Grundrisse, Nummer 47
Mai
2013

Was tun mit Demokratie – in Praxis und Theorie?

Einen Text über Demokratie zu schreiben ist ebenso problematisch wie über Gerechtigkeit (siehe Blume/Sinakusch 2013). Unweigerlich handelt mensch sich einen Rattenschwanz an Assoziationen, „Nebenthematiken“ und Begriffen ein, die untrennbar mit Demokratie verknüpft sind. Ein paar Beispiele: Repräsentation, Parlamentarismus, (Menschen)Rechte, Parteien, Wahlen, Diktatur – als (vermeintlicher) Gegenpol, Politik, das Politische, Souveränität, Volk, Mitbestimmung, Verfassung, Republik, Staat, StaatsbürgerInnenschaft, Geschlechtergerechtigkeit, Gewaltenteilung, um nur einige der wichtigsten zu nennen … Ein anderer erschwerender Aspekt ist die immense Vielfalt gesellschaftlicher Vorstellungen, die mir dem Begriff der Demokratie verbunden sind.

Denn was ist so unterschiedlichen politischen Subjekten wie beispielsweise (Rest)LeninstInnen, ATTAC!, Liberalen und der rechtsextremen FPÖ gemein? Richtig: das Bekenntnis zur Demokratie. Und mehr noch, sie alle fordern mehr davon und geizen nicht mit Realisierungsratschlägen. Aber auch an den Orten linker Theoriebildung, ja sogar auf den occupierten Plätzen der neueren und neuesten sozialen Bewegungen ist das Zauberwort in aller Munde: Zwar wird es dort oft und gerne ergänzt von Zusätzen wie „kommender“, „realer“ oder „direkter“, ein Vorwurf jedoch wird mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nur der jeweiligen politischen Gegnerin gemacht: undemokratisch zu sein. Und selbst kommunistische Militante wie Michael Hardt und Toni Negri lassen uns – zumindest in der deutschen Übersetzung – bereits im Titel ihres neuesten Wurfs wissen „Wofür wir kämpfen“ (so der Untertitel): Demokratie, mit Rufzeichen! (Hardt/Negri 2013)

Dabei sollte doch allein die etymologische Zusammensetzung dieses Begriffs linke Ohren bereits zum Revoltieren bringen: Herrschaft des Volkes. Sind da nicht bereits die drei Grundübel einer Welt voll Unterdrückung und Leid versammelt, namentlich Patriarchat, Unterdrückung und Vereinheitlichung? Sind es nicht gerade jene Aspekte gesellschaftlicher Ordnung, denen die mehr oder weniger radikale Linke erbitterten Widerstand entgegensetzen sollte? Ist das zu überwindende Problem nicht genau die Beherrschung eines (Groß)Teils der Menschen durch einen anderen (kleineren), gepaart mit der Vereinheitlichung der unterschiedlichen Individuen zu einem „Volksganzen“, dessen wesentliche Bestimmung es wiederum ist, eben jene Beherrschung zu leugnen?

Aber auch historisch lassen sich eine Menge Einwände gegen die diversen Formen der real existierenden Demokratien ins Treffen führen. Von der griechischen Polis über die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung bis hin zur sozialdemokratisch-wohlfahrtsstaatlichen Variante: stets bezogen demokratische Gemeinwesen ihre Identität über den Ausschluss des bzw. der Anderen. Dieser Ausschluss – der Frauen, der Sklaven, der Behinderten, der Nicht-Staatsbürgerinnen – ist keine zufällige Begleiterscheinung demokratischer Ordnungen, sondern ganz im Gegenteil ihr konstitutives Element, wie am Beispiel der Entstehungsgeschichte der Demokratie in den USA Heide Gerstenberger akribisch nachzeichnet. (Gerstenberger 1973) Dies sollte im Hinterkopf behalten werden, wenn von zeitgenössischen Varianten real existierender Demokratie – also im Wesentlichen liberal-demokratischer Repräsentation die Rede ist, zum Beispiel im Rahmen einer Kritik neoliberaler Entdemokratisierung (oder sogar Postdemokratie).

