FORVM, No. 106
Oktober
1962

Was wählt der Wähler?

Parlamentarische Demokratie und empirische Soziologie

Die politischen Denker von Rousseau bis Renner; die Lehrer vom Fachlehrer für Staatsbürgerkunde bis zum ordentlichen öffentlichen Professor für öffentliches und Völkerrecht; die Politiker vom Gemeinderat bis zum Minister — sie stellten und stellen uns den Vorgang der demokratischen Willensentscheidung in einer übersimplifizierten Form dar. Nach ihnen formulieren die Parteien Wahlprogramme und legen sie bei Gemeinderats-, Landtags- und Nationalratswahlen dem Wähler zur Entscheidung vor; der Wähler entscheidet sich in der Wahlzelle oder vielleicht schon vorher für eine der Alternativen; eine Mehrheit kommt zustande und die Partei, die sie erhalten hat, soll unter Berücksichtigung der Rechte der Minderheit ihr Programm in die Wirklichkeit umsetzen.

Auch in der Tagespolitik liest man es nicht anders. Die Politiker und die Parteien lassen mit drohendem Unterton einander wissen, daß man gegebenenfalls den Wähler über das ERP-Gesetz, die x-te Novelle zum ASVG und das Forstrechtbereinigungsgesetz entscheiden lassen werde. Der Wähler wird dann schon dem, der recht hat, recht geben. Die Gesamtheit der Stimmbürger stellt sich in dieser Theorie wie eine riesige Mitgliederversammlung eines Vereines dar, die ein Problem gründlich durchdiskutiert und schließlich in einer Abstimmung mit Mehrheit eine Entscheidung fällt.

Erst in den letzten Jahren, und auch da nur sehr oberflächlich und sporadisch, hat die Soziologie das Problem der politischen Willens- und Meinungsbildung zu behandeln begonnen. Schon die ersten Ergebnisse der Untersuchungen zeigen, daß unser demokratisches Bauwerk durchaus solid dasteht. Aber manches Bauelement, das man für eine Feuermauer gehalten hat, ist nur eine spanische Wand; hinter manchem Verputz hingegen stehen, bisher unbemerkt, tragende Säulen.

Das Gleichnis von der Mitgliederversammlung muß im Licht jener soziologischen Erkenntnisse gewaltig korrigiert werden. Zwar wurde diskutiert, aber die meisten haben nicht zugehört, sie haben an ihre Familie gedacht, an ihre Freundin, an den Urlaub, an den kommenden Ausverkauf, bloß hie und da haben sie etwas mitbekommen. Nur eine winzig kleine Schicht unserer Stimmbürger interessiert sich in Wirklichkeit für politische Fragen, die meisten für ganz andere Probleme.

Österreichische Forschungsarbeit

Der Soziologe DDr. Rupert Gmoser hat gemeinsam mit einigen Mitarbeitern den schon längst fälligen Versuch unternommen, mit Methoden der empirischen Soziologie, das soziale Verhalten und die politische Meinungsbildung der österreichischen Bevölkerung darzustellen. Wie auf vielen Gebieten unseres geistigen Lebens hat auch hier private Forschungsarbeit jene Lücken zu füllen versucht, die der zu einer öden Prüfungsfabrik degenerierte Hochschulbetrieb offen gelassen hat.

Die Untersuchungen erbrachten als Ergebnis, daß nur 20% unserer Stimmbürger sich für Politik interessieren, daß nur mehr als die Hälfte eine Tageszeitung lesen. Nur 40% der von Gmoser und seinen Mitarbeitern untersuchten Versuchspersonen wußten im Vorjahr anzugeben, wie oft Österreich die Südtirol-Frage vor die UNO gebracht hat. 38% der Versuchspersonen konnten keinen einzigen politischen Korruptionsfall der jüngsten Vergangenheit anführen, und das trotz Haselgruber. Bei sehr intensiv diskutierten politischen Streitfragen — z.B. „Rentenautomatik“ wagten 40% die Behauptung, daß sie schon einmal davon gehört haben. Dabei dürften in dem befragten Bevölkerungsteil die aufgeschlosseneren Typen stärker vertreten sein als in der Gesamtheit der Wähler, da bei jeder Meinungsumfrage die besonders uninformierten, ängstlichen, schüchternen und primitiven Versuchspersonen ein Interview verweigern.

