FORVM, No. 462-464
Juli
1992

Von Ende und Anfang

„1989 wählten die Völker Osteuropas ein Jahrhundert ab“, lautet auch heute noch ein beliebter Stehsatz westlicher Kommentatoren. „Der Sozialismus ist nach beinahe eineinhalb Jahrhunderten von der politischen Bühne abgetreten“, meinen selbst viele Linke, und Resignation herrscht aller Orten. Was von „realsozialistischen“ Strukturen am Anfang unseres Jahrzehnts noch übrig war, versuchte sich eilends in sozialdemokratische, lieber noch „liberale“ Gefilde zu retten, und nach dem Untergang der Sowjetunion zur Jahreswende 1991/92 erscheint jeder, der seine Stimme noch für sozialistische „Utopien“ erhebt, als rettungslos weltfremder Spinner.

Genau hier setzt jedoch die Kritik von Michael Schneider an. Seine These ist freilich nicht neu. Mit Sozialismus habe der RGW nie etwas gemein gehabt, drückt er in seinem neuen Buch »Das Ende eines Jahrhundertmythos« [1] aus. Diesen Ansatz vertraten seit Julij Martow, dem Führer der Menschewiki, [2] zahllose, durchaus ebenfalls auf dem Boden marxistischer Positionen stehende Politiker. Selbst einst führende Bolschewiki wie Leo Trotzki [3] und Nikolaj Bucharin [4] erkannten letztlich die fatale Fehlentwicklung jenes Systems, von dem sie geglaubt hatten, es werde eine neue Epoche der Menschheitsgeschichte einleiten. Und Lenin versuchte in seinen letzten Lebensjahren, bereits schwer krank und isoliert, mit zahlreichen Schriften den Kurs zu korrigieren und bekannte freimütig seine Irrtümer ein. [5]

Karl Marx, der einst in weiser Voraussicht gemeint hatte, „wenn eines sicher ist, dann, daß ich kein Marxist bin“, hätte angesichts der bolschewistischen Revolution kaum anders reagiert als in Zusammenhang mit der Haltung der deutschen Sozialdemokratie auf ihrem Parteitag in Gotha. Er hätte mit Kritik nicht gespart.

Denn, und darauf weist auch Schneider hin, Lenin schien einen entscheidenden Unterschied zwischen den Auffassungen von Marx und Engels auf der einen und Lassalle auf der anderen Seite bewußt übersehen zu haben. Marx und Engels gingen stets davon aus, daß Lassalles Etatismus ein Hemmschuh in der Entwicklung sozialistischer Modelle ist. Nicht den Staat, weder den lassalleanischen „Zukunftsstaat“, von dem im übrigen ein halbes Jahrhundert lang die Mehrheit der deutschen Sozialdemokratie träumte, noch den bolschewistischen Einheitsstaat und seinen Despotismus sah Marx als Modell sozialistischer Vergesellschaftung an, sondern die selbstverwaltete „freie Assoziation der Produzenten“ im Sinne der Pariser Kommune, die den Staat für kurze Zeit überflüssig machte, ehe sie von Thiers und Bismarck im Blut ertränkt wurde. „Es ist aber nötig, hier nochmals kurz auf einige Züge derselben einzugehen, weil gerade in Deutschland der Aberglaube an den Staat aus der Philosophie sich in das allgemeine Bewußtsein der Bourgeoisie und selbst vieler Arbeiter übertragen hat. Nach der philosophischen Vorstellung ist der Staat die ‚Verwirklichung der Idee‘ oder das ins Philosophische übersetzte Reich Gottes auf Erden, worauf die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit sich verwirklicht oder verwirklichen soll. Und daraus folgt dann eine abergläubische Verehrung der Staats. ... In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung ..., und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und ... ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird.“ [6]

Und schon anno 1844 schrieb Marx: „Keine Art der Knechtschaft (kann) gebrochen werden, ohne jede Art der Knechtschaft zu brechen.“ [7]

Was Marx und Engels an der Pariser Kommune vorbildlich fanden, waren jene freigewählten Organe, in der es weder Parteidiktatur noch Fraktionszwang gab, eine Idee, die in dieser Form [seit der 68ern, Red.] erst wieder die sozial-ökologischen Bewegungen der letzten 20 Jahre aufgriffen. Und als Lenin am Beginn dieses Jahrhunderts seine These von der verschworenen Gemeinschaft von Berufsrevolutionären entwarf, da war es ausgerechnet sein späterer Weggefährte Trotzki, der prophetisch voraussah, worin die Gefahr dieser Theorie lag: „Zuerst tritt die Parteiorganisation an die Stelle der gesamten Partei, dann nimmt das ZK die Stelle der Organisation ein und schließlich ersetzt ein einziger Diktator das ZK.“ [8]