Mythen der Entdemokratisierung

Unter KritikerInnen des Neoliberalismus weit verbreitet ist die Rede von der Entdemokratisierung der Gesellschaft im Rahmen der neoliberalen Globalisierung. Dabei wird jedoch gerne vergessen, dass auch die Regimes der fordistischen Wohlfahrtsstaaten nicht gerade vor Demokratie strotzten. Zwar wurden im Nachkriegseuropa die sozialen Sicherungssysteme ausgebaut und ein breiter Teil der – männlichen – Arbeiterklasse mehr oder weniger in das System integriert, dies wurde jedoch selbst wiederum mit der teuren Hypothek der Sozialpartnerschaft bezahlt; einer nicht demokratisch legitimierten Schattenregierung, die hierzulande über Jahrzehnte das politische Geschehen bestimmte und darüber hinaus im Rahmen ihres institutionalisierten Klassenkompromisses das Proletariat nahezu vollständig von Streiks und anderen widerständigen Handlungen in eigener Sache entwöhnte. Gar nicht zu reden von der kaum vorhandenen Auseinandersetzung mit dem Erbe des NS-Regimes, der Zwangspsychiatrierung psychisch Kranker, dem verbrecherischen Regime in Kinder- und Jugendheimen u.v.a.m. Bei genauerer Betrachtung lässt sich schlussfolgern, dass es mit der Entdemokratisierung unserer Gesellschaft nicht so weit her ist. Vielmehr war auch in fordistischen Zeiten die Demokratie eine „marktkompatible“ (Angelika Merkel), nur war der Markt damals stärker durch die Rolle des Staates darin geprägt. Daraus jedoch ein Mehr an Demokratie abzuleiten erscheint mir zumindest fragwürdig.

Dies gilt auch für die Klage über den „schwachen Staat“ heute, der angeblich nicht mehr in der Lage ist, die ach so freien Kräfte des Marktes in seine Schranken zu weisen. Angesichts der gegenwärtigen Austeritätsregimes vor allem in den südeuropäischen Staaten zeigt sich vielmehr das autoritäre Potenzial staatlicher Krisenregulierung – wenn es um die Rettung von Banken und die Unterwerfung ganzer Bevölkerungen unter brutale Kürzungsmaßnahmen geht. Eine Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist vom Staat also nicht zu erwarten. Die Kunst für eine erneuerte Strategie sozialer Bewegungen besteht vielmehr darin, dem vermeintlichen Gegensatzpaar Staat – Markt nicht auf den Leim zu gehen, sondern aus den Bewegungen zur Verteidigung von Commons und gegen Austeritätspolitik Strategien zu einer partizipativen Neuordnung der sozialen Ordnung zu entwickeln. Die gegenwärtige postfordistische Transformation des Kapitalismus verunmöglicht jedenfalls ein Zurück zur parlamentarischen Repräsentation als gesellschaftliches wirksames Steuerungsmedium – zumal aus emanzipatorischer Perspektive.

Die halbierte fordistische Demokratie als Maßstab einer linken Kritik des Neoliberalismus vergisst all jene (kollektiven) Subjekte, die in der fürsorglichen Politik der europäischen Wohlfahrtsstaaten eben nicht „mitgemeint“ waren, d.h. tendenziell all jene, die nicht Mitglied der jeweiligen mehrheitsgesellschaftlichen und männlichen Arbeiterklasse waren: Frauen, Opfer des Nationalsozialismus, MigrantInnen, Behinderte, Heimkinder, Homosexuelle, Roma und Sinti, Arbeitslose – und andere „Minderheiten“. Ob es um die Möglichkeit der Inanspruchnahme grundlegender sozialer Leistungen oder auch um die Abwesenheit staatlichen (Fürsorge)Zwangs geht, sie konnten nur – wenn überhaupt – durch kollektive Kämpfe durchgesetzt werden. Die verstaatlichte ArbeiterInnenbewegung kümmerte all das recht wenig, auch wenn Kreisky von der „Durchflutung aller Lebensbereiche mit Demokratie“ sprach: erst die mehr oder weniger neuen sozialen Bewegungen konnten Verbesserungen für diese Bevölkerungsgruppen, darüber hinaus aber oft auch für die gesamte ArbeiterInnenklasse erreichen. Dies wird in der linksliberalen Kritik des Neoliberalismus nur allzu leicht vergessen und führt dann oft in die Verklärung des Sozialstaats. Wird der Fokus der Kritik dagegen auf die staatliche Regulierung dieser Wohlfahrtsregimes gelegt sowie auf die konstitutive Rolle des Staates in der fordistischen Produktionsweise, stellt sich ein weit nüchterneres Bild dar. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die neoliberale Konterrevolution dem Gegenstand adäquat analysieren, nämlich als Reaktion auf die oben genannten sozialen Bewegungen von 1968 und danach. Der Kapitalismus konnte die legitimen Forderungen dieser Bewegungen nach Selbstbestimmung, Nichteinmischung des Staates und des Kampfes gegen entfremdete Arbeit aufnehmen und schließlich gegen die Menschen selbst wenden: Im Namen von Ich-AG, Flexibilisierung von Arbeitsverhältnissen oder der Vermarktwirtschaftlichung sozialer Dienstleistungen nahm die Rekuperation (Wiedergewinnung) der Bewegungsforderungen im Neoliberalismus schließlich wiederum autoritäre Gestalt an; und diese autoritäre Gestalt ist zuvörderst nach wie vor der Staat. Weit entfernt vom oftmals beklagten „Rückzug des Staates“ erleben wir – in gegenwärtigen Krisenzeiten mehr denn je – eine Rückkehr des starken Staates. Angesichts der elementaren Krise der repräsentativen Demokratie, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, zeigt sich das wahre Gesicht des kapitalistischen Gemeinwesens wenig überraschend als autoritäres. Nur WohlfahrtsstaatsromantikerInnen kann das Geschwätz Merkels von der „marktkompatiblen Demokratie“ erstaunen: Wann war sie denn dies jemals nicht? Bloß war der Markt noch ein anderer, staatlich unmittelbar regulierter. Aber wirklich demokratischer?

