FORVM, No. 93
September
1961

Vom Schrecken des Wohlfahrtsslaates (II)

Notizen über die Zusammenhänge von sozialer Sicherheit und Charakter
voriger Teil: Vom Schrecken des Wohlfahrtsstaates

Aus dem gleichen Komplex erklärt sich der überraschende Zustrom vieler, auch politisch wenig interessierter Menschen zu den sogenannten Massenparteien. Die Massenpartei dient erstens als unerläßlicher Mittler zwischen dem Einzelindividuum und der gesteigerten Staatsmacht; zweitens bietet sie Schutz vor den Schwankungen und Unsicherheiten des sozialen Lebens; drittens ist sie Ersatz für die heute verschwundene Nachbarschaft früherer Zeiten. Dem Italiener steht zumeist nur die Wahl zwischen der lokalen KPI-Sektion und der Pfarre offen; die Sektion der Democrazia Cristiana, die kalt und abweisend wie ein Staatsamt ist, zählt nicht; arme Teufel, die zur DC kommen, werden fast immer von der Pfarre dorthin geschickt. Viele Italiener verstehen es, ohne Schwierigkeiten den Besuch der Pfarre und der kommunistischen Stamm-Osteria miteinander in Einklang zu bringen. Andere wiederum teilen einfach die Familie auf die rivalisierenden „ErsatzNachbarschaften“ auf. Natürlich kann hinter einem solchen Verhalten kein Interesse für ideologische Fragen oder Probleme des öffentlichen Lebens vermutet werden. Dennoch sind es gerade diese Mitglieder — und nicht die gebildeten Eliten —, die den Massenparteien ihre Stabilität sichern.

Das Proletariat wird neureich

Die Apostel der politischen Moral haben, wie mir scheint, über derlei Erfahrungen zu wenig nachgedacht. Sooft die Führung einer Massenpartei in eine Krise gerät, ist das Durchschnittsmitglied nur darum besorgt, sich auf die Seite der Majorität zu schlagen, wer immer diese repräsentiert. Anderseits wird das Parteivolk sofort mißtrauisch, wenn es bemerkt, daß die Schlagkraft der Partei im Schwinden begriffen ist und die Mitgliedschaft nicht mehr die bisherigen Vorteile bietet. Jede umsichtige Massenpolitik wird somit zuerst einmal die eigene Macht in den Vordergrund stellen und bei jeder Gelegenheit zeigen, daß sie sich des Endsieges sicher fühlt. Nach der ungarischen Volkserhebung im Herbst 1956 zeigten sich in den Reihen der KPI Ansätze zu einem größeren Mitgliederabfall, doch war dies bloß die Folge jener ersten Eindrücke, die den Anschein erweckten, als wäre das kommunistische Imperium in seinen Grundmauern erschüttert. Mit dem siegreichen Vordringen der sowjetischen Panzer — mit jener Unterdrückung, die ihrerseits an das Gewissen einer bescheidenen Anzahl „kleinbürgerlicher“ Intellektueller rührte — gewann die Partei ihre Geschlossenheit wieder.

Gewiß erinnert man sich noch an die weltweite kommunistische Agitation gegen die Atombombe, solange Rußland keine besaß. Mit ähnlichem Lärmaufwand wurde für inneritalienische Zwecke die pittoreske Kampagne der KPI gegen die sogenannten „Forchettoni“ (großen Löffel) geführt, gegen die macht- und geldhungrigen Honoratioren der Democrazia Cristiana. Beide Kampagnen wurden sofort beendet, als sich herausstellte, daß sie das gerade Gegenteil des Erwarteten bewirkten. Im einen Fall wuchs in den Volksmassen nicht bloß die Angst, sondern auch der Respekt vor den Amerikanern, im andern Fall nicht bloß der Neid, sondern wiederum auch der Respekt gegenüber den Führern der DC, was die Anziehungskraft dieser Partei steigerte.

Auf der Stufenleiter der wirtschaftlichen Entwicklung hat Italien in den letzten Jahren eine mittlere Position erreicht. Obgleich viele Leute immer noch von Italien als einem „traditionell armen“ Land reden, können andere das sogenannte „italienische Wunder“ nicht hoch genug preisen. Die Fortschritte der italienischen Wirtschaft sind in der Tat beachtlich und der Abstand zu den wohlhabenderen Ländern ist in bemerkenswertem Ausmaß verringert worden, wobei die Hebung des Standards nicht allen Regionen und allen Volksschichten gleicherweise zugutegekommen ist. Immerhin hat eine seltsame Euphorie auch viele Proletarier erfaßt. Man fühlt sich als neureich. Und die schwindelhafte Schaustellung nicht existenten Wohlstands vereint man auf sonderbare Weise mit der Vortäuschung von Not, um — unter welchem Rechtstitel immer — staatliche Hilfe zu erschleichen.

