FORVM, No. 202/I
Oktober
1970

Unser hinkender Kapitalismus

Über die Misere der österreichischen Wirtschaftsgeschichte

Bemerkungen zu dem Buch „Wirtschafts- und Sozialgeschichte Österreichs“ von Ferdinand Tremel, Franz-Deuticke-Verlag, Wien 1969.

Hier soll nicht von der österreichischen Wirtschaftsgeschichte an sich, sondern nur von der Geschichtsschreibung die Rede sein. Friedrich Engels schrieb einmal in einem Brief an Franz Mehring, daß es eine unangenehme, wenngleich auch eine verdienstvolle Arbeit sei, sich durch den „Preußischen Geschichtswust“ durchzuarbeiten. [1] Fügen wir hinzu, daß der „österreichische Geschichtswust“ dem Chronisten ähnliche Schwierigkeiten und ähnliche Erfolgsperspektiven bietet.

Auch der österreichische Kapitalismus ist durch wirtschaftliche Rückständigkeit gekennzeichnet sowie durch die mehr oder minder stark ausgeprägte wirtschaftspolitische Zielsetzung, den Entwicklungsabstand gegenüber dem westlichen Ausland zu verkürzen oder gar zu schließen. Der österreichische Merkantilismus und Neomerkantilismus, der Liberalismus und der verschämte Keynesianismus, der bei uns in der Nachkriegszeit praktiziert wird — sie alle stehen im Zeichen des Ringens um die Überwindung des österreichischen Aschenbrödeldaseins unter den Industrienationen.

Man sollte meinen, daß sich dieses Thema unserer zünftigen Geschichtsschreibung als eine Art von Leitmotiv anbietet. Aber weit gefehlt. Die verhältnismäßig kleine Zahl von Werken, die uns eine Gesamtschau des österreichischen Kapitalismus vermittelt, beschäftigt sich nur gelegentlich und am Rande mit den besonderen Gesetzmäßigkeiten, die dem trägen Ablauf des österreichischen Wirtschaftsgeschehens zugrunde liegen. Dem Herzen unserer Historiker scheinen am nächsten die großen Persönlichkeiten zu liegen, die Landesfürsten, Staatsmänner und Politiker, und nicht zuletzt auch die Fabrikanten und Handelsherren.

Geschichte, und insbesondere Wirtschaftsgeschichte, ist ein Gegenstand, der vornehmlich von dem Tun und Treiben der Eliten handelt. In dieser Sicht sind Erfolg und Mißerfolg nichts anderes als die Taten und Unterlassungen der charismatischen Führer. Bodenschätze, Verkehrsverhältnisse, umstürzende technische Neuerungen, besondere politische Konstellationen, die sich aus der Konfrontation von Klassenkräften ergeben und so weiter, sind nur sekundäre Faktoren, denen man normalerweise nur einen bescheidenen Platz bei der Beschreibung einer historischen Formation einräumt.

Damit soll kein Pauschalurteil über die gesamte österreichische Wirtschaftsgeschichte abgegeben werden. In einem einleitenden Kapitel über „Die wirtschafts- und sozialgeschichtliche Forschung in Österreich“ unterscheidet Ferdinand Tremel zwischen zwei „Ausgangspunkten“ der Geschichtsforschung, zwischen der langesgeschichtlichen Forschung, die hauptsächlich in den einzelnen Ländern domiziliert ist, und zwischen der „allgemeinen, die in Wien zu Hause ist. In den Bundesländern sowie in Wien ist zweifellos sehr viel vortreffliche Arbeit in bestimmten, meist eng begrenzten Bereichen der Industrie-, Agrar-, Handels-, Verkehrs-, Bank- und Sozialgeschichte geleistet worden.

Ich glaube, es ist keine Übertreibung zu sagen, daß der überwiegende Teil dieser Arbeiten sich auf die mittelalterliche oder frühkapitalistische Wirtschaft bezieht. Fügen wir hinzu, daß sich die Schule Dopsch bei der Analyse der feudalen Wirtschaft einen hervorragenden Platz in der Historiographie gesichert hat. Allerdings ist in der Nachkriegszeit keine nennenswerte Studie in der Tradition von Dopsch mehr veröffentlicht worden.

Leider wird die Landesgeschichte sowie die allgemeine österreichische Wirtschaftsgeschichte zunehmend unergiebiger, wenn man sich der Entwicklungsetappe nähert, die mit dem Eintritt der ersten Industriellen Revolution beginnt. Zwar gibt es über die Frühzeit der Industrialisierung einige ausgezeichnete Monographien, von denen ich hier nur die Bücher von Slokar und Hallwich, und im übrigen auch von Tremel, [2] herausgreifen möchte.

Aber das Faktum bleibt bestehen, daß fundierte Studien über Teilaspekte der wirtschaftlichen Entwicklung in den beiden letzten Jahrhunderten überaus spärlich sind. Nur die Bankgeschichte ist einigermaßen gründlich aufgearbeitet worden, wobei ich hier das Pionierwerk von Fritz G. Steiner über das Mobilbankwesen in Österreich besonders hervorheben möchte, das bedauerlicherweise in dem Buch von Tremel nicht einmal genannt wird.