Gegenwärtige parlamentarische Demokratien steuern gesellschaftliche Vorgänge mittels zweier Medien: Gesetze und Geld, letztere vor allem im Rahmen staatlicher Steuerhoheit. Allein schon dadurch wird der Staat zu einem ganz maßgeblichen ökonomischen Akteur – keine Spur von den höheren Weihen politischer Freiheit; es sei nur an die allgegenwärtige Argumentation mit sogenannten „Sachzwängen“ erinnert. Dabei sprechen wir hier noch gar nicht von der bedeutenden Rolle staatlicher Organe bei der Sicher- und Zur-Verfügung-Stellung von genügend Arbeitskraft, ihrer Ausbildung in staatlichen Bildungsinstitutionen, geschweige denn von unmittelbar ökonomischen Aktivitäten im Rahmen staatlichen Eigentums oder der Verflechtung von Außenpolitik und Außenhandel. Kein Staatsbesuch ohne Handelsdelegation, und selbstverständlich auch keine Bankenrettung ohne Demokratie.

Neuere Demokratietheorien sind zwar für gewöhnlich weniger staatsfixiert als neokeynesianische KommentatorInnen, eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Staat und Demokratie lassen aber auch sie oft vermissen, zugespitzt könnte eine Art „Staatsvergessenheit“ diagnostiziert werden. Ich möchte nun aber – bevor ich auf Alternativen in Theorie & Praxis zu sprechen komme – mein Hauptaugenmerk auf ein anderes problematisches Moment vieler dieser Demokratietheorien lenken: ihre „Sozialvergessenheit“.

Die Sozialvergessenheit der Demokratietheorie

Viele der gegenwärtig diskutierten politischen Theorien beziehen die Form der Demokratie auf die Sphäre des Politischen, welche als klar abgetrennt und unterschieden von jener der sozialen Reproduktion der Gesellschaft gesehen wird. Der in dieser Sphäre wirksamen Gleichheit wird dann „die Demokratie“ als Ganzes untergeschoben, Klassenunterschiede oder Geschlechterdifferenzen spielen keine Rolle mehr. In der demokratischen Öffentlichkeit stehen sich Gleiche gegenüber, im freien Austausch ihrer Meinung bildet sich der „Wille des Volkes“ heraus, so die Mär von der klassenblinden Demokratie. Die spezifisch kapitalistische Form bürgerlich-repräsentativer Demokratien wird als solche enthistorisiert und somit naturalisiert, die ihr innewohnende politische Gleichheit wird zum Maßstab und Fetisch „undemokratischer“ und „autoritärer“ Regimes. Keine Spur der Kritik findet mensch hinsichtlich der Wirkungen gesellschaftlicher Arbeitsteilung oder der politischen Macht der KapitalistInnen. Dass es genau jene spezifisch kapitalistische Form ist, die über die Reproduktion der gesellschaftlichen Arbeitsteilung genau die Spaltungen der Bevölkerung hervorbringt bzw. ihre Überwindung hemmt, wird in den meisten demokratietheoretischen Ansätzen mehr oder weniger bewusst ausgeklammert. Wenn beispielsweise Oliver Marchart polemisiert, dass „[a]us politischer Perspektive […] der sozialistisch-kommunistische Egalitarismus, der den Einschluss der sozial und ökonomisch ausgebeuteten Massen fordert, ein Kind der ach so bürgerlichen Revolution und vollständig im demokratischen Imaginären verankert [ist]“ (Marchart 2005, 162), so ist dabei mehrerlei bemerkenswert: Erstens fordert der „sozialistisch-kommunistische Egalitarismus“ nicht „den Einschluss der sozial und ökonomisch ausgebeuteten Massen“, sondern schlicht das Ende der Ausbeutung und somit der „ausgebeuteten Massen“ an sich, und zweitens ist er genau deshalb gerade nicht „vollständig im demokratischen Imaginären verankert“, sondern weist über die (liberal-)demokratische Formbestimmung politischer Gleichheit hinaus. Wenn überhaupt, so ist Marcharts Interpretation als Kritik an der realen historischen Politik der hegemonialen Strömungen in der traditionellen ArbeiterInnenbewegung zu lesen, seine enthistorisierende Verallgemeinerung ist allerdings klar zurückzuweisen.

