MOZ, Nummer 41
Mai
1989
Argentinien nach dem heißen Sommer ...

Wer hat Angst vor Carlos Menem?

Mitte Mai wird ein neuer argentinischer Präsident gewählt. Die einzige Alternative heißt Peronismus, ein politisches Phänomen, das auch für die 90er Jahre attraktiv erscheint.

Schulterlanges Haar und dichtgewachsene Koteletten, Playboy-Allüren eines Hobby-Rallyefahrers und arabisch-islamischer Herkunft im „europäischsten Land Amerikas“: ab Mai wird sich das widerstrebende Publikum vermutlich an einen ebenso pittoresken wie widersprüchlichen neuen Schauspieler auf der diplomatischen Weltbühne gewöhnen müssen. Carlos Menem, Kandidat der Justizialistischen Partei (PJ), ist in der Tat klarer Favorit bei den argentinischen Präsidentschaftswahlen vom 14. Mai, die den Nachfolger des amtierenden Staatschefs Raúl Alfonsin für die Periode 1989-1995 bestimmen sollen.

Sein Name kann von links nach rechts wie auch von rechts nach links gelesen werden — von seinem politischen Programm kann man ähnliches behaupten. Das schwankende Staatsschiff könnte, meinen viele, einen „seriöseren“ und weniger „frivolen“ Steuermann brauchen als diesen populistisch-charismatischen Caudillo aus der rückständigen Provinz La Rioja, der einen Unternehmer zum Wirtschaftsminister und einen Gewerkschafter zum Arbeitsminister ernennen will. Aber das Wirtschaftsdebakel der Alfonsin-Regierung und seiner konservativ-neoliberalen „Radikalen Bürgerunion“ (UCR) kann heute nicht mehr geleugnet werden, auch wenn es großteils durch das katastrophale Erbe der letzten Diktatur und den unnachgiebigen Druck des internationalen Finanzsystems bedingt ist. Carlos Menem erscheint hier für viele als die einzige Alternative für etwas hoffnungsvollere 90er Jahre und als Ausweg aus dem nationalen Bankrott.

Menems Partei, die PJ, ist international als die peronistische Bewegung bekannt, als jenes unverständliche „enfant terrible“ der argentinischen Politik also, das seit bald einem halben Jahrhundert die natürliche Mehrheitspartei ist und trotz bedeutender rechter bis rechtsextremer Elemente in ihren Reihen das Wesentliche des linken Teils des politischen Spektrums monopeolisiert.

Der populäre Juan Domingo Perón, verfassungsmäßiger Präsident von 1946 bis 1955 und 1973-74, ist seit fast 15 Jahren tot, aber sein Geist lebt weiter. Konnte sich einst Perón sowohl auf Mussolini als auch auf Che Guevara berufen, so fällt es seinem Epigonen nicht schwer, jetzt die Sandinisten oder Fidel Castro zu loben und gleich darauf seine Freundschaft zu Alfredo Stroessner zu bekräftigen, der sicherlich weder als nationalistischer noch als fortschrittlicher oder demokratischer Zeitgenosse bezeichnet werden kann.

Peron und Evita, mehr als ein Mythos

„Mir nach!“

Trotz dieser oft beunruhigenden Widersprüche erscheint der Perón-Erbe Menem eine Mitte-Links-Alternative zum UCR-Kandidaten Eduardo Angeloz, der den rechten und technokratisch-neoliberalen Flügel seiner Mitte-Rechts-Partei vertritt. Menem gehört wohl, wie sein innerparteilicher Rivale Cafiero, den er im letzten Juli in internen Wahlen knapp schlagen konnte, zu den demokratischen „Erneuerern“ der Bewegung. Aber er vertritt mehr den konservativ orientierten Peronismus des Landesinneren, den oberflächlichen Populismus eines charismatischen Caudillos, und hat sich mit Unterstützung der rechten Elemente der Bewegung durchgesetzt. Seine Persönlichkeit besticht oder irritiert: die meisten Intellektuellen wie die Konservativen mißtrauen ihm wie dem Teufel, während die proletarischen und marginalisierten Massen entschieden seinem Aufruf „Mir nach!“ folgen. Irrationelle Regungen, gefährliche Illusionen, verantwortungslose Demagogie? Ja und nein, denn die Übernahme der Regierungsgeschäfte im bankrotten Argentinien wird nicht leicht sein, da das Land ebenso schwer mit den wie gegen die mächtigen peronistischen Gewerkschaften regiert werden kann. Der Magier aus La Rioja wird da vielleicht bald überfordert sein, auch wenn er einige kompetente Mitarbeiter hat. Ungefähr 40% der Argentinier zeigen sich zwei Wochen vor den Wahlen noch unentschlossen, aber man kann verstehen, wenn sie sich schließlich mehrheitlich für eine Kursänderung aussprechen, selbst wenn dem Establishment im Norden der „Khomeini aus der Pampa“ nicht ganz geheuer ist.

