Weg und Ziel, Heft 4/1997
Oktober
1997

Wie sich Vertrautes auf den Kopf stellt

Foucault: Überwachen und Strafen

Beim Lesen dieses Buchs* entsteht zunächst ein Gefühl starker Verfremdung, dann kommen surrealistische Bilder hoch — oder öffnet es den Blick für die surrealistische Dimension unserer Realität?

Jedenfalls verblüfft es durch seinen zur gängigen Welt- und Selbstsicht des Lesers „verrückten“ Blick und dessen paradoxe Ergebnisse: Diese stehen letztlich alle „quer“ zum herrschenden Diskurs über europäische Geschichte als Prozeß der Befreiung des Subjekts.

Hat man sich an die Verblüffung erst einmal gewöhnt, öffnen die gleichen Ergebnisse aber neue Zugangsweisen zu einigen philosophischen und anthropologischen Grundfragen unserer Realität, nämlich zur Konstituierung und zum Charakter menschlicher Subjektivität und was mich insbeson- ders interessiert, zur Entstehung von Psychologie. Darüberhinaus erschließt der „Anti-Psychoanalytiker“ Foucault uns ein weites Feld für psychoanalytische Fragestellungen, nämlich zu den Mythen unserer Kultur und vor allem zur Mythologisierung einer ichförmi- gen menschlichen Identität.

Um mit dem Auf-den-Kopf-Stellen der europäischen Geschichte anzufangen, verstellt die sprichwörtliche mittelalterliche und vorbürgerliche Grausamkeit oder Inhumanität im Umgang mit dem Menschen — in fast unerträglich genauer Weise an den Folter- und Hinrichtungsritualen im vorrevolutionären Frankreich vorgeführt — den Blick für ein anderes wesentliches Merkmal dieser Zeit: Kontrolle und Repression beschränkten sich auf bestimmte äußerliche „Schnittstellen“ zwischen den Herrschenden — verkörpert in der Person des Königs — und dem Volk. Für diese Schnittstellen können als Beispiel Justiz, Militär, Steuereintreibung und feudale Ausbeutung bzw. Abhängigkeiten stehen. Kontrolle und Repression drangen hier nie systematisch in die „Innenräume“ des sozialen und persönlichen Lebens ein, hatten vielmehr den Charakter punktueller Eingriffe in ein naturwüchsiges und diffuses System von sozialen Abläufen: sie begrenzten sich darauf, bestimmte Vorgaben der Herrschenden aufzuzwingen. Kurz gesagt gab es im Sinn von H. P. Dürr (Traumzeit) inmitten der Zivilisation weite und unkolonisierbare Räume von Wildnis.

Was die Justiz betraf, galt das im wörtlichen Sinn: Wegen Straftaten Gesuchte konnten mühelos „untertauchen“, in den Wäldern leben oder in anderen „Welten“ ein neues Leben beginnen. Aber selbst im Agieren der Macht gab es diese Grenzen: Jeder Strafprozeß hatte den Charakter eines Duells mit der Justiz als Vertreterin des Souveräns auf der einen Seite und dem Angeklagten aber auch dem Volk auf der anderen, mit bisweilen ungewissem Ausgang. Der Applaus für den Henker des zu den Hinrichtungen zitierten Volks konnte jederzeit in eine Identifikation mit dem Angeklagten „umkippen“ und diese Ambivalenz — Strafvollzug als exemplarisches und nie „flächendeckendes“ In-die-Schranken-Weisen eines nicht voll berechenbaren Volks — war von Fall zu Fall durchzustehen. Noch im Hinrichtungsakt selbst konnte sich dieser Duell-Charakter manifestieren: traten im Vollzug des Todesurteils irgendwelche technische Komplikationen oder Kunstfehler auf, so konnte das Opfer auf der Stelle freigelassen werden. Noch in einem konkreteren Sinn war aber der Strafprozeß exemplarisch: die staatliche Macht mußte nicht nur wegen der technischen Mängel des Justizapparats mit einer hohen Dunkelziffer von ungesühnten Gesetzesverletzungen leben, sondern war darüberhinaus gezwungen, wegen der Massenhaftigkeit bestimmter Typen von Illegalismen in bestimmten Klassen/Gruppen oder geografischen Zonen, diese mehr oder weniger offiziell zu tolerieren. Eine durchgreifende Kontrolle, die das lückenlose Durchsetzen rechtlicher Normen ermöglicht hätte, existierte also nicht.