Der Ort der Macht ist – im unterschied zu Monarchie und Aristokratie – in demokratisch verfassten Gesellschaften eben gerade nicht leer, wie uns der Demokratietheoretiker Claude Lefort (Lefort 1990) weismachen möchte. Sein ehemaliger Mitstreiter Cornelius Castoriadis nimmt diesen berühmten Lefortschen Topos in seinem inspirierenden Essay „Welche Demokratie“ auf Korn: „Oh Verzeihung, dass wir in unserer Dummheit geglaubt haben, die Entscheidung, Leute loszuschicken, um sich abschlachten zu lassen, sie arbeitslos zu machen oder in Ghettos zu sperren, müssten von einem gut besetzten „Ort der Macht“ herrühren.“ (Castoriadis 2006, S. 83) In der liberal-kapitalistischen Ausprägung von Demokratie wurde der abgeschlagene Kopf des Königs – dieser hinterlässt nach Lefort ebenjenen „leeren“ Ort der Macht – „lediglich“ durch ein versachlichtes Verhältnis ersetzt, welches wohl nicht zufällig die gleiche etymologische Wurzel hat: Capitalis (lat. „den Kopf betreffend“). Philip Manows empfehlenswertes Buch „Im Schatten des Königs“ (Manow 2008) zeigt darüber hinaus auch auf der Ebene demokratischer Repräsentation das Fortwirken prä-demokratischer Herrschaftsformen, sei es anhand der Sitzordnungen in Parlamenten oder in der Institution der parlamentarischen Immunität.

Der demokratietheoretische Diskurs gibt sich darüber hinaus eigenartig ahistorisch. Zwischen zum Teil weit auseinander liegenden Jahrhunderten wird hin- und hergesprungen, ohne sich sozialhistorisch mit den Bedingungen der jeweiligen demokratischen Experimente auseinanderzusetzen. Dem entspricht auch die eigenartig altbackene Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Krise der Demokratie. Trotz der radikalen Transformation, die das kapitalistische Weltsystem in den letzten 30 Jahren durchmachte, trotz der tiefen Krise der letzten Jahre, werden von Wissenschaft wie Politik gerade in letzter Zeit wieder vermehrt Vorschläge aus der Mottenkiste staatlicher Regierungstechniken vorgelegt – und auch diskutiert. Wolfgang Streecks vielbeachteter Essay „Gekaufte Zeit“ (Streeck 2013) ist dahingehend ein Paradebeispiel. Mit explizitem Verweis auf marxistische Theorien präsentiert er eine vermeintlich linke, in Wahrheit jedoch rückwärtsgewandte und rundweg abzulehnende Variante demokratischer Krisenbearbeitung. Im Zentrum steht dabei einerseits die Wiedervernationalstaatlichung der Demokratie als Gegenbewegung zur neoliberalen Transnationalisierung des globalen Kapitalismus und andererseits ein völlig unreflektiertes Wiederaufwärmen des sozialdemokratischen Wachstumsfetischismus des 20. Jahrhunderts. Eine zukunftsfähige (radikale) Linke ist angehalten, gegenüber derlei rückwärtsgewandter Strategien eine klare Demarkationslinie zu ziehen. Eine nachhaltige emanzipatorische Transformation der Gesellschaft jedenfalls ist ohne wachstumskritische Fokussierung auf gesellschaftliche Naturverhältnisse nicht zu haben. Dass Streeck Fragen der geschlechtlichen Arbeitsteilung und des Sexismus oder gar rassistischer Komponenten des Kapitalismus wie zum Beispiel die Ausbeutung des globalen Südens erst gar nicht stellt, passt leider nur allzu gut ins autoritär-fordistische Bild …

