ZOOM 1/1998
März
1998

Von der Notwendigkeit des Unnotwendigen

ein text in 11 widmungen

widmung 1

diesen text widme ich einem freund, der, als ich ihm eine monatszeitung, die wir zufällig doppelt haben und in der er blättert, mitgeben will, sagt: „nein danke, sonst muß ich das alles lesen“ und der mich daran erinnert, daß es nicht möglich ist, „alles“ zu lesen, über „alles“ bescheid zu wissen und daß es notwendig ist, entscheidungen zu treffen zwischen dem, was man lesen muß, dem, was man lesen will, und dem, was in keine der beiden kategorien zu fallen scheint.

widmung 2

diesen text widme ich denjenigen unter meinen freundinnen und freunden, die glauben, daß papier ein zu wertvoller rohstoff sei, um darauf texte zu schreiben – texte, die nur von sogenannten minderheiten gelesen werden – und die die politische realität nicht merklich verändern können.

widmung 3

diesen text widme ich den autorinnen und autoren, von denen verlangt wird, daß sie sich dafür entschuldigen, daß ihnen niemand zuhört und sie trotzdem noch sprechen, denen vorgeworfen wird, daß ihre texte die gesellschaft nicht oder nicht merklich verändern, daß sie aber trotzdem papier verbrauchen, die das schlechte gewissen tragen und ertragen sollen, weil „man“ ihnen vorwirft, „un-not-wendiges“ herzustellen.

widmung 4

diesen text widme ich mir, die ich die kritik am „unnützen“ verbrauchen und produzieren oft angezogen habe wie ein magnet, vielleicht aus dem typischen permanent schlechten gewissen der weißen mitteleuropäerin, das natürlich berechtigt ist, aber auch die funktion eines schutzschildes haben kann: das schlechte gewissen als alibi, als ent/schuldigung. ich kann mich gegen diese trennung von „nützlichem“ und „nutzlosem“ nicht ganz so entschieden wehren, wie ich es eigentlich möchte, weil es eben wirklich „unnützes“ gibt, und das ist, so wie ich es sehe, ganz sicher nicht die kunst, obwohl sie vielleicht dazu beiträgt. an dieser stelle soll der herrschaftskonforme aspekt der trennung in nützlich und nutzlos ins gedächtnis gerufen werden, weswegen eine solche unterscheidung im grunde nicht getroffen werden kann: konsequent betrieben führt diese unterscheidung zum „wer nicht arbeitet soll auch nicht essen“ oder aber, mit etwas menschenfreundlicherer argumentation: „er oder sie soll trotzdem essen, aber weniger gute sachen als die, die die wertvollen dienste für die gesellschaft leisten“ und dort befindet sich der sogeahnte politisch-konservative konsens sowieso.

widmung 5

diesen text widme ich denjenigen unter meinen freundinnen und freunden, die wieder mal mit schlechtem gewissen im supermarkt ein dosencola gekauft haben, die mit dem flugzeug in urlaub fliegen, die auf weißem und nicht auf umweltschutzpapier schreiben, die die pille nehmen oder aber kinder kriegen, obwohl jedes auf der nordhalbkugel geborene kind etwa dreißig (!) mal mehr an ressourcen verbraucht wie eines, das auf der südhalbkugel geboren ist, ich widme ihn jenen freundinnen und freunden, die einen billigen baumwollpullover wegwerfen, wenn er zerrissen ist und sich einen neuen kaufen, anstatt den alten zu flicken, obwohl sie wissen, daß die baumwolle bei uns nur deswegen so billig sein kann, weil sie von anderen menschen zu niedrigstlöhnen angebaut und geerntet wird, ich widme ihn allen, die fleisch und wurst essen, obwohl dafür tiere oft buchstäblich zu tode gemartert werden, jenen, die mit autos fahren undsoweiter – kurz, all denen, auch mir, die mit dafür sorgen, daß es im wesentlichen so weitergeht, wie es eben weitergeht, die schon dadurch, daß sie da sind und es sich halbwegs „gut gehen lassen wollen“, zu mittäterinnen und mittätern geworden sind: als esserInnen, als leserInnen. als fernseherInnen. als benutzerInnen von HIFIanlagen. und oft auch als arbeiterinnen und arbeiter: ob nun kunst produziert wird oder „lebensmittel“, ölgemälde oder mikrochips, preßspanplatten oder plastikstrohhalme, ob nun zeitungsartikel geschrieben werden oder straßen gebaut: es gibt immer einen blickwinkel, unter dem das gemachte ganz unnötig, manchmal sogar gefährlich erscheint – will sagen: der gesellschaftliche konsens über das, was notwendig ist, ist zerfallen – und das ist vielleicht auch wichtig und interessant: auf der einen seite steht das bild einer gesellschaft, in der genau vorgeschrieben ist, was sie will und in der alles berechnet und bestelllt und zum funktionieren verdammt ist – auf der anderen seite die vorstellung einer gemeinschaft, in der in mühsamen und schmerzhaften, sogenannten „selbstregulativen“ prozessen erarbeitet werden muß, was und wie organisiert bzw. desorganisiert werden muß/kann/soll.

