FORVM, No. 23
November
1955

Über den Autoritätsbegriff

Ein Versuch zur Unterscheidung von „autoritär“, „tyrannisch“ und „totalitär“

Plato, Rom und die Kirche

Der Autoritätsbegriff ist, wie das Wort selbst, römischen Ursprungs. Weder die griechische Sprache noch die vielfältigen politischen Erfahrungen der altgriechischen Geschichte kennen ihn. Am nächsten kam griechisches Denken dem Begriff der Autorität in Platos politischer Philosophie, wo dieser, ohne sich dessen bewußt zu sein, der Wirklichkeit des griechischen Polis-Lebens eine Tyrannei der Vernunft gegenüberstellt. Die Begründung dieser Philosophie ist politisch; sie wurde veranlaßt durch die Feindseligkeit der Polis gegenüber der Philosophie, wie sich im Prozeß des Sokrates gezeigt hatte. Daß Plato auf seiner Suche nach Autorität zur Errichtung einer Tyrannei gelangte — denn eine Tyrannei der Vernunft ist nicht minder tyrannisch als eine Tyrannei des Willens und der Macht —, liegt daran, daß seine Erfahrungsgrundlage völlig negativ blieb. Politisch bedeutet seine Philosophie die Rebellion des Philosophen gegen das Polis-Leben und verkündete seinen Herrschaftsanspruch, aber nicht zugunsten der Polis und der Politik, sondern zugunsten der Philosophie und der Existenz des Philosophen.

Platos Tyrannei der Vernunft ist völlig utopisch darin, daß ihr niemals eine Realität oder irgendwelche politischen Erfahrungen entsprochen hätten. Wegen dieses utopischen Charakters könnten wir diese frühere Gleichsetzung von Autorität und tyrannisch gewordener Vernunft übergehen, hätten nicht die Römer ihren eigenen, völlig andersartigen Autoritätsbegriff mit Hilfe der griechischen Philosophie und im Lichte von Platos Begriffen betrachtet. Diese merkwürdige Mißdeutung wurde ihrerseits zu einer Tatsache allerersten Ranges in der abendländischen Geschichte, die, nah dem Falle Roms, christlich-religiöse Erfahrungen in der Art der römischen Tradition und damit im Lichte griechischer Philosophie umdeutete.

Im Mittelpunkt des gesamten spezifisch römischen Staatsdenkens steht die Überzeugung, daß die Gründung der Stadt als bindende Kraft allen zukünftigen Generationen heilig sein müsse. Autorität lag bei denen, die etwas begründet hatten, die die Fundamente eines neuen Anfangs gelegt hatten, also bei den Ahnen, von den Römern maiores, die Größeren, genannt. Aus dem gleichen Grunde wurde die Tradition heilig, wie sie es nie in Griechenland gewesen war; denn sie bewahrte und überlieferte die Autorität, das Zeugnis der Ahnen, die bei der Gründung gegenwärtig waren, ja diese unternommen hatten. Religion, Autorität und Überlieferung wurden so untrennbar und drückten als Dreiheit die geheiligte bindende Kraft des richtunggebenden Anfangs aus, an den jeder durch die Stärke der Tradition gebunden war. Diese römische Dreiheit überlebte die Umformung der Republik in ein Kaiserreich, schlug Wurzeln, wohin sich auch immer die Pax Romana verbreitete, und ließ alles das entstehen, was schließlich als abendländische Kultur Gestalt annahm.

Die volle Stärke des römischen Geistes oder der Idee der Gründung als eines zuverlässigen Fundaments für die Errichtung politischer Gemeinschaften zeigte sich erst nach dem Fall des römischen Imperiums, als die junge christliche Kirche, politisch wie geistig Roms Erbin, in der Tat völlig römisch wurde. Von Konstantin dem Großen noch vor dem Fall Roms zu Hilfe gerufen, konnte sie die stark anti-politischen und anti-institutionellen Züge des christlichen Glaubens überwinden, die im Neuen Testament so klar hervortreten. Das Fundament, auf dem sie als öffentliche Einrichtung ruhte, war nicht mehr einfach der christliche Glaube an die Auferstehung oder der hebräische Gehorsam gegenüber Gottes Geboten, sondern das einmal gegebene Zeugnis von Jesus Leben, Tod und Auferstehung als eines geschichtlichen Ereignisses.