Eine Debatte zwischen Axel Honneth und Nancy Fraser (Fraser / Honneth 2003) bestimmte in den letzten Jahren den Diskurs der politischen Theorie: Umverteilung oder Anerkennung? Obwohl in dieser Diskussion die soziale bzw. ökonomische Frage durchaus Teil der Debatte war, können auch an dieser Gegenüberstellung klare Beschränkungen herausgearbeitet werden. Während Honneth in Rückgriff auf die Philosophie Hegels die Position der Anerkennung von Differenzen als Königsweg zur Demokratisierung beschreibt, bezieht Nancy Fraser die „sozialistische“ Position. Sie weist zwar völlig zu Recht auf die ökonomische Determiniertheit kapitalistischer Demokratien hin, verbleibt aber im Rahmen ihrer Konstitution, wenn sie lediglich auf eine Umverteilung produzierter Werte zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen abzielt. Die konstitutive Form jeder kapitalistischen Vergesellschaftung, nämlich die Scheidung der Bevölkerung in Kapitalbesitzer_innen und jene, die nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft wird jedenfalls in beiden Spielarten linksliberaler Demokratietheorie nicht angetastet. Bereits Marx bemerkte zur Umverteilung vor nahezu 140 Jahren:

Abgesehn von dem bisher Entwickelten war es überhaupt fehlerhaft, von der sog. Verteilung Wesens zu machen und den Hauptakzent auf sie zu legen. Die jedesmalige Verteilung der Konsumtionsmittel ist nur Folge der Verteilung der Produktionsbedingungen selbst. Die kapitalistische Produktionsweise z.B. beruht darauf, dass die sachlichen Nichtarbeitern zugeteilt sind unter der Form von Kapitaleigentum und Grundeigentum, während die Masse nur Eigentümer der persönlichen Produktionsbedingung, der Arbeitskraft, ist. Sind die Elemente der Produktion derart verteilt, so ergibt sich von selbst die heutige Verteilung der Konsumtionsmittel. Sind die sachlichen Produktionsbedingungen genossenschaftliches Eigentum der Arbeiter selbst, so ergibt sich ebenso eine von der heutigen verschiedne Verteilung der Konsumtionsmittel. Der Vulgärsozialismus (und von ihm wieder ein Teil der Demokratie) hat es von den bürgerlichen Ökonomen übernommen, die Distribution als von der Produktionsweise unabhängig zu betrachten und zu behandeln, daher den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen. Nachdem das wirkliche Verhältnis längst klargelegt, warum wieder rückwärtsgehn? (Marx 1875, 22)

Aber nicht alle Demokratietheorien vergessen auf ihr sozial-ökonomisches Fundament. Nicht in den im akademischen und feuilletonistischen Mainstream primär verhandelten Theorien finden wir Ansatzpunkte einer anderen Rede über Demokratie, sondern bei den mehr oder weniger vergessenen Autoren wie den bereits oben erwähnten Cornelius Castoriadis (Castoriadis 2006) oder auch C.P. Macpherson (Macpherson 1977). Aber auch zeitgenössische Debattenbeiträge von links, wie etwa die von Alain Badiou oder Michael Hardt und Antonio Negri, intervenieren in akademische Debatten und linke Bewegungen und stellen dabei dem kapitalistischen Begriff der „halbierten Demokratie“ einen „absoluten“ (Hardt/Negri) gegenüber (siehe dazu unter anderem Naetar 2006 und Birkner 2013).

Die Forderung nach einer derartigen „absoluten“ oder „realen“ Demokratie ist jedoch nicht nur ein Element linker Theorien, sondern auch zentraler Bestandteil der neuen sozialen Bewegungen. Während die globale Protestbewegung der Nullerjahre noch eher diffus „Eine andere Welt ist möglich!“ postulierte, zeigen die jüngeren Auseinandersetzungen bereits schärfere Konturen: Die Möglichkeit reformistischer Veränderung der bestehenden Ordnung spielt in ihnen kaum mehr eine Rolle, vielmehr wird gegen die von oben verordnete „Demokratie“, die keine ist, eine „reale“ eingefordert – und auf den Plätzen auch praktiziert. Entgegen vielen Demokratietheorien entwickeln diese Bewegungen bei all ihren Unterschieden doch eine sehr weitgehende praktische Kritik sowohl an der staatlichen wie an der repräsentativen Form liberaler „Demokratie“. Sie fordern eben nicht zufällig „reale Demokratie“. [1] All diese Bewegungen begnügen sich jedoch nicht mit einem Mehr an real existierender Demokratie, sondern verweisen, wohl wissend um das Absterben des liberalen Paradigmas parlamentarischer Repräsentation, auf ein überschießendes, utopisches Moment. Parteien und charismatische SprecherInnen haben ausgedient, im Rahmen der Versammlungen auf den Plätzen in Kairo, Madrid, New York, Istanbul oder Tel Aviv wird mit neuen Formen unmittelbar partizipativer Demokratie experimentiert.