Was die „Logik“ des Strafvollzugs betraf, gehorchte dieser — und das ist ein weiteres paradoxes Detail dieser „Gegengeschichte“ Foucaults — einem gleichsam archaischen Prinzip der Menschenwürde: Es ging um eine Tat, mit der der Täter eine Rechtsnorm verletzt und damit den Souverän herausgefordert hatte. Der Täter hatte sich folglich als Rechtssubjekt vor der Justiz zu verantworten, und mit der Strafe war die Verletzung der Rechtsnorm gesühnt, ohne daß damit der Betroffene in irgendeinem klassifikatorischen, taxonomischen oder psychologischen Sinn als Spezies besonderer Art, also das was später Krimineller und Delinquent heißt, etikettiert gewesen wäre.

Nach Foucault geriet dieses System in Frankreich schon erheblich vor der Französischen Revolution in die Krise, und zwar sowohl hinsichtlich der ideologischen Grundlagen seiner Legitimität als auch hinsichtlich seiner Effizienz für die Sicherung der herrschenden Interessen. Die herrschenden Interessen verschoben sich mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise — konkret dem Entstehen großer Manufakturen, Handelszentren und der Konzentration von neuem Reichtum — ja auf das Bürgertum, und das verlangte gegen die explosionsartig anwachsenden Eigentumsdelikte eine wirksame Sicherung und nicht nur exemplarische Bestrafungen. Ideologisch-staatsphilosophisch wurde dieses Projekt von Denkern der Aufklärung wie Rousseau abgestützt, der in seinem „contrat social“ eine völlig neue Kategorie von Gesellschaft und ein völlig neues Prinzip von Legitimität definierte:

„Gesellschaft“ wird gefaßt als freiwilliger Zusammenschluß von Individuen, die in ihrem Vertrag allseitig verbindliche Normen des Zusammenlebens vereinbaren, deren Einhaltung in Form von Gesetzen die Justiz sicherzustellen hat. Hier interessiert nicht die Frage, wie Rousseau auf diese Staatstheorie (nicht: -utopie) kommen konnte, die so fern von allen Erfahrungen der abendländischen Geschichte, insbesondere der französischen, ist. Das Interesse Foucaults gilt vielmehr den konkreten Wirkungen dieser neuen und in der Französischen Revolution sich durchsetzenden Sichtweise. Um nur zwei solche Wirkungen zu nennen:

Erstens wird die Gesellschaft zu einem kohärenten und ihren Mitgliedern übergeordneten Gebilde (im Unterschied zu diesem Aggregat diffuser Räume und heterogener Gruppen, das von einem Souverän von außen mit Zwangsmitteln zusammengehalten wird), das nach allgemeingültigen und allgemeinverbindlichen Gesetzmäßigkeiten funktioniert.

Zweitens reduziert sich die Vielfalt sozialer Einheiten (Familie, Dorf, Stand usw.), die die bisherigen Gesellschaften charakterisierten, auf ein eindeutiges Element, das Individuum, ein mit Willen und Freiheit begabtes Atom, dessen Freiheit aber nur fiktiv ist, denn es hat sich ja immer schon im „contrat social“ gebunden und in ein übergeordnetes Ganzes eingefügt.

Körperliche und ideelle Existenz

Da dieses Individuum aber in seiner ideellen Qualität als Willensträger Vertragspartner ist, erzwingt das eine folgenreiche Unterscheidung zwischen seiner körperlichen und seiner ideellen Existenz. Und auf diesem Unterschied baut der ganze Diskurs auf, der seitdem über Humanismus und Menschenrechte in Umlauf ist. Diesem Diskurs gemäß haben sich gesellschaftliche Einwirkungen und insbesondere Sanktionen nämlich auf die ideelle Existenz des Individuums zu beschränken, in Form von moralischen Appellen, Erziehungsmaßnahmen, Straftechniken usw. Nur in Fällen, in denen sich dieses ideelle Individuum unwiderruflich außerhalb der Gesellschaft gestellt hat, hat diese das Recht, es auch körperlich zu entfernen, wobei der körperliche Eingriff aber auf ein zeitliches und räumliches Minimum zu reduzieren ist. Die Erfindung der Guillotine ist die geradezu idealtypische Antwort auf dieses philosophische Prinzip.

