FORVM, No. 315/316
März
1980

Warum schweigt die schweigende Mehrheit?

Konrad Wünsche: Die Wirklichkeit des Hauptschülers. Berichte von Kindern der schweigenden Mehrheit, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main 1979, 126 Seiten, DM 4,80, öS 37,50

In einem Ozean von Büchern über Schule, Schüler, Lehrer, Schulreformen, Didaktik und Pädagogik stellte Konrad Wünsches Buch „Die Wirklichkeit des Hauptschülers“ eine Insel dar, auf die sich der Leser vor dem Ertrinken rettet. „Die Wirklichkeit des Hauptschülers“ ist erstmals 1972 erschienen; sieben Jahre später kommt dieses Buch in einer erweiterten Ausgabe wieder heraus — ein Beweis nicht nur dafür, daß es sich dabei quasi um einen Klassiker handelt. Die Neuauflage beweist auch, daß sich an der Realität des Schulbetriebs vielleicht weniger geändert hat, als die oft fanatischen Kontroversen um dieses Thema annehmen ließen.

Über Schule und Schulreformen wurden in der Bundesrepublik Wahlschlachten geschlagen, Ideologiedebatten geführt und vor allem eine Masse Papier bedruckt. Aber wer weiß noch, worum es wirklich geht?

Konrad Wünsche hat ein Buch sowohl für die Schulreform als auch gegen sie geschrieben. Er warnt vor schmissigen Parolen! Wünsche klagt die Mängel, die Versäumnisse, die prinzipiellen Irrtümer des traditionellen Schulsysterns an. Er kritisiert aber auch, daß viele Schulreformen rein akademisch geplant und ohne Mitsprache der Betroffenen ausgeheckt worden sind.

An den Anfang seines Buchs stellt Wünsche die Warnung: „Was da auf uns zukommt, in Hoschulseminaren schon erarbeitet wird, anderswo schon installiert ist, das alles ist kaum wahrnehmbar für den Lehrer, der mit seinem täglichen Unterricht beschäftigt ist, und für die Eltern, deren Kinder mit diesem Unterricht nicht fertigwerden. Die quälen sich im Schulbetrieb ab.“

Prophetische Worte aus dem Jahr 1972! Aber der Verfasser konstatiert auch: „Der Verkehr mit der Freiheit hat an der Schule Spuren hinterlassen, die nicht einfach wegzumanipulieren sind.“

Der Schulkampf konzentriert sich in erster Linie auf Universitäten und Gymnasien. Konrad Wünsche hat für die Öffentlichkeit die unterprivilegierte Realität der Hauptschulen entdeckt. Die Qualität seines Buchs liegt darin, daß es die Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern in den Mittelpunkt stellt. Wünsche nimmt den pädagogischen Auftrag wirklich ernst: die Kinder „von der blinden Wut des Produzierens und Konsumierens, vom Zwang zum Aufsteigenwollen, vom Catch-as-catch-can des Konkurrenzkampfs zu befreien“.

Wünsche verbindet den Erfahrungsbericht eines Praktikers mit der Begabung zur theoretischen Analyse. Hier schreibt einer, der weiß, wovon er spricht, und der darüber gründlich nachgedacht hat. „Die Wirklichkeit des Hauptschülers“ behandelt neben der Schulsituation auch den gesellschaftlichen Hintergrund der Schüler. Das Buch ist das Resümee von zwanzig Jahren: Konrad Wünsche erzählt von seiner Arbeit als Volks- und Hauptschullehrer in einem reheinländischen Dorf während der fünfziger und sechziger Jahre.

Er erzählt von Schulleitern, die sich wie Könige fühlten, von einem patriarchalischen Pfarrer, mit dem er überraschend gut auskam, von einer Lehrerin, die die Kinder bei einer Wahlreise Adenauers eifrig zum Winken anhielt.

Wünsche hat — wie er selbst sagt — die Kinder der sogenannten „schweigenden Mehrheit“ unterrichtet. Im Rückblick stellt er sich und dem Leser die Frage, was er ihnen überhaupt beibringen konnte. „Die schweigende Mehrheit“ das ist ein Ausdruck, der Ende der sechziger Jahre von dem damaligen amerikanischen Vizepräsidenten Spiro T. Agnew geprägt und dann weltweit von den Konservativen aufgegriffen wurde.

Die schweigende Mehrheit, so hieß es damals, wolle und wünsche gar nicht die Reformprogramme der Linken; sie sei mit dem vorhandenen Zustand durchaus glücklich — sonst würde sie ja nicht schweigen. Konrad Wünsche wirft dagegen das Problem auf, weshalb die schweigende Mehrheit schweigt: zum Schweigen verurteilt ist. Er hat an der Schule entdeckt, daß die herrschende Kultur, ihre Sprache und ihre Normen für einen Großteil der Bevölkerung einfach unverständlich ist.