Unter all diesen Voraussetzungen war die Oktoberrevolution von Anbeginn nicht unbedingt die Verwirklichung Marx’scher Zielsetzungen. Fairerweise muß, und auf diesen Umstand weist Schneider in seinem Buch hin, aber in Rechnung gestellt werden, daß die Bolschewiki zu keiner Phase ihres „heiligen Experiments“ eine Chance hatten, eine ruhige Entwicklung zu durchlaufen. Im Bürgerkrieg, der gleichzeitig der Kampf von 14 kapitalistischen Staaten gegen die „rote Pest“ war, verloren sie ihre besten Kader, was dazu führte, daß die „hervorragendste Mittelmäßigkeit der Partei“, wie Stalin von Trotzki genannt wurde, die leer gewordenen Plätze mit Leuten seines Vertrauens besetzen konnte. In den Randgebieten der Sowjetunion fehlte es überhaupt an den Grundvoraussetzungen für eine ökonomische Umgestaltung. Und seit dem Beginn der Fünfjahrespläne lief die Sowjetwirtschaft in eine Richtung, die stur auf Quantität statt auf Qualität orientiert war, was den Nachfolgestaaten des „realen Sozialismus“ heute katastrophale Wettbewerbsnachteile bringt. Seit Stalins endgültiger Machtübernahme war an eine Verwirklichung sozialistischer Ziele ohnehin nicht mehr zu denken. Die Erweiterung der sowjetischen Einflußsphäre im Gefolge des Zweiten Weltkriegs war nichts anderes als Imperialismus mit anderen Vorzeichen, und wer sich in diesem Block nicht als absolut botmäßig erwies, wie beispielsweise die Jugoslawen, [9] wurde mit allen Mitteln der Repression bedrängt. [10]

Spätestens seit diesem Zeitpunkt (1948) riß die (linke) Kritik an den Staaten des Warschauer Vertrags nicht mehr ab, [11] der „Zusammenbruch“ der Regime des RGW kam dennoch überraschend, wiewohl Lenins Satz von „denen unten, die nicht mehr wollten und jenen oben, die nicht mehr konnten“ auf die KP-Regierungen fast noch mehr zutraf als seinerzeit auf den Zarismus.

So gesehen war die Bestürzung, die Furcht vor einem endgültigen „Ende des Sozialismus“, [12] die nach dem Fall des östlichen Blocks selbst Sozialdemokraten befiel, gänzlich unangebracht. Der deutsche Dramatiker Heiner Müller brachte die neue Situation schon wesentlich realistischer auf den Punkt: „Im Moment hat man sich darauf geeinigt, zu sagen, daß der Kommunismus gescheitert ist, aber man kann auch sagen, daß der Kommunismus sein politisch-ideologisches Kostüm abgeworfen hat und jetzt nackt auftritt. ... Der Kapitalismus hat keine Alternative mehr, keinen Feind außer sich selbst. Und das verspricht eine interessante Entwicklung.“ [13]

Hier setzt nun Schneider an. Der Kapitalismus hat, so scheint es, einen Pyrrhussieg errungen. „Seit dem Fall der Mauer wiegt sich die westliche Führungsmacht in dem selbstherrlichen Glauben, die gesamte östliche Welt nunmehr zum american way of life bekehrt zu haben. Woher die Amerikaner ihre triumphale Selbstgewißheit eigentlich nehmen, muß dem nüchternen Betrachter allerdings ein Rätsel bleiben, steckt doch gerade god’s own country in der tiefsten Krise seiner ganzen bisherigen Geschichte.“ [14] Schon im Vorjahr zeigte Rolf Winter in seinem Buch »Gottes eigenes Land« [15] das volle Ausmaß der sozialen, ökonomischen und vor allem auch ökologischen Krise der „Weltmacht Nummer Eins“ auf. So charakterisiert Murray Bookchin, Universitätsprofessor für soziale Ökologie, den Zustand seines Landes folgendermaßen: „Eines der Zentren des Kapitalismus, die USA, zerfällt. Die öffentlichen Haushalte sind nicht in der Lage, öffentliche Einrichtungen, von Gebäuden bis Straßen, auch nur instandzuhalten: 40 Prozent aller Brücken sind ein Sicherheitsrisiko. Massenhafte Betriebsstillegungen mit massenhafter Arbeitslosigkeit sind die Folge ungehemmter Anlagepolitik des Kapitals, das für schnellen Profit auf jegliche langfristige Infrastrukturmaßnahme verzichtete. ... Staat und Firmen sind überschuldet, der Staat war schon vor dem Golfkrieg bereits in Höhe von 2000 Milliarden Dollar verschuldet, seit Sommer 1990 gehen wöchentlich 1300 Betriebe pleite.“ [16]