Von diesem Extremfall abgesehen, steht aber ein schwierigeres Problem zur Lösung an: Es geht darum, eine „Kunst des Strafens“ zu entwickeln, in der jede Strafe den Nutzen einer Rechtsverletzung auf wohlbemessene Weise aufzuwiegen hat. Sie muß dabei den Charakter einer öffentlichen Sühne haben und ist mit Zeichen zu versehen, die im Bewußtsein jedes Bürgers den Zusammenhang mit der verletzten Norm herstellen. In der Kunst des Strafens ist die herrschende Ordnung also als System von Zeichen zu repräsentieren, die immer und überall in Umlauf zu bringen sind. Das läuft auf ein geradezu wissenschaftliches Projekt hinaus, nämlich das Auffinden und Herstellen einer „Ordnung“ in der Vielfalt von Straftaten, das Ausarbeiten eines differenzierten Klassifizierungssystems also, in der jede Straftat ihren logisehen Platz hat, ähnlich dem Linneschen System der Botanik. Der Rest des wissenschaftlichen Problems besteht dann darin, in diesem System jeder Straftat eine logisch zwingend abgeleitete Strafe zuzuordnen.

Bereits an diesem Punkt zeichnet sich ein weiteres Paradox des Foucaultschen „Gegenblicks“ auf Geschichte ab: Die Menschenrechtsprinzipien der Französischen Revolution, wie sie sich in der Entdeckung des Individuums und dem Konsens als Grundlage staatlicher Legitimität darstellen, lassen sich ebensogut als Einleitung eines entgegengesetzten Projektes lesen, in dem es um die umfassende Modellierung des Menschen nach gesellschaftlichen Vorgaben geht. Dieses Projekt hat zum Kern eine neue Technik lückenloser Disziplin und Kontrolle, also einen totalen Zugriff auf den Menschen, im Vergleich zu dem die feudalistische oder absolutistische Ordnung geradezu als eine „offene Gesellschaft“ (im Sinn von Popper) erscheint.

Foucault führt dann für einige gesellschaftliche Bereiche die konkrete und äußerst zielstrebige Arbeit an diesem Projekt des Einrichtens einer disziplinarischen Ordnung vor, nicht ohne zuvor auf ein weiteres paradoxes historisches Phänomen verwiesen zu haben: All die flammenden Plädoyers von Philosophen, Staatsrechtlern und Juristen für eine immer differenziertere „Kunst des Strafens“, als unverzichtbares Kernstück einer öffentlichen Repräsentation der gesellschaftlichen Ordnung, münden in eine Überraschung: die hermetisch abgeschlossene und immer perfekter organisierte Strafanstalt tritt auf die Bühne, in die sich innerhalb kurzer Zeit und in unseren Zeiten fast vollständig der Strafvollzug verlagert. Wir stehen also vor einem völlig neuen Typ von Strafpraxis, die auf den ersten Blick dem philosophischen und ideologischen Diskurs dieser Zeit ins Gesicht zu schlagen scheint, und dieser Widerspruch scheint sich bis heute eher noch zugespitzt zu haben. Erst am Ende seiner „surrealistischen“ Reise durch unsere Geschichte macht Foucault sichtbar, daß selbst dieser Widerspruch zwischen theoretischen Vorgaben und darauf folgender Praxis noch seine Funktion im Rahmen eines großen epochalen Projekts hatte, das unter der Überschrift „Modellieren und Kontrolle“ steht.

Dieses Projekt wird in drei Bereichen vorgeführt: einem neuen System militärischer Ausbildung, einem neuen System schulischer Erziehung und einem neuen System von Arbeitsorganisation. Allen drei Bereichen gemeinsam ist ein neues Konzept von Disziplin, deren Modell der gefügige und gelehrige Körper ist. Eine Vielzahl von Techniken zur Disziplinierung von Körpern entsteht, die auf den ersten Blick heterogen aussehen und durch keine einheitliche Regie koordiniert zu sein scheinen. Aber sie ergänzen sich auf geradezu verblüffende Weise, im Rahmen eines Gefüges, das Foucault „Mikrophysik der Macht“ nennt.