In der „Wirklichkeit des Hauptschülers“ heißt es: „Die Kinder der schweigenden Mehrheit brauchen nicht zum ‚Schaffen‘ einer Welt angeleitet zu werden. Als die, die arbeiten, schaffen sie ohnehin die Welt. Sie müssen sich auf den Weg machen, zu lernen, wie die von ihnen schon geschaffene Welt zu durchschauen wäre.“

Führt die Schule die Kinder auf diesen Weg? Konrad Wünsche beginnt mit dem Einfachsten: mit dem Deutschunterricht. Was könnte: leichter sein (so scheint es), als die Kinder in ihrer Muttersprache zu unterrichten?

Aber stimmt das überhaupt — die „Muttersprache“? Ist die Sprache der Kinder und ihrer Familien mit der Sprachnorm der Schule identisch? Wünsche leugnet das ganz entschieden. Er hat an den Bauern- und Arbeiterkindern seines Dorfes im Rheinland festgestellt, daß für sie das Hochdeutsch sehr wohl eine Fremdsprache ist.

Er zitiert den Brief einer Mutter: „Werter Herr Lehrer. Möchte hiermit meinen Sohn Peter entschuldigen. Peter hatte gestern starkes Erbrechen. Hochachtungsvoll Frau K.“ Wünsche fügt den Kommentar hinzu: „Was heißt da Fremdsprache?“

Offenkundig ein wunder Punkt ... der Gegensatz zwischen dem „vornehmen Stil“ der Gebildeten und dem „vulgären Slang“. In den politischen Auseinandersetzungen um die hessischen und andere Rahmenrichtlinien hat seinerzeit der Vorwurf eine bedeutende Rolle gespielt, hier würde die „Niethosensprache“ in den Unterricht eingeschmuggelt.

Die Wissenschaft trifft den Unterschied zwischen dem restringierten und dem elaborierten Code: Sie meint damit den Unterschied zwischen einer Sprache, die einfach ausdrückt, was Sache ist, und einer gehobeneren Ausdrucksweise, die höhere Ziele verfolgt. Das eine sei die Sprache der Unterschicht, das andere die der Mittelklasse. Empirische Untersuchungen haben ergeben, daß die meisten Leute die Nachrichten im Fernsehen nicht verstehen.

Konrad Wünsche nennt das Hochdeutsch eine „Sprache des Schweigens“. In der „Wirklichkeit des Hauptschülers“’ weist er nach, daß der Deutschunterricht in der Regel gar nicht in der Lage ist, diese Schranke zu beseitigen. Die Schulbücher erziehen zur Passivität, zur Unterwerfung unter die Regeln der Grammatik, die nicht weniger willkürlich sind als die Normen der Rechtschreibung. Mit beiden wird die meiste Zeit im Unterricht verplempert.

Viel zu wenig wird auf die Bedeutung der Wörter geachtet — nämlich auf jene Bedeutungen, die sie im Alltag und beim Lösen alltäglicher Probleme tatsächlich haben. Ein blindes Einüben von Regeln und Vorschriften, das das Sprechen und Denken blockiert, anstatt es zu erleichtern.

Damit die schweigende Mehrheit die offizielle Sprache sprechen lernen kann, muß sie sich diese Sprache erst aneignen können. Wie schwer die Schule diese Aneignung macht, demonstriert Wünsche am Literaturunterricht. Auch hier wird eine künstliche Sprache gelehrt, die keine Beziehung zur Realität hat. Wünsche bemerkt zu einem sicher nicht untypischen Lesestück aus dem Lesebuch: „Hier werden Blumen nicht abgemacht, sondern gepflückt, und der Vater hat keine Wut, wenn er von der Arbeit kommt, sondern er ist müde, und er freut sich nicht über sein Bier, sondern über die Blumen.“

Auf diese Weise bleibt Literatur totes Bildungsgut, das höchstens Respekt, aber kein Interesse weckt. Wünsche hingegen führt seinen Lesern vor, wie man Literatur für die Wirklichkeit des Hauptschülers praktikabel machen kann. In seinem Unterricht hat er Texte verwendet, die den Kindern der Unterschicht etwas über ihre soziale Lage zu sagen hatten, zum Beispiel Gesindebücher aus dem vorigen Jahrhundert, in denen das Schicksal der Dienstboten dokumentiert ist, und die ein realistisches Gegenbild zur Scheinwelt der Trivialromane liefern.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für seine Methode ist die Verfremdung einer lammfrommen Geschichte aus dem Lesebuch, wo ein kleines Mädchen seiner Mutter bei der Hausarbeit hilft: „Mutter hatte es eilig, und darum sollte ich staubsaugen." Eine Schülerin machte daraus den Satz: „Der Staub hatte es eilig, und darum sollte ich Mutter saugen. Oder aus „Anni macht sich über die Arbeit“ wird „Die Arbeit macht sich über Anni.“

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