FORVM, No. 18
Juni
1955

Über die Machtlosigkeit des Literaten

Liebe Freunde!

Von dem bißchen Unsterblichkeit abgesehen, worauf dieser oder jener unter uns Anspruch erheben mag, sind wir — gestehn wir’s uns doch offen! — eigentlich recht lächerliche Figuren geworden; und das traurigste dran ist, daß wir’s durch eigene Schuld geworden sind. Seit den Tagen, zu denen Pindar, in seinen großen Hymnen, den griechischen Königen Ratschläge geben konnte, seit der Zeit, da Augustus um eine Lobpreisung bei Horaz gebuhlt hat, seit die Fürsten vor den Angriffen Aretins gezittert, seit Voltaire, Rousseau und Beaumarchais die Große Revolution in Frankreich mit heraufgerufen haben, ja sogar seit sich die Würdenträger unseres eigenen Staates und die Spitzen unserer Industrie noch vor den sogenannten „Sprachrohren der öffentlichen Meinung“ in acht nehmen mußten — welcher Absturz des geschriebenen Worts in die Tiefen blassester Bedeutungslosigkeit! Ich erinnere mich, daß eine hiesige Zeitung im Jahre 1947 zwei hohen, sogar sehr hohen Funktionären unseres Staates gemeine Vergehen vorgeworfen hat; sie ist nicht einmal einer Antwort, geschweige denn einer Richtigstellung gewürdigt worden. Und von wirklichen Angriffen seitens deutsch sprechender und deutsch schreibender Literaten ist uns nichts mehr zu Ohren gedrungen. In Frankreich oder Italien mag sich das anders verhalten. Wir selbst aber hüllen uns nur noch in ein Schweigen, das nicht vornehm, sondern lediglich der Ausdruck unserer Machtlosigkeit ist.

Dabei will ich die geistige Bedeutung des einen oder andern von uns sogar zugeben. Aber gerade diese geistige Bedeutung schließt in der Regel materielle Wirkung aus: je beachtlicher eine literarische Hervorbringung ist, desto unbeachteter wird sie bleiben, desto schwächer wird ihr Erfolg sein; wobei die Erfolgreichen unter uns sich über den geringen innern Wert ihrer Arbeiten damit hinwegtrösten mögen, daß Goethes „Werther“ zwar von Anfang an zahllose Auflagen erlebt hat, von der „Iphigenie“ hingegen während des ersten Jahres nach ihrem Erscheinen lediglich 7 (sieben) Exemplare abgesetzt werden konnten.

Doch nicht nur, daß wir selber politisch, wirtschaftlich und sozial nichts mehr zu melden haben, daß sich niemand mehr nach uns richtet, daß kein Hahn auch nur noch daran denkt, nach unsern Meinungen zu krähen; nicht nur, daß die meisten von uns von den Brosamen leben müssen, die von den Tischen unserer Abgeordneten oder unserer Industriellen fallen —: auch der Staat selbst, die Politik, die Wirtschaft entbehren der Kontrolle durch gefährliche oder wenigstens scharfe Federn. Wir sind nur noch Randverzierungen bei denjenigen Festen, die der Staat geben muß, weil sie sich beim besten Willen nicht vermeiden lassen. Wir sind nur noch Prologschreiber zu den Gedenkfeiern für längst verstorbene Klassiker (und haben damit schon manchem übermüdeten Mitgliede unserer Regierung in der ersten Reihe des Auditoriums zu wohlverdientem Schlummer verholfen). Aber zu den wirklichen Festen des Staates werden dann doch bloß die Bankpräsidenten, die Generaldirektoren und die Sektionschefs eingeladen. Oder wir feiern unsere Feste gar bloß auf das intimste unter uns selbst, wie zum Beispiel jetzt auf diesem PEN-Kongreß, zu welchem wir den staatlichen Zuschuß nur mit erheblich größeren Schwierigkeiten erhalten konnten, als irgendein Viehzüchterverein in Niederösterreich die nötigen Subventionen zur Auffütterung seiner vierbeinigen Lieblinge erhält. Dafür jedoch zahlt, wenn ich recht verstehe, die gesamte Bauernschaft Österreichs — die so notleidend ist, daß sie sich während der weltgeschichtlichen Katastrophen der letzten Jahrzehnte aufs weitestgehende sanieren konnte — praktisch viel zu wenig Steuern, während die Steuer, ihrerseits, von den paar Kröten selbst des armseligsten Literaten nicht heruntersteigt.