Die eindrucksvollste Dokumentation hiefür liefert die Monographie des Don Lorenzo Milani über seine einstige Pfarre San Donato bei Prato in der Toscana. In seiner Broschüre „Erfahrungen in der Seelsorge“, deren weitere Verbreitung durch das Heilige Offizium verboten wurde, schildert der Pfarrer, wie die Armen alles Erdenkliche tun, um die Reichen nachäffen zu können. Ihre größte Sorge besteht darin, der Öffentlichkeit nicht den Anschein der Armut zu bieten. Auch unverschuldete Armut gilt als Schmach. Wer Gelegenheit hat, einen Streit auf der Straße anzuhören, weiß, daß seit einiger Zeit die ärgste Beschimpfung — jene, die nach der Schmähung der Vorfahren, der Mutter und Schwester des Widerparts kommt, und auf die als ultima ratio die Schlägerei folgen muß — nunmehr lautet: „Du Verhungerter!“ Das ist die Kundmachung an die Öffentlichkeit, daß der andere arm ist, und Armut ist eine Schuld, für die es keine Vergebung gibt. Gleichwohl fährt man im ganzen Land fort, den heiligen Franziskus in unverminderter Ehrfurcht zu verehren.

Bertrand de Jouvenel, der all das sehr aufmerksam studiert, hat eine Stelle aus Engels’ „Anti-Dühring“ ausgegraben, an der eine enge Wechselwirkung zwischen der Dauer des Arbeitstages und der Teilnahme des Menschen an der Lösung der theoretischen und praktischen Probleme des öffentlichen Lebens festgestellt wird:

Bisher lassen sich alle historischen Antagonismen zwischen den Klassen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten, der Herrschenden und der Unterdrückten dadurch erklären, daß die Produktivität der menschlichen Arbeit noch nicht genügend entwickelt ist. Solange die mit materieller Arbeit befaßte Bevölkerung von dieser unerläßlichen Aufgabe sosehr in Anspruch genommen ist, daß ihr keine Zeit bleibt, sich mit allgemeinen gesellschaftlichen Angelegenheiten zu befassen — wie Leitung der Arbeit, Fragen des öffentlichen Lebens, juridische Probleme, Kunst, Wissenschaft usw. —, solange ist auch die Existenz einer von manueller Arbeit befreiten Sonderklasse notwendig gewesen, die sich dieser Aufgaben angenommen hat. Diese Klasse hat allerdings bei der Erfüllung ihrer Pflicht nie verabsäumt, zu ihrem eigenen Vorteil den arbeitenden Massen eine immer größere Arbeitslast aufzubürden. Erst die durch die Großindustrie bewirkte gewaltige Steigerung der produktiven Kräfte erlaubt nun, die Arbeit ausnahmslos auf alle Mitglieder der Gesellschaft aufzuteilen und solcherart die Arbeitszeit des einzelnen soweit einzuschränken, daß jedem genügend freie Zeit bleibt, um ihm die Beteiligung an den allgemeinen, theoretischen wie praktischen Fragen des öffentlichen Lebens zu ermöglichen. Heute sind wir nun also so weit, daß jede herrschende, ausbeutende Klasse überflüssig geworden ist, daß sie sogar ein Hindernis für die weitere gesellschaftliche Entwicklung darstellt. Und heute erst sind wir auch so weit, daß wir sie unerbittlich unterdrücken können.

Die Engels’sche Logik ist makellos, sie hat bloß den Fehler, daß sie nichts weiter als logisch ist. Freizeit ist ohne Zweifel eine Voraussetzung für die Teilnahme des Arbeiters oder Angestellten am öffentlichen Leben, aber sie ist — wie man heute leicht feststellen kann — weder die einzige noch die wichtigste Voraussetzung. Sie hat durchaus nicht zugereicht, um jenes utopische Ziel der Sozialisierung der schöpferischen Arbeit von Denkern, Wissenschaftlern und Künstlern zu verwirklichen, ja, sie hat nicht einmal eine lebhaftere Anteilnahme der Allgemeinheit am politischen Geschehen bewirkt. Weder der gesteigerte Wohlstand noch die Verkürzung des Arbeitstages haben dem politischen Leben in all seinen Abstufungen von der Partei bis zum Parlament den alten, oligarchischen Charakter genommen. Im Gegenteil, er hat sich verstärkt. Noch vor vierzig Jahren wäre es in Italien unvorstellbar gewesen, daß politische Parteien ihren Mitgliedern den finanziellen Rechenschaftsbericht einfach vorenthalten, heute ist er streng geheim.

Vor garnicht so langer Zeit, als der Arbeitstag in Industrie und Landwirtschaft zehn oder zwölf Stunden betrug, wurde der größte Teil der Arbeit in den Parteien — in den lokalen Sektionen, in den Provinzverbänden und in der Zentralleitung — freiwillig und unentgeltlich geleistet. Die Parteimitglieder opferten dafür ihre freien Stunden an Abenden oder Sonntagen. Damals trug die Parteiarbeit infolge der schärferen Trennung von Politik und Wirtschaft auch noch keine Pfründe ein. Heute haben zwar alle Parteimitglieder mehr Freizeit, aber sie lungern auf den Plätzen herum oder lassen sich vor den Fernsehapparaten mit Stumpfsinn vollaufen, während fast jegliche Betätigung in Parteien, Gewerkschaften oder kulturellen Vereinigungen entlohnt werden muß. Sogar die christlichdemokratischen und kommunistischen Buben, die Propagandaflugblätter auf den Straßen verstreuen und die Wände mit „Hoch“ und „Nieder“ beschmieren, machen diese Arbeit nur gegen Honorar.

