FORVM, No. 223
Juli
1972

Wie lange noch Allende?

Der nachfolgende Text erscheint in erweiterter Form demnächst als Buch bei Luchterhand unter dem Titel „Debray/Allende: Der chilenische Weg“.

Régis Debray, Salvador Allende

I. Die Chance Chiles

In Chile wird ein subtiles und gefährliches Spiel gespielt — dessen Härte sich immer weniger hinter dem Anschein jener urbanen Herzlichkeit, die der charakteristische Zug der Chilenen sein soll, verbergen kann. Bis zum Augenblick wenigstens handelt es sich, von einigen Unregelmäßigkeiten abgesehen, um ein „Spiel“. Jede der beiden betroffenen Parteien beobachtet die vorher (von einem der beiden Gegner und zu seinem eigenen Nutzen) festgelegten Regeln, die von beiden Teilen wohl oder übel respektiert werden: die Regeln des freien Spiels der „demokratischen Institutionen“, die in den liberalen Republiken in Kraft sind.

Im bürgerlichen Lager spielt man wenigstens noch das Spiel, auch wenn erwiesen ist, daß man es nicht ehrlich spielt. Tiefschläge sind erlaubt, werden aber nicht offiziell bewertet; man schließt die Augen. Bis wann?

„Die formale bürgerliche Demokratie kann sich höchstens noch drei Monate halten“, sagte vor kurzem ein Revolutionsführer, Senator der Republik. „Dann kommt der Schock.“ Über die Prognose kann man reden; der Termin kann sich verschieben. Sicher ist jedenfalls, daß der Weg von höflichem Haß zu offener Feindseligkeit kürzer ist, als man auf beiden Seiten geglaubt hat, und daß heute ein merkwürdiger, zerbrechlicher und angespannter Zustand von Waffenruhe herrscht, der nicht ganz und gar Friede ist, ohne schon Krieg zu sein, und der von einem Tag zum andern beendet werden kann.

Der Lauf der Ereignisse beschleunigt sich im selben Maße, wie die Klassengegensätze sich zuspitzen, ohne daß man schon die Art und Weise oder den Augenblick vorhersehen könnte, auf die und in dem sie gelöst werden. Alles geht so vor sich, als stünde man vor einem widersprüchlichen Prozeß, dessen Lösung und Ausgang nicht in den Bedingungen, unter denen er sich bis jetzt entwickelt hat, enthalten sind.
Wenn es nur um den banalsten politischen Augenschein geht, dann hat es keinen revolutionären „Einschnitt“ gegeben. Unmöglich, auf den ersten Blick ein „vorher“ und ein „nachher“ zu entdecken: weder in der Uniform der Carabineros, noch im Blick der Passanten, noch in der Benennung der öffentlichen Gebäude, noch im Ansturm der Automobile zum Strand am Sonnabend nichts, woraus man entnehmen könnte, daß hier eine neue Welt entstünde. Und dennoch hat, von vorher festgelegten, schwer handzuhabenden, aber unmöglich zu umgehenden Bedingungen aus, eine Schwangerschaft begonnen, von der zu diesem Augenblick keiner sagen kann, ob sie mit der Geburt einer wirklich neuen, von fremder Ausbeutung und Beherrschung befreiten, Gesellschaft enden wird.

Wie schwierig der Weg auch war, Chile scheint in eine unumkehrbare geschichtliche Erfahrung verwickelt: selbst wenn es nicht ans Ziel gelangen sollte, kann man doch nicht sehen, wie es auf seinen Ausgängspunkt zurückkehren könnte.

Dieses Land ist nicht mehr weit davon entfernt, die Gefahrenzone zu betreten, in der das Volk dazu verdammt ist, alles zu gewinnen oder alles zu verlieren (jedenfalls für eine gewisse Zeit), in der es keine halbe Maßnahme, kein So-tun-als-ob vor der historischen Alternative: Revolution oder Gegenrevolution, retten kann.

Der wirkliche Einsatz: vor allem, ohne Frage, die Zukunft der chilenischen Nation und des chilenischen Volkes, die Emanzipation seiner Arbeiter, ihr Zugang zu menschenwürdigen Lebensformen. Daß das chilenische Volk zum Protagonisten seiner eigenen Geschichte wird das ist das Ziel und das ist außerdem die Bedingung, um ans Ziel zu kommen: ein offenbarer circulus vitiosus, von dem alles abhängt.