Aber auch andere Fakten, ohne deren Kenntnis man wichtige politische Fragen nicht sinnvoll diskutieren kann, sind unseren Stimmbürgern unbekannt. Nur die Hälfte der Versuchspersonen Gmosers hatte eine ganz grobe Vorstellung von der Zahl der Rentner in Österreich, d.h. sie wußte, daß wir „zwischen 500.000 und 2 Millionen“ Rentner und Pensionisten haben. Befragt, ob sie glauben, daß 1960 die Preise stärker gestiegen seien als die Löhne, antworteten 81% mit Ja. Man könnte einwenden, daß diese 81% eben nur einer weitverbreiteten Meinung Ausdruck verliehen hätten — aber das ist es ja: viel Meinungen, wenig Sachkenntnis.

Die Ergebnisse der Meinungsforschung zwingen, die folgenden Tatsachen anzuerkennen:

  • Die Mehrheit der Stimmbürger interessiert sich nur am Rand für öffentliche Dinge.
  • Die Mehrheit der Stimmbürger ist uninformiert.
  • Die Mehrheit vergißt sofort Details der politischen Diskussion und der politischen Entscheidungen.
  • Die Faktenkenntnisse sind dürftig.
  • Die Vorurteile fast unausrottbar.

Dazu kommt, daß der durchschnittliche Stimmbürger kein besonders ausgeprägtes Informationsbedürfnis hat. Wenn er sich überhaupt informieren läßt, dann durch Zeitungen, die ihm ideologisch nahestehen, durch Organisationen, denen er freundlich gesinnt ist. Wir wissen aus Untersuchungen, daß Gewerkschaftsmitglieder, und zwar auch jene, die keine besonderen Bindungen zur Organisation haben, auf Informationen durch die Industriellenvereinigung nicht den geringsten Wert legen; der Umkehrschluß ist wohl zulässig, daß die Bauern, wenn sie die Propaganda des ÖGB bei einem Ohr überhaupt hineingehen lassen, sie dann beim anderen Ohr gleich wieder hinausgehen lassen.

Dr. Hirsch-Weber hat in seiner überaus gründlichen Studie „Wähler und Gewählte“ mit jeder nur wünschenswerten Deutlichkeit nachgewiesen, daß der Wähler sicherlich nicht nach tagespolitischen Gesichtspunkten und kaum nach Personen seine Wahlentscheidung trifft, sondern in Wirklichkeit das Bild einer Partei wählt. Nun ist größte Vorsicht angebracht, wenn man soziologische Erkenntnisse von einem Land auf ein anderes übertragen will. Als Gmoser seine Untersuchungen mit denen konfrontierte, die Marc Abrams in Großbritannien angestellt hatte, zeigte sich, daß der österreichische Wähler mit dem englischen durchaus nicht gleichgesetzt werden kann. Der englische Wähler z.B. schätzt den Politiker, der schwere Entscheidungen fällen kann; der Österreicher den Fachmann, der viel weiß.

Politiker, die dem österreichischen Stimmbürger bestimmte Streitfragen zur Entscheidung vorlegen, gleichen dem Prinzen im „Diamant des Geisterkönigs“, der auf seine bangen Fragen immer nur die Antwort erhält: „Ich bin dein Vater Zephises und sage Dir nichts als dieses.“

Wahrscheinlich werden die Parteien dem Wähler bald die Frage vorlegen, ob er für diese oder jene Währungspolitik sei, für diese oder jene Ausgabenpolitik des Staates, und was wird der Wähler antworten? Er wird sagen: „Die SPÖ ist halt doch die einzige Partei, die etwas für den Arbeiter tut“, und wird SPÖ wählen. Oder er wird sagen: „Für einen Katholiken kommt ja doch nur die ÖVP in Frage“, und wird ÖVP wählen. Oder er wird sagen: „Was die 1945 meinen Eltern angetan haben, das bleibt unvergessen“, und wird FPÖ wählen. Oder es werden alle seine Minderwertigkeitsgefühle, alle seine Ressentiments, der graue Alltag, der Widerwille gegen seine alte, häßliche und keifende Frau hochkommen, und er wird KPÖ wählen.