Mit der Wiederholung der Gründung Roms in der Gründung der katholischen Kirche ging die große römische Dreiheit von Religion, Autorität und Tradition in das christliche Zeitalter über. Seit dieser Zeit hat der Zusammenbruch einer dieser Komponenten der römischen Dreiheit, der Religion, der Autorität oder der Tradition, zwangsweise den Fall der beiden anderen mit sich gebracht. Luther irrte, wenn er glaubte, daß sein Angriff auf die weltliche Autorität der Kirche Tradition und Religion unberührt ließe. Ähnlich irrten Hobbes und die Staatstheoretiker des siebzehnten Jahrhunderts in der Hoffnung, daß nach Abschaffung der Tradition Autorität und Religion unangetastet bleiben könnten. Der Irrtum der Humanisten war es schließlich, zu glauben, man könne ohne Religion und ohne Autorität innerhalb der Kontinuität der abendländischen Überlieferung bleiben.

Autoritätsfeindliche Gegenwart

Der Aufstieg faschistischer, kommunistischer und anderer totalitärer Bewegungen und die Entwicklung der beiden totalitären Regime, die wir kennen — Stalins Herrschaft nach 1929 und die Hitlers nach 1938 — vollzogen sich vor dem Hintergrund eines umfassenden, mehr oder minder dramatischen Zusammenbruches aller in der Tradition begründeten Autoritäten, in einer politischen und sozialen Atmosphäre, in der die Rechtmäßigkeit jeglicher Autorität grundsätzlich angezweifelt wurde. Diese Atmosphäre des Zweifels kennzeichnet unser Jahrhundert von seinen Anfängen an und äußert sich am deutlichsten im allmählichen Niedergang jener Form der Autorität, die es in allen aus der Geschichte bekannten Gesellschaftsformen gegeben hat: der Autorität der Eltern über ihre Kinder, der Lehrer über ihre Schüler und, ganz allgemein, der älteren über die jüngere Generation. Selbst die am wenigsten „autoritären“ Regierungsformen haben diese Art der Autorität als selbstverständlich anerkannt. Und nirgendwo kündigt unser Jahrhundert seinen autoritätsfeindlichen Geist radikaler an als darin, daß es die Emanzipation der Jugend als einer unterdrückten Klasse betrieb und sich „das Jahrhundert des Kindes“ nannte. Folgerichtig ist auch der Neokonservatismus, der in den letzten Jahren eine überraschend große Anhängerschaft gewonnen hat, zunächst auf kulturelle und erzieherische, nicht auf politische oder soziale Fragen gerichtet; er reagiert unmittelbar auf die Ausschaltung der Autorität aus den Beziehungen zwischen Alt und Jung, Lehrern und Schülern, Eltern und Kindern.

Angesichts dieses allgemeinen Niedergangs der Autorität, der bis zur Vernachlässigung offensichtlich naturgegebener Notwendigkeiten reicht, war ein Aufstieg authentisch autoritärer Regierungsformen in unserem Jahrhundert nicht zu erwarten. Es muß gleich hier vor dem Irrtum gewarnt werden, tyrannische Regierungsformen, die durch Befehl und Anordnung regieren, als autoritär anzusehen. Zwar hat unser Jahrhundert eine ganze Anzahl von Spielarten der Tyrannis und der Diktatur gesehen — zu denen auch die faschistischen und frühen kommunistischen Arten des Einparteiensystems zählen —, aber diese unterscheiden sich in ihren Einrichtungen, im Organisationstyp und in der politischen Zielsetzung gleicherweise von autoritären wie von totalitären Gebilden.