Systematische Studien über die Entwicklung einzelner Industrien, über die Währungs-, Geld- und Kreditpolitik, über die besonderen Erfahrungen, die sich aus der zoll- und handelspolitischen Union von Österreich-Ungarn ergaben und so weiter liegen nur in Ansätzen vor. Die Außenhandelsgeschichte ist in einigen Werken dargelegt, bricht aber noch vor dem Ende des 19. Jahrhunderts ab.

Erst in jüngster Zeit sind Versuche unternommen worden, die von mir angedeuteten Lücken systematisch zu schließen. Dies dürfte mit dem Umstand zusammenhängen, daß der reine Historiker, der bisher in dem Bereich der österreichischen Wirtschaftsgeschichte eine Art Monopolstellung innehatte, immer mehr von dem historisch orientierten Nationalökonomen abgelöst wird. Als geradezu bahnbrechend kann man die Arbeiten von Nahum Gross (Universität Jerusalem) bezeichnen, der es zum ersten Mal unternommen hat, Indizes der industriellen Entwicklung des 19. Jahrhunderts zu berechnen.

Dieser Versuch mag noch nicht völlig gelungen sein, aber er hat andere Wirtschaftshistoriker, namentlich den jungen amerikanischen Ökonomen Richard Rudolph, dazu angeregt, ähnliche quantitative Studien in Angriff zu nehmen.

Verdienstvoll sind ferner auch die Arbeiten von Prof. Brusatti und einigen seiner Schüler, die zum ersten Mal die Wirtschaftspolitik der österreich-ungarischen Monarchie in den letzten Jahrzehnten einer systematischen Analyse unterziehen.

Diese sehr unvollständige Übersicht sei nur noch dahin ergänzt, daß sich ein junger deutscher Gelehrter, Dr. Josef Wysocki, derzeit darum bemüht, die Finanzpolitik des Habsburgerreiches an Hand der Haushaltspläne gründlich zu durchleuchten.

Ferdinand Tremels großangelegte und verdienstvolle Studie steht an der Schwelle dieser neuen Entwicklung. Tremel ist mit einigen Pionieren der modernen „quantitativen“ Geschichtsschreibung recht gut vertraut. Er kennt die Standardwerke W. Rostows, E. Hobsbawms, W. G. Hoffmanns und anderer, die die englische und deutsche Wirtschaftsgeschichte hauptsächlich als „Fallstudien“ der frühen oder der verzögerten industriellen Entwicklung betrachten.

Auch bei Tremel wird das Problem des Nachhinkens der österreichischen Wirtschaft gegenüber dem Westen wiederholt angedeutet. Aber er kann sich begreiflicherweise in seiner allgemeinen Schilderung nicht über die unzureichenden österreichischen Quellen und Einzeldarstellungen erheben. Tremels Buch, das beinahe die gesamte einschlägige Literatur verarbeitet, wird so gleichsam zu einem Opfer der Rückständigkeit der österreichischen Wirtschaftsgeschichte.

Dennoch verdient die Leistung Tremels uneingeschränktes Lob, in das sogar ein Quentchen Bewunderung seitens des Rezensenten einfließt. Es ist wohl keine systematische und in sich geschlossene Wirtschaftsgeschichte unseres Landes und kann dies auch, wie ich glaube, unter den gegebenen Bedingungen kaum sein. Man ist versucht, Tremels Buch mit einem großartigen Mosaik zu vergleichen, in dem die einzelnen Elementarteilchen sich bei näherer Betrachtung als von sehr unterschiedlicher Qualität und Prägung erweisen.

Am besten sind wohl die Kapitel über die österreichische Industrie- und Agrargeschichte, wenngleich hier das persönliche Moment — nämlich das der individuellen Leistung — für meinen Geschmack zu sehr akzentuiert erscheint. Aber niemand darf gegen Tremel den Vorwurf erheben, daß er die Wirtschafts- und Sozialgeschichte vornehmlich in dem Lichte der in Österreich noch immer vorherrschenden idealistischen Geschichtsauffassung sieht. Er begreift sehr wohl, daß das eigentliche Ferment der Veränderung in den großen Kämpfen zwischen den sozialen Gruppen und Klassen zu suchen ist. Leider werden jedoch gerade diese Stellen des Buches etwas stiefmütterlich behandelt, was, wie bereits erwähnt, mit der Dürftigkeit der verfügbaren Einzelstudien zusammenhängen dürfte.

Man hat den Eindruck, daß das großartige Werk Tremels der Schlußstein einer langen vorbereitenden Phase der österreichischen Geschichtsschreibung ist. Für die Zukunft ist nun in steigendem Maße mit Arbeiten einer völlig anders gearteten Schule zu rechnen, in der es zu einer Symbiose zwischen Ökonomie und Geschichte kommen wird. Auf dieser Grundlage kann dann ein neuerlicher Versuch der Zusammenfassung und der Gesamtschau unternommen werden.

Für lange Zeit dürfte jedoch Tremels Werk der wichtigste Orientierungsbehelf für den jungen Historiker bleiben, der sich in dem Labyrinth der österreichischen Wirtschaftsgeschichte zurechtzufinden versucht.

[1Marx-Engels-Werke, Band 39, Berlin 1968, Seite 64.

[2Ferdinand Tremel, Der Frühkapitalismus in Innerösterreich, Graz 1954.

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