Bushs Betteltour nach Japan war vor diesem Hintergrund ein für die Staaten notwendiger Schritt, sich wirtschaftlich wieder aufraffen zu können. Doch nicht einmal der ökonomische Spitzenreiter der EG, die Bundesrepublik Deutschland, befindet sich im Zustand wirtschaftlicher Blüte. Schneider präsentiert eine Vielzahl von Fakten, die auf den Umstand hinweisen, daß auch die BRD ihre Krise nur noch mangelhaft zu kaschieren imstande ist. Trotz des langen Aufschwungs seit 1983 hat die durchschnittliche Arbeitslosenzahl niemals die 2-Millionen-Grenze unterschritten, [17] durch die Auswirkungen der „Wiedervereinigung“ kommen nun 1,4 Millionen Arbeitslose aus den neuen Bundesländern hinzu. Mit jenen Menschen, die sich permanent in Kurzarbeit befinden, ergibt dies eine Gesamtzahl von nahezu 7 Millionen, die „doppelte Freiheit“ (Marx) genießen, frei vom Besitz von Produktionsmitteln, aber auch frei von Arbeit. Der deutsche Gewerkschaftsbund berechnete in einer Studie, daß die Unternehmergewinne in den letzten 10 Jahren um 108 Prozent gestiegen sind, dieweilen sich die durchschnittliche Nettolohnsteigerung lediglich auf 10 Prozent beläuft. [18] Auch die Vermögenskonzentration nimmt rapide zu. Befanden sich 1983 25 Prozent des gesamten Geldkapitals im Besitz von 20 Prozent der Steuerpflichtigen, so verfügen heute 0,6 Prozent der Steuerpflichtigen über diesen Anteil. 89.000 Personen halten 60 Prozent des gesamten Geldvermögens in Händen. Bezieht das untere Drittel der deutschen Gesellschaft 16 Prozent des Gesamteinkommens, so kann sich das obere an 57 Prozent erfreuen. Was Marx in seinen ökonomischen Studien erforschte, es scheint in der Tat noch heute seine Gültigkeit zu besitzen, vor allem, wenn man in Rechnung stellt, daß der brutalste Manchesterkapitalismus immer noch fröhliche Urständ’ zu feiern vermag. Zwar nicht hierzulande, aber immerhin in nahezu allen Kontinenten außerhalb Europas. Robert Jungk sagt in seinem Buch »Der Atom-Staat«: „Ein gesellschaftliches und ökonomisches System, egal mit welchem Ismus, das permanent Wachstum produzieren muß, egal zu welchen Konsequenzen, andernfalls es zusammenbräche, führt sich selbst ad absurdum.“ [19] Und eben jene Erkenntnis ist es, die Schneider in seinem Buch vermitteln will. Es ist die marxsche Methode, die nach wie vor ihre Aktualität besitzt. „Vergeßt den teleologischen, chiliastischen Marx“, scheint uns Schneider zuzurufen, „orientiert euch an seinem wissenschaftlichen Instrumentarium, und ihr werdet erstaunt sein, welchen Schlüssel zum Verständnis der heutigen Probleme ihr in Händen haltet.“

[1Michael Schneider, Das Ende eines Jahrhundertmythos, Köln (Kiepenheuer & Witsch) 1992, 416 Seiten, 378 Schilling

[2siehe dazu: Julij Martow et al., Sozialistische Revolution in einem unterentwickelten Land? Wien (Junius) 1981

[3Leo Trotzki, Die verratene Revolution, Dortmund (Intarlit) 1979

[4Nikolaj Bucharin, An die künftige Generation führender Parteifunktionäre, Berlin (Dietz) 1990

[5W. I. Lenin, Die letzten Briefe und Artikel, Berlin (Diez) 1982

[6Friedrich Engels, Einleitung zu Marxens Schrift »Der Bürgerkrieg in Frankreich«, in: Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 17, Berlin (Dietz) 1983, S. 17

[7Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: MEW, Bd. 1, Berlin (Dietz) 1983, S. 391

[8Leo Trotzki, Unsere nächsten Aufgaben, Reinbek b. Hamburg (Rowohlt) 1968, S. 54

[9siehe dazu: Edvard Kardelj, Der Übermacht zum Trotz, Klagenfurt (Drava) 1984, S. 120-168

[10Wenn auch im Falle Jugoslawien vergebens. Siehe dazu auch Nikita Chruschtschow: Der Personenkult und seine Folge. Die Geheimrede, Berlin (Dietz) 1990, S. 61 ff

[11siehe dazu u.a.: Jürgen Habermas, Die Moderne — ein unvollendetes Projekt, Frankfurt (Suhrkamp) 1990

[12So verfaßte der Grundsatzreferent der SPD, Thomas Meyer, einen Essay des Titels »Was bleibt vom Sozialismus«, Reinbek b. Hamburg 1991; siehe dazu auch: Andreas P. Pittler, Heilung auf sozialistischh in: Der Standard, 22.2.1991

[13Zitiert nach Schneider, a.a.O.

[14Schneider, a.a.O., S. 337 f

[15Rolf Winter, Gottes eigenes Land? Hamburg (Rasch und Röhring) 1991

[16Zitiert nach Jutta Ditfurth, Lebe wild und gefährlich, Köln 1991, S. 116 f

[17Schneider, a.a.O., S. 343

[18Zitiert nach Schneider, a.a.O., S. 345

[19Zitiert nach Robert Jungk, Damit wir nicht untergehen, Sandkorn Linz 1992, S. 164

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