Tyranneien und autoritäre Regierungsformen sind sehr alt; die Tyranneien gehen auf das griechische Altertum zurück, die autoritären Regierungsformen haben ihren Ursprung im Geist der römischen Republik. Neu ist lediglich die totalitäre Herrschaft, so neu wie der Ausdruck selbst, und neu der Anspruch auf totale (nicht nur politische) Beherrschung. Unsere Kenntnis dieser Form ist noch sehr beschränkt, denn die einzige ihrer Spielarten, die unseren Forschungen offensteht und für die uns in den letzten Jahren verläßliches Dokumentenmaterial zugänglich wurde, ist das Hitlerregime. Und diese Beschränkung verleitet uns dazu, die jüngste Staatsform unserer Geschichte mit begrifflichen Hilfsmitteln zu untersuchen, die wir aus früher gemachten Erfahrungen kennen oder ableiten. Durch eine solche Gleichsetzung des Totalitarismus mit der Tyrannis einerseits und mit dem Autoritarismus anderseits verlieren wir aber gerade jene Kennzeichen und Einrichtungen aus den Augen, die spezifisch und ausschließlich „totalitär“ sind.

Die Gleichsetzung des Totalitarismus mit dem Autoritarismus taucht am häufigsten bei den liberalen Denkern auf, die von der Annahme ausgehen, daß die „Stetigkeit des Fortschrittes ... in Richtung organisierter und gesicherter Freiheit die kennzeichnende Tatsache der modernen Geschichte“ [1] sei, und die Abweichung von dieser Entwicklung als reaktionären Vorgang in entgegengesetzter Richtung ansehen. Dabei lassen sie außer acht, daß es grundsätzliche Unterschiede gibt zwischen der Beschränkung der Freiheit unter autoritären Regimen, der Aufhebung politischer Freiheit in Tyranneien und Diktaturen, und der völligen Ausmerzung der Spontaneität des Handelns, d.h. jener Unmittelbarkeit, die wir als elementarste Ausprägung der menschlichen Freiheit kennen. Nur die totalitären Regime zielen durch verschiedene Methoden der Menschenformung auf diese Ausmerzung hin. Denn Terror und Konzentrationslager sollen nicht so sehr Furcht erzeugen, als vielmehr Menschen in einem bestimmten Sinne formen. Die autoritäre Regierung hingegen, die sich zu einer Beschränkung der Freiheit bekannt hat, bleibt dennoch an die (von ihr selbst beschränkte) Freiheit gebunden und würde ihr eigentliches Wesen verleugnen, wenn sie die Freiheit ganz abschafft, also zur Tyrannis wird.

Der liberale Irrtum

Hinter der liberalen Gleichsetzung des Totalitarismus und Autoritarismus und der damit verbundenen Neigung, in jeder autoritären Freiheitsbegrenzung „totalitäre“ Züge zu erblicken, verbirgt sich eine ältere Verwechslung von Autorität und Tyrannei, von rechtmäßiger Macht mit willkürlicher Gewalt. Der Unterschied zwischen tyrannischer und autoritärer Regierung bestand immer darin, daß der Tyrann nur gemäß seinem eigenen Willen und seinen Interessen herrscht, während selbst die drakonischeste autoritäre Herrschaft noch an Gesetze gebunden ist. Ihre Handlungen lassen sich an einem Kodex überprüfen, der entweder gar nicht von Menschenhand stammt (wie im Falle des Naturrechtes oder der Zehn Gebote oder der Platonischen Ideen), oder zumindest nicht von den gegenwärtigen Machthabern aufgestellt wurde. Die Quelle ihrer Autorität ist stets eine Kraft, die außerhalb des politischen Bereiches liegt und von der die Obrigkeit ihre Rechtmäßigkeit ableitet.

Die modernen Befürworter der Autorität weisen natürlich eifrig auf den Unterschied zwischen Tyrannei und Autorität hin. Wo der Liberale einen im wesentlichen gesicherten Fortschritt auf die Freiheit hin sieht, der nur zeitweise durch dunkle Kräfte der Vergangenheit unterbrochen wird, dort sieht der Konservative einen Verfallsprozeß, der mit dem Schwinden der Autorität begann und der die Freiheit — nachdem sie einmal die Beschränkungen aufgab, die ihre Grenzen sicherten — hilflos dem Untergang preisgibt. Die Unterschiede zwischen Tyrannei und Diktatur einerseits und totalitärer Herrschaft anderseits sind aber nicht weniger ausgeprägt, als die zwischen Autoritarismus und Totalitarismus. Die sprichwörtliche Friedhofsruhe, mit denen die Tyrannen (von den Beherrschern antiker Stadtstaaten bis zu den modernen Diktatoren) ihre Länder überzogen, nachdem sie jede organisierte Opposition unterdrückt und alle wirklichen Feinde ausgemerzt hatten, ist noch nie den Untertanen eines totalitären Regimes zugute gekommen.