Das chilenische Volk muß hier und heute beginnen, seine Zukunft in die eigene Hand zu nehmen, wenn es nicht will, daß seine Feinde es morgen, durch brutale Gewalt, um sie bringen, oder sie ihm wie üblich ablisten — zum Beispiel in ein paar Jahren durch den Taschenspielertrick einer Wahl. Der Tag der Entscheidung schien in weiter Ferne zu liegen — die Volksregierung ist gewählt für sechs Jahre — in Wahrheit aber beweist alles, daß die Zeit drängt.

Aber der Einsatz, das ist in diesem Augenblick auch die Zukunft der benachbarten Länder — und zwar durch dialektische Bande, die, ob man das nun will oder nicht, die lateinamerikanischen Länder objektiv aneinander binden; eine weitere Stufe im fortschrittlichen Umsturz der kontinentalen Kräfteverhältnisse wäre erklommen und eben damit ein weiterer Schritt zur Beerdigung des Imperialismus durch alle Völker der Welt getan; das hieße nach zwölf Jahren der Blockade Schach ansagen, durch die das Yankee-Imperium Cuba vom lateinamerikanischen Kontinent isolieren und es ersticken wollte; das wäre eine neue historische Erfahrung für die bedeutende Macht der Anregung, weil sie die Konstruktion des Sozialismus in einer Gesellschaft, die ihrer ganz besonderen Bedingungen wegen tatsächlich der politischen Unterentwicklung entgeht, auf die Probe stellte; das wäre — ein unbedeutender, aber nicht gleichgültiger Vorteil — ein Zufluchtsort für die ausgewiesenen oder verfolgten Revolutionäre.

Auch wenn den Chilenen das nicht klar ist: was in Chile passiert — oder nicht passieren wird —, interessiert im höchsten Grade ganz Lateinamerika. Ob der Ausgang dieses gefährlichen Spiels nun positiv oder negativ sein wird, er ist eine Etappe im internationalen Klassenkampf, ein Wendepunkt für die kontinentale bewaffnete Revolution. Vom Schicksal, das diese „Revolution ohne Gewehre“, wie man sie vorläufig — und nicht ohne Optimismus — genannt hat, nimmt, hängt das Schicksal vieler anderer Gewehre ab.

Dieser Ausgang hängt seinerseits zum großen Teil von der politischen Richtung ab, die die Volksbewegung sich gegeben hat. Er hängt von ihrer Vorstellungskraft und ihrem Realismus, von ihrer Klugheit und ihrer Kühnheit, von ihrem Patriotismus und ihrem Internationalismus ab, das heißt von der Art und Weise, wie sie das eine mit dem anderen verbinden wird, um es zu einer gerechten politischen Praxis zu verschmelzen. Diese Richtung läuft auf eine gemeinsame Front verschiedener Parteien hinaus. Dies ist in konzentrierter Form in einer erstaunlichen und äußerst wirksamen Mischung von Unbefangenheit und Entschlossenheit, taktischer Geschmeidigkeit und strategischer Bestimmtheit in der Person des Genossen Präsidenten, in der Person Salvador Allendes enthalten.

II. Legaler Klassenkampf

Die chilenische Doppeldeutigkeit ist im Augenblick unvermeidlich, vielleicht nur vorübergehend. Hier findet man konzentriert und in einer entscheidenden Konstellation augenfällig gemacht die wechselseitige Bedingtheit der Elemente des Widerspruchs wieder, auf den die lange Koexistenz der demokratisch-bürgerlichen Institutionen und der aufsteigenden Volksbewegung hinausläuft.

Der bürgerliche Staat ist in die Falle seiner eigenen Ideologie gegangen: Volkssouveränität — ausgedrückt durch die von allen Bürgern, die lesen und schreiben können, in den Wahlkabinen frei vollzogenen Wahlen —, Kult der Majästät des Gesetzes, Respekt vor der durch die reaktionärsten Militärs verfassungsmäßig aufrechterhaltenen Ordnung, persönliche Grundrechte, Gewaltenteilung —, das sind ebenso viele Waffen, die den Händen der herrschenden Klasse entglitten und sie wie ein Bumerang trafen.