Einige Beispiele zur Veranschaulichung

  • Während bisher an einen Marschschritt keine anderen Anforderungen gestellt wurden, als daß er dem Rhythmus einer Trommel folgt, im Gleichschritt mit den anderen Soldaten, findet jetzt eine detaillierte Analyse des Bewegungsablaufs statt. Diese mündet in ein entsprechend detailliertes Ausbildungsprogramm ein, das auf Zentimeter und Sekundenbruchteile genau und für alle beteiligten Komponenten des Körpers den Bewegungsablauf festlegt. Noch extremer in dieser Richtung ist das Auftauchen geradezu mikroskopischer Drehbücher für das Exerzieren mit dem Gewehr.
  • Eine etwas anders strukturierte Revolution findet in der schulischen Ausbildung statt: Während früher der Lehrer seine Zeit auf Schüler verschiedenster Alters- und Leistungsstufen aufzuteilen hatte, mit der Folge, daß die Mehrheit der Schüler ständig und jeder einzelne den größten Teil der Zeit sich mehr oder weniger friedlich aber jedenfalls unkontrolliert die Zeit vertrieben, wird jetzt ein neues Modell eingeführt, das auf der sogenannten Methode von Lancaster aufbaut: Schon räumlich werden die Schüler so angeordnet, daß eine möglichst vollständige Klassifikation nach Leistung, Alter und sozialer Herkunft resultiert. Durch ein System von Helfern und Aufsichtsschülern finden viele parallele, koordinierte und hierarchisch gesteuerte Lernprozesse zur gleichen Zeit statt, was eine optimale Ausnutzung der Zeit zum Ziel hat. Die so eingeführte vollständige und kontinuierliche Kontrolle wird durch ein System von Signalen (Pfeifen, Läuten, Klopfen, Bewegungen usw.) abgesichert, das ein geradezu automatisches Funktionieren des Schulbetriebs sicherstellt.

Diese Beispiele treten neben das bereits erwähnte „Urmodell“, für ein solches perfekt organisiertes Regime der Disziplin: die neue Modell-Strafanstalt, das „Panoptikum“.

Das Individuum wird zu einem psychologischen Konstrukt

Was zunächst nur nach einer neuen Eigenart bestimmter gesellschaftlicher Institutionen aussieht, also ein abgrenzbares Phänomen sein könnte oder allenfalls ein neuer Organisationstyp gesellschaftlicher Praxis, entpuppt sich im weiteren als äußerst fundamentaler Einschnitt in die Bedingungen menschlicher Subjektivität. Insbesondere kann in dem hier in Gang gesetzten Geschehen der historische Ausgangspunkt für das Entstehen von Psychologie als positive Wissenschaft verortet werden. An den Körpern ansetzend, wird nämlich das Individuum, das bei Rousseau lediglich als Träger freien Willens und als gesellschaftliches Atom, im übrigen aber ohne weitere objektive Spezifizierungen auftrat, fortan zu einem psychologischen Konstrukt: Hinter Körpern, die sich den Disziplinierungstechniken gegenüber besonders gefügig erweisen, werden bestimmte positiv codierte psychische Charakteristiken vermutet, und hinter Körpern, die sich widersetzen, negativ codierte. Hinter Körpern, die bestimmte Leistungen mit besonderer Leichtigkeit hervorbringen, eine besonders entwickelte Intelligenz, hinter Körpern, die Straftaten begehen, der psychische Typus des Delinquenten usw. Aus all diesen psychologischen Klassifizierungen sind praktische Entscheidungen abzuleiten, und insofern sind sie mehr als reine Fiktionen. Sie bestimmen etwa sehr „handfest“ die Arbeit der Gefängnisverwaltungen, die auf dieser Grundlage etwa den individuellen Gefangenen den seiner psychologischen Diagnose und Prognose entsprechenden Vollzugsmaßnahmen zuführt. Was sie aber „wirklich“ bedeuten, ist damit noch nicht beantwortet. Die Antwort wird nämlich dadurch kompliziert, daß im gleichen historischen Prozeß die eingangs erwähnte ichförmige Identitätsstruktur des bürgerlichen Individuums entsteht. Und diese, samt ihrer Beschreibung in psychologischen Konstrukten, selbst wenn sie nur ein Phantasma, eine Selbsttäuschung oder diese „Lumpenpuppe“ sein sollte, von der Lacan redet, erfüllt eine lebenswichtige Funktion — „lebenswichtig“ jedenfalls für das Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft.