widmung 6

diesen text widme ich einem freund, der meinte, jetzt mit jeder (auch sinn-)produktion aufzuhören, würde bedeuten, ein leckgewordenes boot auf offener see liegen zu lassen, ohne dran rumzubasteln. wir arbeiten dagegen – aber wir arbeiten mit. na fein. schon lange ist das angereicherte wissen für einzelne menschen nicht mehr aufarbeitbar. (nur alle können „alles“ wissen – wollen alle „alles“ wissen?) als kleinen tribut an das zerfallende humanistische bildungsideal gibt’s dafür dann den teletext auf lateinisch. jedeR wird gezwungen, sich auf einen kleinen, für ihn/sie relevanten ausschnitt zu konzentrieren: muß denn ein anwalt über anderes bescheid wissen als über gericht und gerichtliches? muß eine lungenfachärztin noch etwas anderes (er)kennen als lungenkrankheiten? und die computertechnikerInnen? jedem und jeder ihr reservat: die kunst hat ihres schon bekommen: ein reservat, in dem sogar dagegen widerstand geleistet werden darf – widerstand gegen die totale verwertbarkeit, was auch heißt, widerstand dagegen, daß alles, was sich am markt nicht behaupten kann, verschwinden soll/muß/wird, ja: eigentlich schon fast verschwunden ist.

widmung 7

diesen text widme ich freundinnen und freunden, die zu meinen und anderen lesungen kommen – nicht so sehr, weil sie sich für literatur interessieren, sondern eher aus freundschaft –, und vor denen man sich als autor oder autorin allzuleicht schämt, weil man nicht erfolgreich genug ist – denn nur erfolg scheint den entschluß, „kunst zu machen“ zumindest manches mal zu rechtfertigen. nur der erfolg entzieht den freundlich zweifelnden blicken oder den überlegungen, wieviele bäume mein schreiben = papierverbrauch den regenwald schon gekostet hat und ob die bücher wohl durch häufiges gelesenwerden jenen papierverbrauch rechtfertigen. aber wer bestimmt den erfolg, mit dem die eigene nützlichkeit (oder zumindest „unschädlichkeit“) bewiesen werden kann?

widmung 8

diesen text widme ich dem KPD organ Rote Fahne, das 1920 zur DADA messe folgendes schrieb: „eine sammlung von perversitäten als kultur und kunstleistungen auszustellen, ist schon kein ulk mehr, sondern eine frechheit“, und ich widme ihn denjenigen männern und frauen, mit denen ich politisch so ungefähr ... – oder die ähnliche anliegen haben wie ich, die aber glauben, daß kunst zu verspielt, zu ungeordnet und chaotisch ist, um ins politische geschehen eingreifen zu können, und weise darauf hin, daß das sogeahnte politische geschehen sich auch gegen wenig künstlerische, oft pragmatische eingriffsversuche etwa in richtung umverteilung bisher erfolgreich verweigern konnte. was tun, frage ich an dieser stelle trotzig uns alle.

widmung 9

diesen text widme ich all denen, die politische texte schreiben und darauf hoffen, daß ihre arbeit, ihr weitergeben von informationen jemand erreichen kann, allen jenen, auch mir, die die welt verändern wollen und nicht genau wissen, wie man das anfangen könnte.

widmung 10

diesen text widme ich denjenigen unter meinen freundinnen und freunden, die das gefühl haben, es gäbe schon so viele bücher, daß es keinen sinn hat, neue zu produzieren, ein argument, das einiges für sich zu haben scheint, dem ich aber entgegenhalten möchte, daß buch eben nicht gleich buch ist und daß es daher nur von bestimmten bücher so viele gibt, unter anderem deshalb, weil jemand draufkam, daß sie sich in größeren mengen billiger produzieren lassen. das, was in den sogenannten „nischen“ existiert, kann es an auflagenhöhe natürlich nicht mit diesen best-sellern aufnehmen – dort aber mit dem vorwurf des „überflüssigen“ anzufangen kommt mir ein bißchen vor, als wollte man den bioläden empfehlen zuzusperren, weil es eh genug supermärkte gibt.

widmung 11

diesen text widme ich allen, die sogenannte unnötige texte schreiben, auch mir, allen, die solche texte lesen, allen, die in dieser UN-NOTwendigkeit auch etwas liebenswertes sehen (zum beispiel „wie man bei kerzenschein in hotelkellern blumen züchtet“, ein buch, das Richard Brautigan in seinem roman „Die Abtreibung“ erwähnt): eine unNOTwendigkeit, die so, wie „das verbrechen“ die grenzen des erlaubten zeigt und definiert, die grenzen des notWENDIGEN (und der not?) aufzeigt, damit nicht so leicht alles und damit (wir) alle unnotwendig werden kann/können, weil sich die grenze immer mehr in richtung wert im sinn von verwertung verschiebt.

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