Praktiken der konstituierenden Macht

Die Versammlungen auf den Plätzen im Rahmen der Occupy-Bewegung oder im Rahmen des „arabischen Frühlings“ zeigen dabei die Richtung auf, die eine kommende Demokratie als konstituierende Macht einer neuen gesellschaftlichen Ordnung nehmen könnte (siehe Lorey et. al. 2012). Die Assembleas auf den Plätzen, die Stadtteilversammlungen und Nachbarschaftskomitees sind dabei wichtige Elemente einer solchen konstituierenden Macht, welche die Geschicke von widerständigen Praxen demokratisch lenken, aber auch die Wiederaneignung der sozialen Infrastruktur organisieren können. Die „Kliniken der Solidarität“ in Griechenland oder aber die Vereinigungen gegen Zwangsdelogierungen in Spanien sind tief in der Bevölkerung verankerte Strukturen, die ihr Vertrauen in den Staat längst verloren haben, dem jedoch nicht mit Zynismus und Vereinzelung, sondern mit kollektiven Formen demokratischen Widerstands begegnen. In nächster Zeit wird sich zeigen, ob daraus Institutionen entstehen, die eine längerfristige Ablöse staatlicher Apparate einleiten können, eine dauerhafte Reorganisierung sozialer Dienstleistungen und letztlich auch nichtkapitalistischer Produktion und Distribution.

Das Wiederaufkeimen von Betriebsbesetzungen und der Diskussion um ArbeiterInnenselbstverwaltung stimmt dahingehend jedenfalls hoffnungsvoll. Hoch arbeitsteilige Gesellschaften können dabei wohl nicht gänzlich auf repräsentative Formen verzichten – wer will sich schon um Müllabfuhr, Herzoperationen, das Schienennetz oder die Elektrizitätsversorgung gleichzeitig kümmern, wie eine demokratische und effektive Kontrolle und Planung dieser Bereiche aussehen könnte, ist nicht auf dem Reißbrett, sondern nur durch eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung zu entscheiden. Aus Vergangenheit und Gegenwart wissen wir jedenfalls, dass dahingehend zentralstaatlicher Planung und kapitalistischem Markt gleichermaßen zu misstrauen ist. Es gilt also, neue Formen gesellschaftlicher Steuerung und Verwaltung auf transnationaler Ebene zu finden, ohne die Bedürfnisse der Menschen bürokratischen Großorganisationen wie z.B. der EU-Kommission unterzuordnen. Wie kann ein Überschreiten von Nationalstaatlichkeit mit einer Re-Regionalisierung sozialer Beziehungen unter Wahrung der Selbstbestimmung der Bevölkerung verknüpft werden?

Über die Institution des Privateigentums ist die staatliche Demokratie unverbrüchlich mit der ökonomischen Verfasstheit der Gesellschaft verknüpft. Dementsprechend muss jede demokratische Politik, die sich selber ernst nimmt, sich zu dieser Institution positionieren. Kapitalistische Demokratien tun dies auch mit allem Nachdruck. Gerade in postfordistischen Zeiten, in denen die Funktion des Eigentums wieder ins Zentrum des Ausbeutungsprozesses rückt, beweisen sie immer wieder aufs Neue ihren Klassenstandpunkt: Patente, Copyrights und Lizenzen … Welche Alternativen können es zur herrschaftlich verfassten Durchsetzung des Privateigentums und der Enteignung des Kommunen geben? Wie kann gesellschaftliches Wissen und der Zugriff auf Ressourcen demokratisch und für alle Menschen sichergestellt werden, ohne wiederum auf das autoritäre Erbe des Staates zurückzugreifen? Viele neuere Demokratietheorien, die genau jenen Klassenstandpunkt links liegen lassen, enthistorisieren und entsozialisieren den Diskurs der Analyse real existierender Demokratien. Sie spielen, bewusst oder unbewusst, das Spiel all jener Kommentatoren, die gerade im Hinblick auf die Demokratiebewegungen des globalen Südens immer schon wissen, was Demokratie sei bzw. welche Demokratie zu fordern ist: Marktwirtschaft plus Parlamentarismus (vgl. dazu Badiou 2012).