Wer hat Angst vor Carlos Menem? Und warum dieses einmütige Schulterklopfen für seinen farblosen Rivalen, der vielleicht kohärentere und „seriösere“ Rezepte anzubieten hat, die jedoch — in ihrer bisherigen, abgeschwächten Version — einen deutlichen Schiffbruch erlitten haben? Die Lobeshymnen der Europäer auf den bürgerlichen Gegenkandidaten Eduardo Angeloz klingen ebenso falsch wie ihre Bekenntnisse für die argentinische Demokratie. Aber schließlich hatten seinerzeit, um 1980, der Finanzpapst David Rockefeller und der feine Graf Lambsdorff den damaligen Minister Martinez de Hoz über den grünen Klee gelobt, obwohl auch der oberflächlichste Beobachter nicht mehr ignorieren konnte, daß es flott in Richtung Abgrund ging. Und das damals noch hoch angesehene Österreich scheute sich nicht, dem dortigen Terrorregime ein paar Dutzend Panzer zu schicken ...

Der Sommer 1988-89, der letzte vor den Wahlen, die zum ersten Mal seit 1928 eine verfassungsgerechte Ablöse zwischen zwei korrekt gewählten Präsidenten bringen soll, war in Buenos Aires nicht nur wegen der extremen Temperaturen — bis zu 40 Grad — besonders heiß. Die andauernde schwere Wirtschaftskrise wurde ebenso akut wie das seit 1930 latente Problem der Beziehungen zwischen Streitkräften und Zivilregime. Beide Krisen zusammen haben dann schließlich zur blutigen Wahnsinnsaktion einer ultralinken Gruppe geführt, die ihrerseits die doppelte Krise verschärft und das Damoklesschwert über der zerbrechlichen Demokratie bedrohlicher denn je erscheinen läßt ...

Wenn das Licht ausgeht

Anfang Dezember begann auch eine akute Energiekrise die ArgentinierInnen zu erregen. Bis zu sechs Stunden täglich wurde in den folgenden Wochen der Strom abwechselnd in den diversen Stadtvierteln der 12-Millionen-Metropole Buenos Aires abgeschaltet, daher gab es keine funktionierenden Ampeln, Aufzüge, Klimaanlagen usw. Wenig freundliche Worte hörte man in der Bevölkerung über die Regierung und die Verantwortlichen der Elektrizitätswirtschaft ...

Diese verteidigten sich mit Hinweisen auf die widrigen klimatischen Gegebenheiten des besonders heißen Sommers und auf die finanziellen Schwierigkeiten des seit Jahren vom Ausland brutal ausgepreßten Landes. Richtig, auch wenn eigene Fehler der kurzsichtigen und oft inkompetenten Hauptverantwortlichen schwer zu übersehen sind. Aber vor allem spiegelt die akute Krise die strukturellen Probleme des Landes wider, ebenso wie die Antworten darauf die Ratlosigkeit einer Regierung, die mit ihrem Latein am Ende ist, aufzeigt. So beschloß z.B., nachdem der Minister Terragno ohne Eile von seinem dringenden Urlaub auf den Bahamas zurückgekehrt war, die Regierung zwei zusätzliche arbeitsfreie Tage für das zahlreiche Beamtenheer. Ein Schildbürgerstreich? Nein, meinte nicht ohne Grund die linke und die peronistische Opposition, sondern eine Maßnahme, die kohärent mit der konservativ-neoliberalen Wirtschaftspolitik ist und die auf eine weitere Stagnation, ja auf den Rückgang der Produktion hinausläuft ...

„Zurück zur Kultur der Arbeit und der Produktion“

Die peronistische Plattform — soweit sie öffentlich ausformuliert ist — ruft grundlegend nach einer „produktiven Revolution“ mit sozialen und nationalistischen Inhalten. Heute, so der PJ-Vorsitzende Antonio Cafiero, handelt es sich darum, „aus dem Paradies der Finanzspekulation und der Kapitalflucht zurück zur Kultur der Arbeit und der Produktion“ zu finden. Der erdrückende Schuldendienst, der die dringendst notwendigen Investitionen blockiert und die Löhne drückt, müsse daher durch neue, mit den Gläubigerländern verhandelte Formen von Zahlungsaufschub und Moratorium erleichtert werden. „Die Erfüllung der vertragsmäßigen Verpflichtungen des argentinischen Staates (sei) mit der moralischen Pflicht des wirtschaftlichen und sozialen Wachstums in Einklang zu bringen.“

Die Konkretisierung des dafür nötigen Sozialpaktes zwischen Unternehmern und Arbeitern steht noch in den Sternen.

Wie heute — ohne Peron — mit einer drastisch geschrumpften Industrie in einem Weltmarkt ohne Perspektiven und nach 15 Jahren Dekadenz mit zerrütteter Wirtschaft und andauernder Hyperinflation ein solcher Sozialpakt funktionieren soll, läßt überdies einige Fragen offen. Aber neben kompetenten Leuten wäre dafür sicher eine ordentliche Portion Mystik nötig. Wie sonst soll die Bevölkerung neue Hoffnungen schöpfen im heute verarmten einstigen Einwandererparadies, aus dem seit 1976 viele Hunderttausende emigrierten und in welches nur wenige zurückgekehrt sind, wo sich die Selbstmordrate den mitteleuropäischen Werten nähert und in dem es viel mehr Psychiater pro Einwohner gibt als in den USA.

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