„Wehrunwürdig“ erklärt zu werden, war der Traum der meisten Wehrwürdigen im Dritten Reich. Im Vierten Reiche, oder wie man das, worin wir jetzt leben, sonst nennen will, haben wir Literaten es in Wahrheit zur Wehrunwürdigkeit gebracht. Wir besitzen keinen Einfluß auf unsere immer amusischer werdende Welt, wir verfügen über keine Kontrollore der öffentlichen Meinung, wir lassen uns jede Herabsetzung, jedes Unrecht bieten. Und wenn es uns etwa doch einmal beikommt, uns mit der Feder in der Hand zu verteidigen, so wird man uns weder Interesse noch gar Verständnis entgegenbringen, sondern wird unsern Standpunkt, und unsern Versuch, ihn zu wahren, im besten Fall als verschrobene Privatangelegenheit belächeln.

Nun entwickelt der moderne Staat, auch der nicht totalitäre, in steigendem Maße die Neigung, seine Bürger, auch und gerade die repräsentablen, wie Figuren auf einem Schachbrett zu bewegen. Braucht er auf einem bestimmten Felde eine bestimmte Figur, so weist er sie an, sich auf das betreffende Feld zu verfügen — und läßt sie fallen, sobald er sie nicht mehr braucht. Denn die Verpflichtung, sich einer nur zeitweise gebrauchten Figur dennoch ständig anzunehmen, wird von den nicht totalitären Staaten fast nie erfüllt (von den totalitären fast immer, und hier liegt ganz gewiß eine Ursache jener viel beklagten Anfälligkeit geistiger Repräsentanten für den totalitären Staat). Ist aber, wie uns gelehrt wird, der Staat tatsächlich für den Bürger da und nicht der Bürger für den Staat, so wird der Staat auch für die Geistigen da sein müssen, wenn sie seiner bedürfen. Es ist der entscheidende Fehler der Literaten, aus Eitelkeit stets zu kommen, wenn man ihnen pfeift — und wieder zu verschwinden, wenn man keinen Bedarf mehr nach ihnen hat.

Eine seltsame Begrüßung, lieben Freunde, eine mehr als eigentümliche Ansprache an die Mitglieder des PEN-Clubs, die sich in unserer Stadt zusammenfinden! Doch scheint sie mir immer noch aktueller als das weltabgewandte Thema, über welches aus dem Anlasse des Kongresses gesprochen werden soll. Es heißt — Sie würden’s nicht glauben, wenn Sie’s nicht wüßten — „Das Theater als Mittel dichterischen Ausdrucks“; und während wir über das Theater als Mittel dichterischen Ausdrucks reden werden, wird uns die Welt reden lassen und sich auch weiterhin über uns hinwegsetzen, die Honorare, die wir von den Zeitungen erhalten sollen, werden noch tiefer sinken, die Illustrierten werden uns unsere Beiträge zurückschicken und statt dessen irgendwelchen Mist drucken, die Steuer wird fortfahren, uns Zahlungsaufforderungen zuzustellen, die Spitzen unseres Staates werden sich nicht mit uns, sondern mit dem Osthandel befassen, und die Industrie, die nach dem Osten liefert, wird uns mit der Begründung, daß wir unter östlichem Einfluß stünden, ihre finanzielle Hilfeleistung sauer machen. Wir sollten also, weiß Gott, andre Sorgen haben, als zu untersuchen, ob das Theater in der Tat ein Mittel dichterischen Ausdrucks ist oder nicht.

Wir sollten, zum Beispiel, darüber beraten, wie wir’s anstellen könnten, daß man uns nicht länger für unnütz und langweilig hält. Wir sollten uns nicht, bei feierlichen Anlässen dann und wann, mit schönen Worten abspeisen lassen, noch sollten wir selbst mit schönen Worten zu solcher Art der Abspeisung beitragen. Nur wenn wir wirklich wieder notwendig, wirklich wieder spannend, vor allem aber etwas gefährlicher werden, wird man uns wieder etwas mehr respektieren, als es in der Tat geschieht.

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