One solution …?

Folgt mensch der Verallgemeinerung des liberaldemokratisch-parlamentarischen Staatsbetriebs zu „der“ Demokratie, wie dies z.B. Colin Crouch vorschlägt (2008), so ist seiner titelgebenden Diagnose – wir befinden uns mittlerweile in „postdemokratischen“ Verhältnissen – sicherlich zuzustimmen. Angesichts eines derart „halbierten“ Demokratiebegriffes ist jedoch nicht nur der Analyse, sondern auch den vorgeschlagenen Gegenmitteln zu misstrauen. So unbestritten die Triftigkeit der Crouchschen Analyse der radikal nachlassenden Steuerungsfähigkeit bürgerlich-demokratischer Apparate auch ist — aber ist mit ihrer liberalen Spielart die Demokratie an und für sich tatsächlich am Ende? Und: ist das tatsächlich so schlimm, dass wir uns allesamt mit aller sozialdemokratischer Gewalt an der Rettung der verbliebenen Residuen dieser Apparate machen sollten? Ich meine: Ja und Nein. Ja, wenn es um die Kritik von Entdemokratisierung öffentlicher Institutionen und sozialer Errungenschaften geht, um die zunehmend repressiven und unmittelbar politischen Aktivitäten von Polizei und Justiz oder um die Privatisierung sozialer Dienstleistungen. Nein, wenn als Gegenmittel immer wieder aufs Neue ein Zurück zur fordistischen Konfiguration des Wohlfahrtsstaats gefordert wird – oder gar eine Re-Nationalisierung kapitalistischer Regulation. Stattdessen gilt es den Begriff der Demokratie anstatt um die Institutionen Eigentum – Geld – Staat vielmehr an Praktiken sozialer Bewegung, gesellschaftlicher Produktion und der Commons auszurichten – und mit Leben zu füllen. Maßstab für die Demokratisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ist dabei stets der Abbau von Diskriminierungs-, Ausschluss- und Ausbeutungsmechanismen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen.

Wie aber könnte eine breite gesellschaftliche Neuausrichtung und Neu-Instituierung der Demokratie aussehen? In jüngster Vergangenheit hat es mehrere Hinweise in Richtung eines solchen Demokratieverständnisses geben. Robert Foltin hat in der Nummer 46 dieser Zeitschrift einen inspirierenden Text zur „Demokratie der sozialen Bewegungen“ verfasst (Foltin 2013), in dem er auf unterschiedliche Dimensionen demokratischer Praxis in den aktuellen sozialen Bewegungen hinweist, von den Versammlungen der Indignados in Spanien über die Aufstände des „arabischen Frühlings“ bis hin zur Occupy-Bewegung. Dabei schält er die untergründige Wirksamkeit anarchistisch-autonomer Kooperations-, Diskussions- und Aktionsformen bis weit hinein in breite Massenbewegungen heraus und zeigt, wie sich alternative Formen demokratischer Praxis in die gesellschaftliche Breite entwickeln können. Auch Michael Hardt und Toni Negri haben in ihrem jüngsten Büchlein – es trägt in der Deutschen den Begriff auch gleich als Titel (Hardt/Negri 2013) – ungewohnt untheoretische Vorschläge zu einer Entwicklung eines demokratischen Gemeinwohls (Common Wealth hieß ihre jüngste große gemeinsame Arbeit) vorgelegt, die sowohl auf den Kämpfen und Praxen sozialer Bewegungen beruhen, aber auch vor rechtsstaatlichen Höhen nicht zurückschrecken und alternative Formen einer demokratischen Gewaltenteilung zur Diskussion stellen. Auch eine Gruppe linker Intellektueller rund um Angelika Ebbinghaus und Karl-Heinz Roth hat kürzlich einen Aufruf für ein egalitäres Europa veröffentlicht, der uns einige Hinweise in diese Richtung gibt (Papadimitrou / Roth 2013). Ob derlei Versuche eines möglichst breit anschlussfähigen „Übergangsprogramms“ geeignet sind, um zumindest auf diskursiver Ebene Resonanzen auszulösen, wird die Zukunft zeigen; eine gewisse Skepsis scheint mir hier – bei aller Sympathie – doch angebracht.