Man kann ein bißchen mehr als nur individuelle Heuchelei zum Beispiel in der Tatsache sehen, daß die Häupter der Verschwörung gegen die Volksbewegung gleichzeitig die Verantwortlichen für die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, wenn nicht die direkten Verantwortlichen für die Untersuchung dieser Verschwörung waren — wie etwa jener General Valenzuela, Kommandant der Garnison von Santiago und beauftragt, das in Santiago am Tage nach dem Attentat auf den Oberkommandierenden des Heeres verkündete Ausgangsverbot zu kontrollieren, der tatsächlich, wie auch andere hohe Offiziere, direkt in die Verschwörung verstrickt war.

In diesem unglaublichen Kuddelmuddel, in dem der Räuber den Gendarmen spielte und wirklich Gendarm war, in dem der Terrorist für öffentliche Ruhe und Ordnung eintrat, und der Putschist für den Respekt vor der bürgerlichen Autorität, kann man die Reverenz sehen, die das Laster der Tugend, der Instinkt der bürgerlichen Klasse, der bürgerlichen Ideologie, der unbewußte Trieb einer von Panik ergriffenen Klasse den nach und nach in das „kollektiven Ich“ der Klasse aufgenommenen Selbstzensuren erwies.

Dieses Doppelspiel spielt ein in den Regeln — denen, die er selbst diktiert hatte — seines Spiels gefangener Spieler. Aber — und das ist die abweichende und vielleicht noch unverstandene Ausgleichsbestimmung — wenn die bürgerliche Demokratie in ihre eigene Grube stolpert, dann fällt sie nicht allein hinein, sie reißt ihren Gegner mit sich. Nicht einfach, weil sie den provisorischen Sieger erpressen, sich ihm gegenüber wie der Gläubiger vor seinem Schuldner benehmen kann, sondern viel subtiler durch einen Effekt ideologischer Durchdringung und Hemmung, der auf das Zentrum der Volksbewegung und seiner politisch Verantwortlichen einwirkt.

Was im Wege liegt, ist nicht mehr die bürgerliche Demokratie in Person, aus Fleisch und Blut, sondern etwas Schlimmeres: ihr Gespenst, ihre Zwangsvorstellung. Ganz ohne Zweifel haben die in Chile angewandten Methoden und der dort eingeschlagene Weg bis jetzt ihre taktische Wirksamkeit bewiesen — sie bestätigten das leninistische Prinzip von der Notwendigkeit, die den ausgebeuteten Massen von den bürgerlichen demokratischen Republiken zur Verfügung gestellten, beschränkten Instrumente voll und ganz zu nutzen.

Man müßte nur wissen, in welchem Maße die künftige Entwicklung des Klassenkampfes, die freie Entfaltung der Masseninitiative, die proletarische Offensive von Anfang an mit Hypotheken belegt, von der Geburt an kastriert sind. Was den Wahlsieg ermöglicht hat, ist auch das, was seine Verwandlung in den Sieg schlechthin bremst. Wird nicht, was den Zugang zur Regierung ermöglicht hat, das sein, was den Zugang zur Macht verhindert?

Das sind, verkürzt, einige der Fragen strategischer Natur, die sich schon jetzt zahlreichen Kämpfern und Führern der Bewegungen der Unidad Popular stellen. Auf seine realistische und umsichtige Weise stellt sie sich Präsident Allende auch, und diese Voraussicht ist ein gutes Zeichen. Wie auch immer, die bis jetzt errungenen Siege sind beträchtlich, die unmittelbaren Interessen der arbeitenden Massen konnten großenteils befriedigt und gesichert werden, die Aufgaben des Augenblicks sind anderer Natur, und es wäre sinnlos, den Wert des vollzogenen Vormarschs unter dem Vorwande zu bestreiten, daß noch niemand sagen kann, wo er enden wird. Aber in dem Sinne, in dem es so wenig eine gute Taktik ohne eine gute Strategie gibt wie revolutionäre Praxis ohne revolutionäre Theorie, kann man diese Frage für mobilisierend halten. Appelle an die Wachsamkeit, die nur die Chance haben, gehört zu werden — das weiß jeder —, wenn die, die sie formulieren, nicht ihrerseits vergessen, daß es ebensowenig eine gute revolutionäre Strategie ohne eine gute Taktik gibt wie eine Theorie ohne eine Praxis, die den wirklich existierenden Bedingungen entspricht.

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