Strukturalistischer Zugang

Über diese Frage hinaus — und hier führt der strukturalistische Zugang eine Ebene ein, die aus dem Objektivitätsdilemma bei der Einschätzung von Psychologie hinausführen kann — läßt sich jedoch folgendes sagen: Das Einbinden der Körper in ein disziplinarisches Regime zwingt diesen eine fundamental neue Struktur auf, die deren physisches und geistiges Verhalten bis in die subtilsten Details hinein prägt. (Foucaults Körperkategorie steht übrigens hier dem Körperkonzept der strukturalen Psychoanalyse sehr nahe — vgl. Aulagnier, Sami-Ali, Rodulfo). Im erfolgreichen Fall entsteht das, was seither ein tüchtiger und disziplinierter Bürger bzw. Arbeiter genannt wird. Dessen Lebensvollzüge sind auf einem Kontinuum von Zeitquanten angeordnet, die so effizient und intensiv wie möglich zu nutzen sind. Dieses Kontinuum ist seinerseits mit einer Vielzahl von über die Lebenswelt verteilten anderen Zeitreihen koordiniert, die zusammen ein zellenförmig aufgebautes räumlich-zeitliches Bezugssystem ergeben, in dem die möglichen Wege und Übergänge genau vorgeschrieben sind (ein Beispiel dafür wäre das raum-zeitliche Bezugssystem der Schule mit präzis definierten Regeln zu „Sitzenbleiben“ oder „Versetztwerden“ und den damit verbundenen Übergängen von einer Schulklasse in eine andere). Was aber das Entscheidende ist: am Ende eines solchen erfolgreichen Durchlaufens der „Disziplinarmaschine“ sind alle Regulierungen verinnerlicht, wird aus der Disziplin die Selbstdisziplin: Wir finden den Manager, der bereit ist, aus seiner Zeit und der der anderen das Äußerste an Leistung „herauszuholen“, und den Arbeiter, der das strenge zeitliche und organisatorische Regime einer Fabrik und deren Leistungsvorgaben zumindest akzeptieren gelernt hat. Foucault nennt die von der Diszipli- narmaschine geschaffene und auf diesem raum-zeitlichen Zellenschema gründende neue Identitätsstruktur „zelluläre Individualität“. (Daß diese das Produkt eines tiefgehenden und langwierigen Modellierungsprozesses ist, bekamen übrigens vor einigen Jahren ganz unerwartet westliche Unternehmer zu spüren, die mit Industriearbeitern der ehemaligen sozialistischen Länder zu tun hatten: es fehlte denen „etwas“, was nicht durch Appelle an Fleiß und guten Willen und auch nicht durch kurzfristige Qualifikationsmaßnahmen behoben werden konnte.) Auf diese zelluläre Individualität kann sich das stützen, was Foucault als Mikrophysik der Macht bezeichnet.

Die Prägungen, die diese Disziplinarmaschine an der Identitätsstruktur vornimmt, sind damit aber nicht erschöpft. Eine weitere von ihr hervorgebrachte fundamentale Struktur ist das kontinuierliche und „logische“ Akkumulieren von Effekten. Als deren Modell können die Schule und deren sauber an einem zeitlichen Faden aufgereihte Lernschritte gelten, die sich als ständig fortschreitendes Wissen und Können in Körper und Geist des Schülers sozusagen ablagern. Das pädagogische Entwicklungsziel all dieser Schritte ist der gelehrige, tüchtige und disziplinierte Körper und ein diesem dienender Geist. Dieses Schema von zwingend angeordneten Zeitquanten und deren Effekten führt verinnerlicht zu dem, was bei Foucault „genetische Individualität“ heißt: Das Individuum als sich selbst gegebenes „Entwicklungsprojekt“. Diese Individualität manifestiert sich für das Subjekt zugespitzt in dem, was heute Karriere- oder Lebensplanung heißt. Aber auch das in der deutschsprachigen Bildungswelt schon klassische Phänomen, daß ein Abiturient oder Magister seine Ausbildungseinrichtung mit dem Gefühl verläßt, das gesamte Wissen der Menschheit in sich akkumuliert und für jedes Problem eine Antwort zu haben, gehört dazu. Kurz gesagt ist Körper also nicht nur Objekt einer Zwangsmodellierung. Er selbst ordnet sich vielmehr einem lebenslangen Programm zu, das diese Modellierung organisiert.

