lager bei bordeaux deportiert wurde, nahm er sich das leben.

einsteins werk umfaßt sowohl dichtungen wie theoretische arbeiten, die sich keiner schule oder ideologie zurechnen lassen und deren reflexive momente eine radikale einsicht in die probleme der kunst seiner zeit darstellen. er veröffentlichte lyrik, prosa, dramen und essays, insbesondere kunstgeschichtliche: „bebuquin oder die dilettanten des wunders“ (1912), „negerplastik“ (1915), „der unentwegte platoniker“ (1918), „die schlimme botschaft“ — ein drama, das ihm einen gotteslästerungsprozeß einbrachte (1921), den beitrag über moderne kunst für die propyläen kunstgeschichte, und den „entwurf einer landschaft“ (1930); 1962 erschien ein auswahlband seiner arbeiten. seine späten schriften aus dem nachlaß stellen eine art abrechnung mit seiner zeit dar; einstein radikalisierte in ihnen zunehmend seine politische position. unsere auswahl bringt einen teil aus einem längeren romanfragment, das etwa um 1934 begonnen wurde und in dessen mittelpunkt wiederum — so sibylle penkert — sein „fiktives existenzmodell“ bebuquin steht.

r. prießnitz

ich weiß, nach einer revolution wird nichts geändert sein; eine revolution bietet nur die chance, die dinge zu ändern; kann man es nicht, dann verfällt die revolution. ihr aber glaubt an den staatsstreich, weil ihr glaubt, es genüge, daß andere den staat verwalten. ihr seid reaktionäre, ihr sausozialisten.

„aber wir haben doch jetzt die macht, die stellen?“

„und das dient euch zum vorwand, da ihr euch die bäuche voll haut, alles beim alten zu lassen. ihr wollt ja nur nicht, daß irgendeine wirkliche änderung euch in euren stellen bedroht“.

„aber wir haben doch jetzt die wahre demokratie, die republik.“

„die ein ausgezeichneter vorwand ist, daß jeder lump unternehmer ist, in die neuen geschäfte einspringt und uns noch ärger hochnimmt.“

„und was wissen sie denn von unserer not? sie lesen ihre schmöker und verkaufen den parvenus ihren harmlosen dunst, der keine fliege aufjagt.“

der liberale spricht gegen die diktatur.

„sie werden so lange quatschen und polemisieren, bis andere kommen, die sie gar nicht kennen und sie davonjagen; dann werden sie in muffigen hotels der presse etwas vorheulen.“

BERNHARD: „aber das recht, der freie wettbewerb, jeder kann noch hochkommen, jeder ist zugelassen.“

„gewiß, damit verdienen sie eben noch mehr provisionen, und die inserate nehmen zu. solange wir euch schieber nicht los sind, solange kann nichts werden, und wir sind verloren. das unglück ist, daß ihr, die ärgsten ausbeuter, euch unangreifbar macht, da ihr sympatisiert. ihr hängt eure sympatien für rußland heraus, um euch tabu zu machen, und weil ihr in rußland die möglichkeit ungeheurer geschäfte und provisionen wittert. bitter genug, daß heute die russen euch noch brauchen, und das erlaubt euch, uns ungestraft niederknütteln zu lassen.“

„ihr lebt in einem grauenhaften optimismus; es soll immer besser und besser werden; ökonomische autosuggestion; und wir alle werden immer klüger und klüger, und ihr habt die höchste und endgültige weisheit auf heugabeln eingefahren. ihr wollt bessern; aber wir wollen ändern, wir wissen, daß es da nichts zu bessern gibt. ihr aber, geschäftsklügler, wittert in der revolution den tod, das abenteuer; ihr aber liebt die bürosessel und regelmäßiges essen. wir treiben eine politik des todes. ein teil muß runter, und vor allem ihr. ihr ängstigt euch, da ihr wißt, daß die kämpfer dem tod und mord ausgeliefert sind. aber ihr selber hebt den gewehrkolben über unsere schädel. ihr rüstet und bezahlt unsere mörder.“

(IMMER DEN RÜCKFALL IN EINEN EXPRESSIONISTISCHEN GEORGE ZEIGEN)

