FORVM, No. 108
Dezember
1962

Vom falschen „Spiegel“-Bild

Notizen über Zusammenhänge zwischen Journalistik, Politik und Kunst

Als Oscar Fritz Schuh uns ankündigte, er wolle dem FORVM einen Beitrag — ja, worüber? — über die „Spiegel“-Affaire liefern, wußten wir, daß dies etwas Besonderes werden mußte. Einer der Bedeutendsten des deutschsprachigen Theaters der Gegenwart würde anders darüber schreiben als die ungezählten Berufenen wie Unberufenen, die bis dahin schon darüber geschrieben hatten. Wir haben uns, wie die Leser sehen werden, nicht getäuscht. Gerade die phantasievolle Unsystematik, mit der Prof. Schuh sich seinem Thema nähert, indem er sich von ihm entfernt, sichert die richtige Perspektive. Es geht ihm um viel mehr als um den „Spiegel“. Ging’s nur um diesen, hätte er nicht geschrieben. So jedoch schrieb er als Berufener.

Wie um die Probe aufs Exempel zu machen, daß unsre „engagierte Literatur“ kein echtes Spiegelbild der Realität ist, hat sich in den letzten Wochen ein Vorfall ereignet, der zeitweilig die Vorgänge der großen Politik in den Schatten zu stellen schien.

Der Bannfluch, mit dem eine Regierung ein Nachrichtenmagazin belegt hat, war die Ursache eines Kampfes, für den die „engagierten“ Intellektuellen bereit waren, in den Kerker und aufs Schafott zu gehen. Der Irrtum beider Streitparteien ist ein Irrtum in der Epoche. In der Demokratie kommt der Politiker, der einen Fehler begangen hat, nicht vor ein Hinrichtungskommando, sondern er muß bestenfalls seinen Zylinder nehmen und gehen. Und der Rebell, für den das Nachrichtenmagazin inzwischen die Bedeutung des Korans angenommen hat, wird nicht in Ketten geworfen wie dereinst Schubarth.

Die Kämpfe werden auf dem Papier ausgetragen. Wenn ich prophezeien darf, werden beide Streitparteien mit einem Pyrrhussieg aus der Angelegenheit herausgehen.

Ein nun zurückgetretener Minister, der früher kraft seines Amtes die Bezeichnung „Kriegsminister“ getragen hätte, heute aber, in der Welt des totalen Friedens, einen euphemistischen Titel führt, hat sich in die Rolle eines Nero manövrieren lassen. Ich kenne diesen Minister nicht, ich kenne auch keine Angestellten seines Ministeriums, vermag also nicht, in dem Streit, der um ihn entbrannt ist, Partei zu ergreifen. Ich glaube nur, daß er als su für die Demokratie nicht richtig ist. Die Parteien-Demokratie braucht den farblosen, äußerlich korrekten und völlig gesichtslosen ManagerTyp. Der Minister in der Demokratie soll verwalten, soll geräuschlos funktionieren, aber er soll nicht auffallen.

Wenn man erfahren hat, wie z.B. die gut funktionierenden Vertreter der Kommunalverwaltungen aussehen, weiß man auch, daß ein dynamischer, emotioneller Typ heute keine Chancen hat.

Wahrscheinlich ist der Minister, um den es hier geht, in die falsche Zeit und in den falschen Staat hineingeboren worden. Und wenn eine spätere Epoche einmal, in Form einer Satire, die „Geschichte vom verlorenen Spiegel-Bild“ schreiben wird, so wird sich überraschenderweise herausstellen, daß die Gegner in ihrem Wesen und in ihrem Charakter sich gar nicht sehr unterscheiden. Aus späterer Sicht gleichen sich die Kontraste wieder aus. Wilhelm II. und Maximilian Harden — wo ist da noch der Unterschied?

Nicht ohne Schadenfreude stellt der unbeteiligte Betrachter fest, daß der Kampf entbrannt ist zwischen den beiden Mächten, von denen er sich am meisten bedroht fühlt: den Mächten der Politik und den Mächten des Journalismus.

Politiker könnten nicht zur Macht kommen, wenn es nicht Journalisten gäbe, die ihnen den Weg nach oben bahnten. Gerade in der Parteiendemokratie muß ein Politiker „aufgebaut“, seinen Wählern schmackhaft gemacht werden, damit er überhaupt jenes Maß von Popularität sich erwerben kann, ohne das eine Berufung an die Spitze nicht möglich wäre.