Entschieden wird aber auch diese Auseinandersetzung nicht auf theoretischem Terrain, sondern letztlich durch soziale Massenbewegungen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Ob der Begriff der Demokratie nun über Bord zu werfen ist oder ob die Linke trotz aller Bedenken einen Hegemoniekampf um ihn führen soll, kann und soll an dieser Stelle nicht entschieden werden. Wünschenswert wäre jedenfalls eine stärker strategisch und weniger religiös ausgerichtete Debatte darüber – und auch eine pointiertere Kritik all jener Sichtweisen von Demokratie, die deren ökonomischen Gehalt schlicht und einfach in Abrede stellen oder einfach verschweigen.

Eine demokratisch verfasste Ordnung, die auch sämtliche Bereiche der materiellen und immateriellen Reproduktion der Gesellschaft umfasst, in der also kein Teil der Bevölkerung mehr durch das ausschließende Privileg des Eigentums oder die institutionell abgesicherte Umformung von Differenzen in Herrschaft über Menschen ausgebeutet und/oder unterdrückt werden kann, was ist das anderes als der gute alte, noch nie dagewesene Kommunismus? Jeder nach seinen Fähigkeiten, jede nach ihren Bedürfnissen. Die Voraussetzungen waren eigentlich noch nie so günstig wie heute.

Eine kürzere (Vor)Version dieses Artikels erschien im Mai 2013 in der Zeitschrift malmoe.

Literatur

  • Badiou, Alain (2012): „Der Parlamentarismus ist eine Fiktion“, in: grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 42, Wien, S. 5-11, online unter: http://www.grundrisse.net/grundrisse42/parlamentarismus_ist_eine_Fiktion.htm (abgefr. 21.7.2013)
  • Birkner, Martin (2013): „Die Macht kann nicht überlegen, wenn die Subjekte ihre Angst ablegen.“, Rezension zu Hardt / Negri (2013), in: grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 46, Wien, S. 58-59, online unter: http://www.grundrisse.net/buchbesprechungen/michael_hardt__antonio_negri.htm (abgefr. 21.7.2013)
  • Blume, Anna und Sinakusch, Nick (2013): Standortfaktor Gerechtigkeit, in analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr. 583, S. 35
  • Castoriadis, Cornelius (2006): Welche Demokratie? In: ders.: Autonomie oder Barbarei; Ausgewählte Schriten Band 1, Verlag Edition AV, Lich, S. 69-112
  • Crouch, Colin (2008): Postdemokratie, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
  • Foltin, Robert (2013): Die Demokratie sozialer Bewegungen, in: grundrise.zeitschrift für linke theorie & debattte, Nr. 45, Wien, S. 47-51
  • Fraser, Nancy / Honneth, Axel (2003): Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
  • Gerstenberger, Heide (1973): Zur politischen Ökonomie der bürgerlichen Gesellschaft: die historischen Bedingungen ihrer Konstitution in den USA, Athenäum-Fischer, Frankfurt a.M.
  • Hardt, Michael / Negri, Antonio (2013): Demokratie!: Wofür wir kämpfen, Campus, Frankfurt a.M.
  • Lefort, Claude (1990): Die Frage der Demokratie; In: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Suhrkamp, Frankfurt a.M., S. 281-297
  • Lorey, Isabell et.al. (Hg.) (2012): Occupy! Die aktuellen Kämpfe um die Besetzung des Politischen, Turia + Kant, Wien
  • Manow, Philip (2008): Im Schatten des Königs. Die politische Anatomie demokratischer Repräsentation, Suhrkamp, Frankfurt a.M.
  • Marchart, Oliver (2005): Neu beginnen. Hannah Arendt, die Revolution und die Globalisierung, Turia + Kant, Wien
  • Macpherson, C.P. (1977): Demokratietheorie, Campus, Frankfurt a.M.
  • Marx, Karl (1875): Kritik der Gothaer Programms, in: MEW Band 19, S. 22
  • Naetar, Francois (2006): Wie hältst du es mit der Demokratie …, in grundrisse.zeitschrift für linke theorie & debatte, Nr. 20, Wien, S. 46-58
  • Papadimitrou, Zissis / Roth, Karl-Heinz (2013): Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa, Nautilus, Hamburg
  • Streeck, Wolfgang (2013): Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus, Suhrkamp, Frankfurt a.M.

[1„¡Democracia real ya!“ war einer der Hauptslogans der spanischen Bewegung ausgehend von der Porta del Sol in Madrid.

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