Konstruktion von Bewußtsein

Das dadurch subjektiv entstehende „biografische“ Lebensgefühl baut auf so tiefliegenden strukturalen Mustern dieser Disziplinargesellschaft auf, daß es nur schwer möglich ist, daraus herauszutreten und ein anderes Lebensgefühl zumindest zu phantasieren. Im gesamtgesellschaftlichen Maßstab entspricht diesem Lebensgefühl ein Bewußtsein von geschichtlicher Kohärenz und von Fortschritt, dessen fiktiver Charakter ja von Levi-Strauss sehr schön analysiert worden ist (vgl. „Geschichte und Dialektik“). Die körperlich-materiale Grundlage dieses Bewußtseins ist wiederum die Akkumulation, jetzt jedoch im gesamtgesellschaftlichen Maßstab, nämlich die Akkumulation von Arbeit und Kapital. Es wäre interessant, an konkretem Material, etwa an der Literaturentwicklung dieses Zeitraums, nachzuzeichnen, wie sich dieser Prozeß der Konstruktion von biografischem und historischem Bewußtsein im einzelnen abgespielt hat.

Stattdessen sollen hier abschließend einige Gesichtspunkte angedeutet werden, die helfen, den „surrealistischen“ Blick Fouaults in eine sehr realistische Angelegenheit von Politik und Praxis zu verwandeln.

  • Wer sich in der psychologischen (bisweilen auch psychoanalytischen) Praxis engagiert, sollte in Betracht ziehen, daß nach der Foucaultschen Analyse der historische Ort, der das Grundmodell psychologischer Erkenntnis darstellt und an dem der Gegenstand psychologischer Praxis konstruiert worden ist, Strafanstalten und andere Disziplinarmaschinen waren. In diesen ging es darum, die Widerständigkeiten in den Griff zu bekommen, die die Körper ihrer Modellierung entgegensetzen. Psychologie bildete in diesem Sinn also immer einen integralen Bestandteil einer Mikrophysik der Macht. Er sollte außerdem bedenken, daß das sein psychisches Befinden und Funktionieren reflektierende und problematisierende Individuum unserer Kultur immer schon nicht nur Objekt, sondern Produkt dieser umfassenden Disziplinierungsmaschine ist. Psychologische Praxis, die nicht zumindest als utopischen Bezugspunkt über einen dieses System überschreitenden Gegenentwurf von Subjektivität verfügt, riskiert also, genau an einem psychischen Apparat herumzureparieren, der Produkt und lebenswichtige Komponente dieser Disziplinarmaschine ist. Der von Foucault gesehene Beitrag der Psychoanalyse zu einer Mikrophysik der Macht läge übrigens auf einer anderen Ebene, wobei gegen seine Psychoanalysekritik angeführt werden darf, daß neuere, vor allem strukturale Ansätze (etwa bei den schon erwähnten Autoren Aulagnier, Sami-Ali und Rodulfo) was ihren Zugang zu Subjekt, Körper und Kultur betrifft, recht mühelos mit Foucaults Ergebnissen verknüpft werden können. Aber das wäre ein eigenes Thema.
  • Wer seine psychologische Praxis in den Dienst der Emanzipation von Individuen und der Ermöglichung von Individualität stellen will, sollte sich darüber Rechenschaft geben, inwieweit nicht auch ihn dieses Foucaultsche Paradox einholt, nach dem Repression in unserer Gesellschaft genau in dieser Individualität ihre Grundlage hat, wieweit er also nicht in Wirklichkeit an der Verfeinerung und Konsolidierung einer von innen gesteuerten Mikrophysik der Macht mitwirkt. (Konkretisieren läßt sich dieses Paradox bekanntermaßen am Phänomen „Sexualität“, nach Foucault genau eine weitere historisch entstandene Konstruktion, hinter deren sogenannter Befreiung er eine sehr wirksame Kanalisierung und Disziplinierung von Wunschproduktion ausmacht — vgl. „Sexualität und Wahrheit“).
  • Nehmen wir als letztes Beispiel den „Knastpsychologen“. Foucaults Untersuchung spitzt sich an der Frage zu, wieso das neue Modell der Strafanstalt als Disziplinarmaschine sich bis heute gehalten und alle Reformprojekte im Kern unverändert überstanden hat. Denn es stand schon zur Zeit seiner Entstehung in eklatantem Widerspruch zur damaligen Staats- und Rechtsphilosophie und deren Prinzip der Wiedereingliederung, und in der seit 200 Jahren andauernden Kritik ist schon buchstäblich jedes Argument unendlich oft hervorgebracht worden. Sein Ergebnis: Entgegen allem Reformgeschwätz hat sich diese Art Strafvollzug hervorragend bewährt, und zwar gerade wegen iherer hohen Reinzidenzrate, wegen ihres Stigmatisierungseffekts, wegen all ihrer Mechanismen der Züchtung und Reproduktion von Delinquenz.