Und der Journalist wiederum weiß, daß er solchen „Stoff“ braucht, damit morgen die Spalten der Zeitung gefüllt sind. Er wird also in jedem Fall — und das ist sein Berufsgeheimnis — die Themen dort suchen und finden, wo sie sich ihm anbieten. Ein berühmter Journalist hat mir einmal gesagt: „Finden Sie es nicht merkwürdig, daß an jedem Tag in der Welt gerade so viel passiert wie in einer Zeitung Platz hat?“

Damit ist Glanz und Elend eines Metiers ausreichend beschrieben.

Der Politiker in der Parteiendemokratie, einmal durch Propaganda an die Spitze gelangt, kann nur dann seinen Platz halten, wenn er ebenso unangreifbar wie unauffällig seines Amtes waltet. Der Journalist wiederum kann nur dann seinen Beruf ausfüllen, wenn er zu möglichst vielen Fragen des Tages Stellung nimmt. Dazu ist es unumgänglich, daß er Leute angreift, daß er Polemik entfesselt. Dies könnte für ihn nur dann gefährlich werden, wenn er gewisse Behauptungen zu widerrufen gezwungen wird. Daher müssen seine Thesen so formuliert sein, daß ein Widerruf nutzlos ist. Die Angriffe gegen Leute, die in prominenten Stellungen, sei es in der Politik, sei es in der Kultur, tätig sind, erfolgen denn auch in den meisten Fällen mit einer gewissen Glätte und Unverbindlichkeit. Selten hat man Leute so massiv und gleichzeitig so unverbindlich angegriffen, wie dies heute üblich ist.

Die übrigen Menschen aber, die Kranke heilen, Häuser bauen, Bilder malen, Autos fabrizieren, am Schreibtisch oder am Schraubstock arbeiten, haben die nachweisbare Arbeit zu leisten, ohne die ein Staatsgefüge nicht aufrechtzuerhalten wäre. Was würde der Politiker machen, wenn diese Leute nicht arbeiteten? Was würde der Journalist machen, wenn diese Berufe nicht existierten? Nimmt es da noch wunder, wenn Journalismus und Politik die beiden Berufe geworden sind, die suspekt erscheinen und von denen sich der Betrachter wechselweise bedroht fühlt?

Welche Möglichkeiten hat der Staat, um mit unbequemen Journalisten fertig zu werden? Die bequemste Lösung: den Journalismus nicht zur Kenntnis zu nehmen, ist nicht die glücklichste. Das haben wir in den vergangenen Wochen erlebt.

Welche andern Möglichkeiten stehen offen?

Der Staat kann zunächst alle Rechtsmittel einsetzen, die ihm zur Verfügung stehen, wenn ein journalistisches Produkt nicht in den Grenzen bleibt, die er vorzuschreiben wünscht. Läßt man ein Organ unbeachtet, kümmert man sich nicht darum, zu welchem Grad von Popularität es aufgestiegen ist — dann darf man sich nicht wundern, wenn ein verspätetes Einschreiten nicht gerade freudig begrüßt wird.

Will ein Journalist sich Beachtung und Anerkennung erzwingen, gibt es für den Staat mehrere mögliche Reaktionen. Die erste: er beherzigt die Anregungen, die der Journalist gibt, fügt sie produktiv in sein Programm. Das wird dem kritisierenden Journalisten schmeicheln und ihm die Überzeugung geben, daß seine Aufsätze gelesen werden. Hat er hingegen das Gefühl, daß sie von der Regierung nicht gelesen werden, so wird er übel reagieren. Nicht zur Kenntnis genommen zu werden, ist das schlimmste, was einem Journalisten passieren kann.

Die zweite Möglichkeit wäre, den betreffenden Journalisten dadurch für sich zu gewinnen, daß man ihn mit Prädikaten oder gar mit einem Orden auszeichnet. Er ist dann zur Rolle eines legitimen Kritikers emporgestiegen, wird zum echten Partner der Regierung, und da er mit einem Geschenk bedacht worden ist, das ihn auf Regierungsebene stellt, wird er sich bei seinen Angriffen künftig schwerer tun.

Will er vom Staat nicht anerkannt werden, macht er von der Möglichkeit, ein offiziell akkreditierter Kritiker zu sein, keinen Gebrauch, dann gibt es als drittes die Möglichkeit, ihn zu isolieren. Gerade das wurde derzeit in Deutschland auf sträfliche Weise versäumt. Man hat im Gegenteil den ganzen Journalismus von ganz links bis ganz rechts über Nacht gegen sich vereinigt.