EIN JUNGER: wir liegen auf den bänken herum und sehen den kindern zu, wie sie spielen, oder wir spielen selber wie kinder im park. vielmehr wissen wir ja auch nicht, aber wir sind zu alt zum spielen. was uns bleibt, ist der von den gören aufgewirbelte staub. sie sagen, die revolution kommt. wenn sie nur gekommen wäre. wir werden verfault sein, bis sie kommt.

und dann, wir haben genug, in zügen durch die stadt zu gehen. wir schämen uns, uns zu zeigen. leute, die das leben, die arbeit nicht fassen konnten. wir sind elende; sicher; aber wir sind uns zu schade, unsere schuhe sind zu verschlissen, daß wir sinnlos ’rumziehen können, unsere verfehltheit auszustellen. wir sind doch keine auslage. und immer sagt man, wir seien verzweifelt. als wären wir stolz darauf. wir speien auf verzweiflung. ihr mindert nur das bißchen selbstbewußtsein, das wir haben könnten. geht doch mit uns los, so lange wir noch können. ihr sagt, es ist zu früh! und wir sagen euch, morgen ist für uns zu spät! wir kennen euren morgen, der geht am 30. februar auf.

dieses land lebte in verzweiflung, seelisch blokiert — erster luftzug rußland, die deutschen, das geht hoch wie gärteig und fällt dann zusammen. niemand hatte eine idee, was mit seiner freiheit beginnen. sie waren gewohnt, im schritt zu marschieren und in vierergruppen unter grauem himmel zu hungern. nun waren sie frei zu leben und zu sterben.

die länder lagen wie leere, lärmende schweinsblasen ohne sinn, man flickte an allen enden. die einen verfielen an zuviel geist und wahl, die anderen verfielen, weil ihnen niemand wies wohin.

die jungen hatten sich von den alten gelöst, da diese ihnen nichts zu sagen hatten. aber diese jungen zogen umher und sangen besinnungslos lieder in den wind über die wege.

etwas tun, etwas tun. versperrte geistlinge hockten wie spinnen über einer nebenfrage und strickten zweckloses sinnieren über abwege und eingebildete klüfte. dies war nicht tod oder bewegen des schicksals; man döste hungrig, und die vollgegessenen rülpsten den neidischen etwas vor. die funktionäre debattierten, die arbeiter sanken in budenfragen zurück, die studenten hämmerten in kneipen auf den klavieren und starrten nach braten und kartoffelsalat. unerfüllt wölbte der graue regnerische himmel über diesen menschen, und sinnlos lag die asphalterstickte erde, von gasröhren und kabeln durcharmt unter ihnen. menschen in den städten würgten sich durch, aber von den leuten auf dem land wußten sie nichts. mauern und druckpapier umwandete diese leute. der bauer war für sie der feind, der die lebensmittelpreise hochschnellte, der schlau zurückgebliebene neger, der von nichts wußte, aber seine macht mißbrauchte und die leute in den städten aushungerte. und der städter, das war der mann, der sinnlose agrargesetze losließ gegen die hilflosen bauern, ohne roggen und gerste voneinander unterscheiden zu können.

etwas wie eine volksmaschine lief weiter; ohne bewußtsein und hoffnung. die linken, das waren leute, die die erde dem bauer wegreißen wollten. mehr wußte man nicht. leute ohne glauben, wie der pfarrer sagte. und die leute in den städten, das saß in halbleeren, immer größeren büros und fabriken, die maschinen hörte man kaum noch, immer spärlicher entstieg rauch den fabriken.

man riß sich um arbeit. und niemand wußte arbeit zu geben. man ging in versammlungen, aber zog mit leerem magen und kopfschmerzen nach hause. gegen die ausbeuter. gut. aber, wo waren sie nicht; und die ausbeuter, das saß in molligen sesseln mit genossen und ließ sich credit geben. freudig teilten die funktionäre mit, die krise steige; überall in der welt sei krise. man spürte das, und die armen zitterten vor hunger. vor not verlernte man zu denken. jeder trieb seine mühe sinnlos, einfach damit das leben weiter treibe. die funktionäre begriffen nicht, daß die massen ihnen entglitten. sie wußten auch nicht, daß man diese müden zur revolution trainieren müsse. keiner wollte mehr aus der fabrik heraus; denn auf der straße standen millionen, die darauf warteten, in die fabrik zu gehen. und die besitzer warteten auf streik wie der bauer auf regen; endlich eine zeitlang keine löhne mehr zahlen. aber die arbeitslosen schimpften auf die beschäftigten, und die funktionäre ließen tiraden los auf die einigkeit des proletariats.