Denn so — und noch vielschichtiger, vielfältiger, von Jugenderlebnissen belastet, von fehlgeschlagenen Hoffnungen, Zukunftsträumen, natürlich auch realen und materiellen Erwartungen gesteuert — fallen Wahlentscheidungen. Der Wähler wählt nicht sachlich, er wählt ein Parteibild (Image).

Der Mythos vom Flugsand

Nun gibt es freilich eine Eselsbrücke für die Rationalisierung der im Licht der soziologischen Analyse anscheinend sinnlosen demokratischen Wahlentscheidungen. Es könnte so argumentiert werden: Wenn auch die Mehrheit der Stimmbürger am politischen Tagesgeschehen wenig interessiert und weitgehend uninformiert ist sowie bei der Wahlentscheidung nicht sachlich vorgeht, so gibt es doch offenbar eine Schicht fluktuierender Wähler, die, ohne festen politischen Standort, einmal der einen Partei, dann der andern ihre Stimme gibt und so das Zünglein an der Waage darstellt. Diese Schicht fällt stellvertretend für die andern die politischen Entscheidungen. Demzufolge wäre es recht und vernünftig, den kleinen Ausschlägen des Wahl-Barometers die entsprechende Bedeutung beizumessen, denn darin zeigt sich die Auffassung der fluktuierenden Schicht, die aus politischen Menschen besteht. Diese treffen sachliche Wahlentscheidungen, was die andern, engagierten Wähler nicht tun.

Freilich müßte erst der Beweis geliefert werden, daß die fluktuierenden Wähler tatsächlich politische Menschen sind, die bewußt und überlegt ihre Stimme einmal hier und einmal da in die Waagschale werfen.

Die Untersuchungen Gmosers und seiner Mitarbeiter haben einigermaßen verläßlich nachgewiesen, daß die schwankenden Wähler bei weitem nicht derart verständige, überlegende und abwägende politische Menschen sind.

Sowohl die Untersuchungen des Divo-Instituts, über die Hirsch-Weber berichtete, wie auch die Untersuchungen Gmosers zeigen, daß in Deutschland wie in Österreich ungefähr 75% der Wähler als engagiert angesehen werden können — als Wähler, die eine feste Bindung zu einer Partei haben, die schon lange vor der Wahl sich entschieden haben, welcher Partei sie die Stimme geben werden, und die folglich vom Wahlkampf nur wenig berührt werden.

Die restlichen 25% (die Größenangabe ist nicht sehr exakt, aber sie kann immerhin als Orientierung dienen) teilen sich in zwei Gruppen: erstens Wähler, die, ohne besonders innige Bindung an eine Partei, doch immer wieder die gleiche Partei wählen; und zweitens etwa 10-12% Wähler, die vor Beginn des Wahlkampfes noch nicht recht wissen, wie sie sich entscheiden werden.

Diese Wählerschicht besteht aber zur einen Hälfte aus Querulanten, Wirrköpfen, politisch völlig Desinteressierten und Uninformierten; zur andern Hälfte aus Menschen, die politisch immer wieder enttäuscht wurden, die in ihren Berufen nicht zurechtgekommen sind, die ein unbefriedigendes Familienleben führen — kurz: Typen, die mit dem demokratischen Idealmenschen wenig Züge gemeinsam haben.

Sicherlich ist es noch zu früh, aus zugegebenermaßen vorläufigen und ungereiften Ergebnissen der empirischen Soziologie politische Konsequenzen von größerer Tragweite zu ziehen. Aber die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen rechtfertigen eigentlich unser System der großen Koalition aufs beste. Wenn die politisch interessierten, verläßlichen und denkenden Wähler tatsächlich ganz überwiegend im Lager der „Engagierten“ stehen, wenn die fluktuierenden Schichten eher aus desinformierten, unpolitischen Menschen gebildet werden, dann ist es offenbar gerechtfertigt, nicht nur auf parlamentarischer, sondern auch auf Regierungsebene den Interessenausgleich zwischen den tragenden politischen Schichten zu suchen und ihnen ein gleiches Mitbestimmungrecht im Staat zu geben. Es wäre dann unvernünftig, sich davon bestimmen zu lassen, daß der „politische Flugsand“, durch irgendwelche, jedenfalls irrationale Kräfte bewegt, einmal da, einmal dort Dünen bildet.