Ein Gutteil der Kritik am moralischen Standard in den wohlhabenden Ländern geht darauf zurück, daß die Prophezeiungen der revolutionären Denker des vergangenen Jahrhunderts nicht eingetroffen sind. Damals bestand die zentrale Aufgabe der politischen Wissenschaft in der Ermittlung jener Bedingungen, unter denen der Mensch seine persönliche Freiheit am besten entfalten könnte; und der Wohlstand galt als eine solche Bedingung. Die Epigonen dieses Denkens begingen einen schweren Fehler, indem sie all das in deterministischem Sinn zuspitzten. Sie verkündeten schließlich die Illusion, das von ihnen proklamierte moralische Ziel werde sich automatisch als Resultat der ökonomischen Veränderungen einstellen. Freilich steckte dieser Fehler schon in den Grundprinzipien.

Die Ernüchterung ist überall anzutreffen — sowohl dort, wo die soziale Besserstellung auf reformistischem Weg im Rahmen überlieferter Strukturen erreicht worden ist, wie auch in jenen Ländern, in denen man den Staat von Grund auf neu aufgebaut hat. Daß die Ernüchterung dort geringer ist, mag darauf zurückzuführen sein, daß die Entwicklung dort langsamer fortschreitet, und damit auch die zugehörige Enttäuschung. Die von Technik und Demokratie bewirkte Erlösung von menschlichem Leid hat keine ihr entsprechende moralische Erneuerung zustandegebracht. Der alte Adam hat sich nicht kleinkriegen lassen.

Der Irrtum liegt nicht in den Hoffnungen der Pioniere der sozialen Emanzipation. Es war bloß falsch zu glauben, daß sich alle diese Hoffnungen einfach als Produkt von Konsumsteigerungen und institutionellen Veränderungen erfüllen würden. Die Wirklichkeit hat gezeigt, daß die Beziehung zwischen der menschlichen Freiheit und der auf sie einwirkenden Umwelt nicht im voraus definiert werden kann. Man fühlt sich zur Feststellung gereizt, daß in einer Zeit, die immer perfektere Maschinen entwickelt, gerade jene Maschinerie versagt hat, die durch Abschaffung des Elends verantwortungsbewußte und aktive Bürger hätte hervorbringen sollen.

Sprung ins Reich der Faulheit

Manches deutet darauf hin, daß auch die Pilger des neuen Mekka diese Tatsache zur Kenntnis genommen haben. Sie waren bisher gewohnt, die unerbittliche Realität ihrer Wahlheimat mit Hilfe von Traumbildern zu retouchieren. Sie kehrten von jeder Pilgerfahrt mit der Verkündigung der Geburt des neuen Menschen zurück. (Ein Psychoanalytiker hat sogar das Verbot der psychoanalytischen Literatur und Praxis in Rußland mit dem Argument gerechtfertigt, daß die Menschen in einem „sozialistischen“ Land ohnehin ihre Komplexe verloren hätten.) Seit nun Chruschtschew seine Bonzen in regelmäßigen Zeitabständen zu spektakulärer Selbstkritik zwingt, ist ein gewisser, im Ausmaß schwankender Realismus auch den bigottesten Anhängern in partes infidelium gestattet. Die Kluft zwischen Theorie und Praxis ist dort drüben derart skandalös, daß sie sogar den „Revisionisten“ Angst einjagt. Der alte Adam steht der neuen Umwelt gewiß nicht gleichgültig gegenüber. Aber er reagiert in vieler Hinsicht auf die neuen Bedingungen einfach anders als erwartet.

Der berühmte Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit — die Konservativen fürchteten sich davor, als handelte es sich um den Sprung ins Reich der Finsternis — erweist sich immer deutlicher als Sprung in das Reich der Trägheit. Nicht nur die Wissenschaft, auch die Geschichte widerlegt nun die Spruchweisheit der Völker. Sie hatte uns — mit nur geringen Abweichungen in den einzelnen Sprachen — im wesentlichen gelehrt, daß zuerst das Fressen kommt, und dann die Moral. Heute ist es im Gegenteil so, daß der wohlfahrtsstaatliche Bürger — einschließlich des sozialdemokratischen oder kommunistischen Arbeiters — nach einem guten Essen nicht die Moral, sondern die Siesta begehrt. Gewiß mag es auch eine Moral der Siesta geben, aber es ist nicht jene, die man sich von der aus Not und kapitalistischer Ausbeutung befreiten Gesellschaft erwartet hatte.

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