oben aber saßen unbewegt socialistische fettsäcke und versprachen mit qualmiger stimme besserung. ging es gar nicht mehr, wurde eben auf halbtote verhungerte geschossen, damit die demokratie gerettet werde.

die leute verfaulten, da sie nicht mehr arbeiten konnten. und die jungen waren leer, da sie nie arbeiten durften. man erlernte etwas sport und lag zumeist auf einer dürftigen wiese und schlief, um den hunger zu betrügen.

die mädels marschierten für bonbons oder einen mohrenkopf. die häuser verkamen; niemand hatte geld, sie auszubessern.

BEB [*] lebt in wackelnden, nicht ausgebesserten altjungfernmöbeln, aber antik durcheinandergewürfelt. maler an den wänden, blumiges geschirr, familiensilber, das immer weniger wird, betäubender garten, alte wirtschafterin, alles bohemiens. in den tag. vielleicht wird es besser. eigentlich in einem antiquierten theologischen geschwöge. das träumte über südsee und neolith, während er den tag vergaß; das ersann abänderung des traums und des raums, und ergreiste in eine moderne, die sinnlos sein wollte, nur sich selber bedeuten solle wie reine idee, während straße und buden klagten und die jugend nach dem sinn ihres verrinnenden lebens antwortlos fragte.

da war eine große idee: die gemeinschaft; aber niemand wußte, wie sie organisieren. diese bürger waren von russischem hunger erschreckt. die intellektuellen fanden die ideen sehr sympatisch, aber sie fürchteten die einordnung ihrer zerbrechlichen köpfe in den schallenden marsch gemeinsamer arbeit.

dies land lebte in dämmernder unentschlossenheit, während schlaue spießer regierten und zusicherungen gaben. man vegetierte in krankem halbschlaf, in der trunkenheit der hungerträume. in eine ecke starren, eine blume welksehen, mit einem hund spielen. nur vergessen. die menschen waren von sinnlosigkeit betäubt.

die natur; das war ein ausflug und der kostete. man schleppte die kinder, setzte sich an die landstraße, nahm ein bier und fuhr in vollen wagen geengt nach hause. dies war so gräßlich; man hatte nicht mehr die kraft sich zu freuen; höchstens lachte man hämisch über einen witz. sich freuen; vielleicht, aber hinterher fand man es sinnlos und schämte sich; denn dies stand zu allem im gegensatz.

der bürger, der den anderen fürchtet, der den gestank der gemeinschaftlichen fron loswerden, der sich verstecken will. dort spricht er nur vom wetter, c’est joli, etc. die furchtbare neutralisierung des menschen. ängstlich und gehässig schließt er die wohnungstür hinter sich und offenbart sich nächtlich im bett.

jeder lügt vor dem anderen, jeder ist der provokateur des anderen, sein flik. keiner soll vom andern wissen — die angst — dies sich absperren vor dem nachbarn.

im grunde hält es eben der intellektuelle doch mit den zahlern, um nicht zu verhungern. wir sind so zerteilt, daß der denkende oder schreiber schon unfähig geworden ist, zu handeln.

HIER EIN GESPRÄCH ZWISCHEN BEB UND EINEM JUNGEN VON DER SIEGERSEITE. BEB SUCHT IHN LEIDENSCHAFTLICH ZU WIDERLEGEN / ABER EINES KANN ER NICHT WIDERLEGEN / DEN SIEG DIESES JUNGEN UND SEINEN EIGENEN UNTERGANG.

aber die jugend verliert dank hitler.