Die vierte Möglichkeit besteht darin, die Praxis des braven Soldaten Schwejk zu übernehmen; nämlich die Ratschläge ad absurdum zu führen, indem man sie so getreu wie irgend möglich befolgt. Leider sind die meisten der heute unternommenen Angriffe in der Regel hiefür zu wenig konkret. Auf kautschukartige Angriffe wird man nur kautschukartig reagieren können. Wo es nichts festzustellen gibt, gibt es auch nichts zu dementieren. Wo Stimmungen und Gefühle zur Diskussion stehen, ist es schwer, mit Fakten zu widerlegen.

Dem Journalisten vorzuwerfen, er wolle mit seiner Tätigkeit Geld verdienen, ist hingegen keine Kritik an seinem Metier; denn es ist ja sein Beruf, Journalist zu sein und damit sein Brot zu verdienen. Auch der Chirurg bereichert sich, wenn er einen Blinddarm herausschneidet. Auch der Advokat muß für seine Verteidigungsrede honoriert werden, wenn er nicht von reichen Eltern ist.

Ein Journalist ist kein Spion; ihn muß von Berufs wegen alles interessieren, was nur im geringsten greifbar ist. Bei der chronischer Uninformiertheit der meisten Zeitungen wird er es ohnedies nicht schwer haben, denn dadurch, daß so viel falsche Nachrichten erscheinen, kann gar nicht so viel dementiert werden, wie dementiert werden müßte.

Es ist also nicht in jedem Fall wichtig, daß der Journalist den Wahrheitsbeweis antreten kann; die Regierung, bei der Vielzahl der veröffentlichten halben Wahrheiten, wird ihn gar nicht in jedem Falle verlangen. Sie hätte sonst von früh bis nachts nichts anderes zu tun.

Eine staatliche Institution hat genau zu wissen, welchen Angriff sie sich gefallen lassen muß und welchen sie sich auf keinen Fall gefallen lassen darf. Schweigt sie zu einem oder mehreren Angriffen, die sie mit aller Schärfe zurückweisen müßte, darf sie sich nicht wundern, wenn sie die Gelegenheit zur Intervention eines Tags endgültig versäumt hat.

Ein Minister ist auch nur ein Mensch. Von ihm kann nicht verlangt werden, daß er jedes Aktenstück, das er unterzeichnet, genau durchliest. Dennoch trägt er die Verantwortung dafür. Hat er also ein ihn belastendes Schriftstück leichtsinnigerweise unterzeichnet, so bleibt ihm nur übrig, jenen, die ihm dieses Schriftstück vorgelegt haben, den Kopf zu waschen. Haftbar ist er in jedem Falle. Ist die Frage der Korruption wieder einmal akut, so schlage ich vor, auf dieses Thema nicht mehr allzu ernsthaft zu reagieren, denn es hat sich inzwischen zu Tode gelaufen. Unsere Behörden passen mörderisch auf, daß hier nichts passiert, und am besten erkundigt man sich, bevor man sich irgendwo zum Essen einladen läßt, ob dies auch statthaft sei. Wenn mir z.B. eine Schallplattenfirma zu Weihnachten eine Platte schenkt, frage ich bei meiner vorgesetzten Behörde an, ob ich das akzeptieren darf.

Die Auflage einer Zeitung wächst, wenn sie einen Korruptionsskandal entdeckt. Hat der Korruptionsskandal nicht stattgefunden, bleibt an den Beschuldigten trotzdem etwas hängen, während die Zeitung, die den Skandal fälschlicherweise behauptet hat, meist straffrei ausgeht. Im Endeffekt. Denn morgen ist es ja vergessen, und dann kann man nichts mehr nachweisen.

Leute in Spitzenstellungen zu verdächtigen, ist allemal richtig, denn auf diese Stellungen konzentrierten sich das Interesse und der Neid der andern, die solche Stellungen nicht haben; und wo Neid herrscht, ist guter Boden für den Journalismus.

Man sieht aus all dem, daß die Parteiendemokratie keineswegs jenes ideale Staatsgebilde ist, das begeisterte Verehrer dieser Form immer wieder in sie hineininterpretieren. Sie ist möglicherweise unter allen Staatsformen, die heute zur Verfügung stehen, die beste. Sie ist nur schon ein bißchen veraltet. Sie lebt im Grunde aus dem Fortschrittsglauben und hat ihre starken Wurzeln im 19., und leider nicht im moralgläubigen 18. Jahrhundert. Das erklärt die Grenzen ihrer Kapazität.

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