Denn diese Delinquenz wird gebraucht: Sie kanalisiert auf vergleichsweise harmlose und beherrschbare Art Wunschpotentiale in unserer Gesellschaft, die die Disziplinarmaschine sprengen könnten (wie etwa im Pariser Mai 1968), und führt sie einer Spezial-Disziplinarmaschine zu, die ihre Insassen zu einer leicht isolierbaren und identifizierbaren Spezies zurichtet. Gleichzeitig führt die Delinquenz eine wichtige Unterscheidung ein zwischen zulässigen und unzulässigen Illegalismen. Sie hält damit die kriminellen Energien der großen Mehrheit der Bevölkerung in Schach und schreibt der ganz großen Kriminalität, etwa der Wirtschaftskriminalität oder dem organisierten Verbrechen, Kriterien vor, die einzuhalten sind, und die ihre Systemverträglichkeit regeln (etwa das Kriterium, daß ein Großunternehmen seine Konkurrenz nicht mit dem MG, sondern besser durch Börsenmanipulationen oder subtile Erpressung liquidieren sollte). Und der, sagen wir, sozialkritisch orientierte Knastpsychologe sitzt in diesem System drin und mißt seinen Erfolg daran, wieweit er einem Knacki vorzeitig zum offenen Vollzug verhelfen konnte oder ob er der Knastverwaltung eine gruppentherapeutische Sitzung pro Woche abgerungen hat.

Wie er es auch anstellt, die Effekte seines Tuns sind alles andere als subversiv. Denn es ist gerade diese Verbindung von wissenschaftlich-psychologischer Verwaltung von Delinquenz als technische Komponente der Disziplinarmaschine „Knast“ und die Vorzeigefunktion von Psychologen vor der Öffentlichkeit unter der Rubrik „Humanisierung des Strafvollzugs“, die den Wert der „Knastpsychologie“ ausmacht: Die Abteilung „Strafvollzug“ und die Abteilung „Ideologie“ unseres bürgerlichen Staates teilen sich sozusagen die Rolle unseres Knastpsychologen. Foucault spricht hier aus Erfahrung, nämlich als ehemaliger militanter Mitarbeiter verschiedener autonomer Gefangeneninitiativen. Was übrigens empirisch für seine Einschätzung spricht, ist, daß in Frankreich in der Zeit der großen Gefängnisaufstände um 1968 herum die Revoltierenden zwischen Knastpsychologen und dem Rest der Gefängnisverwaltung keinerlei Unterschied machten, die Knastpsychologie zusammen mit ähnlichen „Errungenschaften“ eines humanen Strafvollzugs wie einen Spuk wegwischten und sie als Teil der „Knastmaschine“ definierten, gegen die der Kampf zu führen ist.

Wir sind damit am Ende. Wie zu zeigen war, können sich kulturkritisch betrachtet die Grenzen zwischen „Surrealismus“ und „Realismus“ weitgehend verwischen: Das „Reale“ und „Vertrauteste“ unserer bürgerlichen Welt entpuppt sich als „surreal“, und erst das „surreale“ Auf-den-Kopf-Stellen der Welt macht „Reales“ sichtbar.

*) Michel Foucault: Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1976.

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