Diese Überlegung scheint besonders dann Gewicht zu haben, wenn die großen Parteien weltanschaulich nicht mehr oder weniger gleichgerichtet und womöglich auch soziologisch kaum unterschiedlich zusammengesetzt sind, wie in den USA, sondern wenn — wie in Österreich — die großen Parteien zwei weltanschauliche Lager darstellen, gesellschaftlich verschieden strukturiert sind und recht verschiedene Vorstellungen von der Gestaltung der öffentlichen Dinge haben. Soziologische Untersuchungen führen also zu den gleichen Schlüssen wie ein verständnisvolles Durchdenken der Lehren aus der Geschichte der Ersten Republik. Die Mehrheit unserer Mitbürger empfindet es eben als unerträglich, daß das eigene politische Lager von einem anderen, soziologisch und ideologisch höchst unterschiedlichen beherrscht werden soll, — daß dem eigenen Lager durch die Regierungsgewalt des andern dessen Art zu leben und zu denken aufgezwungen werden soll.

Der originelle Beitrag, den die empirische Soziologie leistet, ist folglich die Erkenntnis, daß sich diese Herrschaftsansprüche derzeit nur auf irrationale Entscheidungen unpolitischer Menschen berufen können.

Wir wissen noch viel zu wenig über die Art, wie die Bilder der Parteien zustande kommen, unter welchen Bedingungen sie sich verändern und in welchem Tempo sie sich verändern. Aber manche Ergebnisse der empirischen Soziologie gestatten die Annahme, daß das Bild der Parteien sich nicht viel rascher verändert, als sich die Klassen verändern, deren Repräsentanten die Parteien sind. Vielleicht könnte man präziser sagen: das Parteienbild verändert sich im Tempo der Veränderung des Selbstverständnisses dieser Klassen. Wir verfügen gegenwärtig noch nicht über genügend Beweise, um die zweite mögliche Annahme zurückzuweisen, daß sich nämlich das Bild der Partei langsamer verändert als der wirkliche Charakter der Partei.

Nun ändert sich in unserer raschlebigen Zivilisation der Charakter der Klassen verhältnismäßig rasch. Schon rein äußerliche Erscheinungsformen — die „motorisierte Arbeiterklasse“ z.B. — dürfen in ihrer Bedeutung für das Selbstverständnis und das Bild einer Klasse und damit einer Partei nicht unterschätzt werden.

Ist eine Partei nicht imstande, ihr Bild den sich verändernden Gegebenheiten anzupassen, und somit in den Augen der Wähler so attraktiv zu bleiben wie bisher, oder günstigenfalls attraktiver als bisher, dann wird sie langsam, aber sicher an Boden verlieren: nicht, weil sie einmal einen politischen Fehler gemacht hat; nicht, weil sie einmal einen unmöglichen Kandidaten aufgestellt hat; nicht weil ihr einmal ein Korruptionsfall angehängt werden konnte sondern weil ihr Bild unattraktiv wurde.

Bildlose Parteien

Das Bild der Partei ist keine Zeichnung, sondern eine Gravierung, wo jeder einzelne Strich dutzende Male nachgezogen werden muß, damit er sichtbar wird. Macht eine Partei den Fehler, der soziologischen Entwicklung nicht Rechnung zu tragen (was offensichtlich der KPÖ passiert ist), sondern ihr Stereotyp unbeschadet aller Veränderungen aufrecht zu erhalten, dann wird ihr Bild, das ja auch von den anderen mitgezeichnet wird, im Lauf der Jahre obsolet und damit für immer breitere Schichten unattraktiv. Diese bröckeln ab, finden anderswo ihre politische Heimat und sind nur sehr schwer wiederzugewinnen.

Ebenso ergeht es einer Partei, die nicht in der Lage ist, überhaupt ein „Image“ zu bilden. Dies dürfte bei der FPÖ der Fall sein, die einmal die Partei der Ehemaligen war und es nicht sein wollte, denn die meisten Ehemaligen wollten keine Ehemaligen sein. Und nur „Partei der Unzufriedenen“ zu sein, ist genau das „Image“, das keine größeren Wählerschichten anziehen kann.