Terror und Totalität

Moderne Einparteien-Diktaturen gleichen den Tyranneien darin, daß ihre Herrschaft auf Parteien, nicht auf Bewegungen beruht. Zwar brachte bei den meisten faschistischen Diktaturen eine Bewegung den Diktator an die Macht; das Wesentliche ist jedoch, daß nach der Machtergreifung diese Bewegung zu einer Partei umgeschmolzen wurde. Die klar ausgesprochene und oft wiederholte Kritik der Nazi gegen Mussolini und den italienischen Faschismus, wie auch ihre nicht minder klare Bewunderung für Stalin und den Bolschewismus der stalinistischen Ära, kreist immer um diesen entscheidenden Unterschied zwischen Parteidiktatur und totalitärer Bewegung. An Stelle der brutalen Entschlossenheit des Tyrannen und der demagogischen Fähigkeit des Diktators, um jeden Preis an der Macht zu bleiben, finden wir die Aufmerksamkeit des totalitären Führers einseitig auf die Beschleunigung der Bewegung gerichtet. Hierin liegt das Wesen nicht nur der stalinistischen Säuberungswellen, sondern auch des nazistischen Ausleseprozesses, der nie zum Stillstand kommen darf und der vor allem dadurch gekennzeichnet war, daß er nur als Ausmerzungsprozeß wirken konnte (im Nazijargon bedeutete Auslese und Ausmerzung dasselbe).

Eng hiemit verbunden ist die scheinbar sinnlose Anwendung des Terrors in totalitären Regimen, die deren auffälligsten Unterschied von modernen wie vergangenen Diktaturen und Tyranneien darstellt. Der Terror dient nicht mehr dazu, Gegner in Furcht zu setzen und zu unterdrücken, sondern nimmt im Gegenteil mit der Abnahme der Opposition zu, erreicht seinen Höhepunkt, wenn keine Opposition mehr vorhanden ist, und richtet seine volle Wucht nicht so sehr gegen politische Feinde wie gegen Menschen, die selbst vom Standpunkt des Unterdrückers aus unschuldig sind. Nur die Kategorie der sogenannten „objektiven oder potentiellen Feinde“, d.h. der Menschen, welche kein Verbrechen begangen haben, aber gewisse objektive Merkmale aufweisen, die plötzlich für „verbrecherisch“ erklärt werden können, liefert genügend Menschenmaterial für „Säuberungen“ oder „Ausmerzungen“, um die Bewegung in ihrer ununterbrochenen, beschleunigten Entwicklung zu erhalten. Alle diese Maßnahmen rechtfertigt der totalitäre Führer damit, daß sie um der Freiheit willen nötig seien. Er ist nicht gegen die Freiheit, er will sie nicht einmal beschränken. Nur unterscheidet sich sein Freiheitsbegriff leider radikal von dem der nichttotalitären Welt: es ist der geschichtliche Vorgang der Weltrevolution oder der natürliche rassische Auswahlprozeß, dessen „Freiheit“ durch Säuberungen und Ausrottungen erkämpft werden muß.

Drei Modelle der Machtausübung

Der Kürze halber darf ich die technisch-strukturellen Unterschiede zwischen autoritärer, tyrannischer und totalitärer Herrschaft im Bilde dreier kennzeichnender Modelle zusammenfassen. Als Modell der autoritären Regierung schlage ich die im traditionellen politischen Denken wohlbekannte Pyramidenform vor. Die Pyramide ist ein besonders passendes Bild eines Regierungsaufbaues, bei dem der Ursprung der Autorität außerhalb seiner selbst ruht, dessen Machtmittelpunkt aber in der Spitze liegt, von wo Autorität und Macht so in Richtung auf die Grundfläche weitergeleitet werden, daß jede Schicht eine gewisse Autorität besitzt, jedoch weniger als die vorhergehenden, und wo gerade infolge dieses wohlgeordneten Filterprozesses alle Schichten von oben bis unten sich nicht nur in das Ganze fest einfügen, sondern einem Strahlenbündel gleichen, dessen gemeinsamer Brennpunkt die Spitze der Pyramide und damit die darüberstehende Quelle der Autorität ist.