BEB trinkt, der junge trinkt nicht. BEB ist verfettet, der junge straff und frisch. BEB sieht nichts vor sich, der junge eine arbeit in einer wenn auch noch so fragwürdigen gemeinde. BEB verneint die gegenwart — also auch sich selber —, dies sagt ihm der junge. denn bisher hat BEB, wenn er alles verneinte, sich immer ausgenommen. der junge zerstört ihm dies reservat und beweist ihm, daß er, BEB, eben auch in die vergangene zeit gehöre. BEB sieht, er muß bettler bleiben, dem anderen steht eine gesellschaft zur verfügung, in der er reussieren und hochsteigen kann. er wird immer mehr fremder; denn nach dem krieg stiegen — selbst bei den internationalen — die nationalismen immer stärker. er kennt nur noch niedergehende; alle aufsteigenden trennen sich von dem stagnierenden emigranten, der in ganz vergangenen problemen, gesellschaftsformen und fragen lebt. er wird in EINEM jahr ein uralter mann. er ist von spielerischen revolutionären der alten generation umgeben, während die jungen wieder mit ungehemmtem eifer anschluß, chance und milieu sich suchen und schaffen. denn nichts kann gegen die frische und den ehrgeiz einer jugend. BEB schilt sich haltlos. er ist also wie ein winterlich grämlicher aristokrat, der die forderungen der gegenwart, den lebenswillen nicht mehr fühlen und begreifen kann.

er sieht, daß er sein leben in einem kritischen geschimpfe verbracht hat. selbst seine PRIVATE MYTOLOGIE war letzten endes nur kritik gewesen. etwas negatives. er suchte eine reinere welt, aber nicht durch handeln, sondern indem er schimpfte und in der kritik vor dem handeln flüchtete.

die gesellschaft war so beschaffen, daß die meisten — abgesehen von verdünnenden konformisten oder feigen angstmeiern oder faulen — jeder eben in die negation getrieben wurde.

BEB hatte immer geglaubt, etwas schöpferisches eigenes habe ihn in die gesichte getrieben, aber dies war zum größten teil eine reaktion, ein getriebenwerden infolge der verbrauchtheit der gegenwart. aber er fand nicht den fruchtbaren moment, in die gegenwart selber einzugreifen. ER VERSUCHT ES INSTINKTIV MIT DEM KOMM, aber er hat seine person schon dermaßen künstlich gezüchtet und isoliert, daß er nicht mehr in den KOMM hineinpaßt. übrigens scheitert dieser an der verwaschenheit und dem mangel an gemeinschaftsgefühl, das über die phrase hinausgeht.

der ausdruck des konkreten der tatsache war zu BEBs zeiten das geschäft. aber nur eine widerliche minorität konnte und durfte geschäfte machen. er selber ist dazu unfähig.

BEB ist seiner unsicher; er will sich einen verband, ein gemeinschaftsgefühl bestätigen, und so spornt er die masse immer zur aktion an; denn er selber verspürt das bedürfnis, der faulen kontemplation zu entkommen, aus den kissen des dumpfen denkens aufzusteigen. denn es gibt ein vages, faules denken, gleich der selbstbefriedigung, worin man dämmernd träumt und verfault, das jeder handlung oder ordnung fremd und entgegengesetzt ist, ein träumendes denken, das in erstickende sümpfe lockt und versenkt, verschlammt mit hie und da einem aufschrei von sinnloser, weil mitten im sumpf — klarheit. BEBs leben, das allem handeln entgegengesetzt war und fremd, stößt ihn in eine art frenetisches handeln. wie ja auch diese verzweifelte masse in einer art ausbruch fast planlos kämpft. diese masse könnte siegen, aber sie ist von elend und verzweiflung blind.

in BEB agiert auch noch der haß des denkenden gegen die sinnlose gemeine existenz. und dieser gänzlich verträumte will sich am tod der anderen und selbst am eigenen tod beweisen, daß er das leben unmittelbar fassen kann. er, den man immer und er sich selber für einen traumclown, einen harmlos irren hält. und verspottet. BEB sucht im handeln, im aufstand dem traum zu entrinnen, diesem feig sinnlosen sinnieren. aber der aufstand mißlingt, und er fällt noch tiefer und schimpflicher in den traum zurück und ist jetzt sicher, daß er dermaßen von negation verseucht ist, daß jedes handeln ihm mißrät. BEB will im handeln die ihm furchtbare kritik verlieren. nach dem mißglückten aufstand steckt er noch viel tiefer darin. DER TRIBUN HINGEGEN STEIGT AN DIESEM MISSGLÜCKTEN AUFSTAND BEBS EBEN HOCH. der tribun quatscht in dem faulen idealistischen ton, während BEB in eine noch sadistischere analyse zurückfällt, tönt der tribun von syntese, aufstieg usw. er verdreht die kommunistische terminologie, die er bei BEB gelernt hat, in ein idealistisch demagogisches geschwätz.

[*Abkürzung für „BEBUQUIN“

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