Wenn daher eine Partei andauernd oder in bestimmten Gebieten oder bestimmten Schichten an Boden verliert, bedeutet das, daß ihr Charakter, ihr Bild, den politischen Realitäten nicht mehr entspricht. Gelingt der Partei die Anpassung an die veränderten soziologischen Gegebenheiten nicht, dann kommt für sie der Tag, an dem der Verlust an Wählerstimmen zum Verlust des politischen Einflusses führt. Dies ist meines Erachtens ein besonders wertvolles Element des parlamentarisch-demokratischen Systems. Die Parteien werden in ihm durch den Verlust an Wählerstimmen und den Verlust an Macht für ihr Versagen bestraft, ihre Aktionen, ihre Propaganda, ihre Selbstdarstellung an geänderte gesellschaftliche Verhältnisse anzupassen. Und nur solche strukturellen, nicht aber die akzidentiellen Veränderungen der Stimmenverteilung sollen zu Veränderungen in der Verteilung der politischen Macht führen.

Für die politischen Parteien sind die Wahlen ein unentbehrlicher Orientierungsbehelf zur Gestaltung ihrer Politik, ihrer Propaganda, ihrer Organisation. Die Wahlen zeigen den Parteien, ob ihre Basis feststeht, ob sie sich verbreitert, ob sie dahinschwindet. Sie sind unübersehbare Warnzeichen, bevor das unerbittliche Ausleseprinzip zu wirken beginnt. Daß die Forschungsmethoden der empirischen Soziologie bei der Durchleuchtung dieses politischen Prozesses in Zukunft eine Rolle spielen werden, ist kaum zweifelhaft.

Natürlich ist dieser Hinweis nicht so zu verstehen, daß die Parteien mit Hilfe der Meinungsforschung Wünsche, Bitten und Beschwerden möglichst breiter Wählerschichten sammeln sollen, um dann all diese — unerfüllbaren, divergierenden und oft abstrusen — Begehren zu ihrem Programm zu machen. Gerade unsere Weltanschauungsparteien werden nicht als reine Interessenvertretungen gesehen, sondern als Bewegungen, die eine bestimmte Gesellschaftsordnung verwirklichen wollen, von denen der Wähler mehr oder weniger klare Vorstellungen hat. In einem parlamentarisch-demokratischen System sind nun die Parteien gezwungen, den Wähler zuerst zu überzeugen, ihre Ziele zuerst darzustellen. In unserem System müssen daher die Parteien — durch ihre Propaganda — vorweg ihr Bild umgestalten, so daß keine Differenz gegenüber ihrer Realität entsteht, und erst dann können sie zu Aktionen übergehen. Sie müssen vorweg überzeugen und können dann erst handeln. Das bewahrt sie davor, so schreckliche politische Fehler zu machen, wie es z.B. die Kolchosisierung in der Sowjetunion war; das bewahrt den Wähler davor, wegen eines solchen Fehlers halb oder ganz zu verhungern, wie es der sowjetischen Bevölkerung in den Dreißigerjahren passierte.

Die Rücksichtnahme auf die Wähler zwingt die Parteien zur Erfüllung ihrer Aufgabe der politischen Erziehung, einer angesichts des geringen Lerneifers der Wähler ungeheuer mühsamen und langwierigen Aufgabe. Das retardierende Element, das dadurch unserem System innewohnt, ist ein Mißvergnügen für die Radikalen, aber ein Glück für die Gesellschaft und vor allem für die Individuen, die dadurch bewahrt werden, von politischen Willensmenschen in ihrem „wohlverstandenen Interesse“ vergewaltigt zu werden.

Vielleicht mag es aber allen jenen, denen die Entwicklung unserer demokratischen Gesellschaftsordnung zu langsam fortschreitet und die gern eine raschere Reaktion der Wählermassen auf die Führungsversuche der Parteien sehen würden, ein Trost sein, daß die Soziologie daran ist, Methoden zu entwickeln, die solchen Zielen dienstbar sind. Vor allem kann sie den Politikern bessere Auskunft über die Bewußtseinsentwicklung der Massen geben als die verhältnismäßig seltenen und nicht immer klaren Stichproben mittels demokratischer Wahlen.

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