Alle politischen Theorien der Tyrannis stimmen darin überein, daß sie streng genommen unter die egalitären Regierungsformen fällt; der Tyrann herrscht als Einzeiner gegen alle, und diese „alle“, die er unterdrückt, sind alle gleich, nämlich gleich machtlos. Bleiben wir beim Bild der Pyramide, dann sind alle Zwischenschichten zwischen Spitze und Grundfläche zerstört, so daß die Spitze, nur gestützt von den sprichwörtlichen Bajonetten, im Leeren verharrt über einer Masse sorgsam isolierter, an der Gruppenbildung gehinderter und völlig gleicher Einzelmenschen. Die klassische politische Theorie pflegte den Tyrannen ganz aus der Menschheit auszuschließen, ihn „einen Wolf in Menschengestalt“ zu nennen (Plato). In diese Stellung als einer gegen alle hatte er sich selbst gebracht, und er unterschied seine Herrschaft (die Herrschaft des einen, die Plato noch unterschiedslos Mon-archie oder Tyrannis nennt) scharf von den verschiedenen Formen des Königtums oder der Basileia.

Im Gegensatz sowohl zur Tyrannis als auch zu den autoritären Regimen scheint mir das passende Modell totalitärer Herrschaft und Organisation die Zwiebelstruktur zu sein. In ihrem Zentrum, in einer Art Hohlraum, befindet sich der Führer. Ganz gleich, was er tut, ob er nun den Staatskörper wie in einer autoritären Hierarchie aufbaut oder ob er seine Untertanen wie ein Tyrann unterdrückt immer tut er es von innen, nicht von außen oder von oben. Die außerordentlich vielfältigen Teile der Bewegung — die Grundorganisationen, die nach Berufsgruppen geordneten Fachschaften, die Parteimitgliedschaft, die Parteihierarchie, die Eliteverbände und Polizeigruppen — hängen so zusammen, daß jede in der einen Blickrichtung als Fassade, in der anderen als Kern wirkt, d.h. daß sie für eine Schicht die Rolle der normalen Außenwelt, für eine andere die eines radikalen Extremismus übernimmt. Die zivilen Mitglieder von Himmlers SS zum Beispiel bildeten eine ziemlich philisterhafte Fassade der Normalität für das SS-Führerkorps, während sie gleichzeitig für ideologisch zuverlässiger und extremer gelten konnten als der gewöhnliche Parteigenosse. Die Zwiebelstruktur macht das System organisatorisch stoßsicher gegen den Einfluß des tatsächlichen Charakters der Außenwelt und ermöglicht überdies eine Art doppelzüngiger Rede, die sehr wichtig ist für die Beziehungen zwischen totalitären Regimen und der nichttotalitären Außenwelt: in engem Zusammenhang mit der zweifachen Rolle jeder Schicht — als Fassade in einer Richtung, als Kern in der Gegenrichtung — steht die merkwürdige Tatsache, daß ein und dieselben offiziellen Äußerungen entweder als bloße Propaganda oder als ernstzunehmende politische Direktive gelten können. Hitlers heftig nationalistische Reden, die er vor seinem Offizierskorps zu halten pflegte, waren als Schulung für die Wehrmachtsoffiziere gedacht; innerhalb der höheren Nazihierarchie jedoch, wo das Schlagwort „Recht ist, was dem Volke nützt“ sogar offiziell ersetzt worden war durch „Recht ist, was der Bewegung nützt“ waren sie einfach Propaganda für eine Außenwelt, die noch nicht „reif“ genug war, um die wahren Ziele der Bewegung zu verstehen.

Der konservative Irrtum

Der Liberalismus, so sahen wir, mißt den Prozeß des Abnehmens der Freiheit, und der Konservatismus mißt den Prozeß des Rückganges der Autorität. Beide nennen das erwartete Endresultat Totalitarismus und sehen totalitäre Züge überall dort, wo sich der eine oder der andere Vorgang zeigt. Ohne Zweifel können beide für ihre Ergebnisse ausgezeichnetes Beweismaterial vorweisen. Wer würde die ernste Bedrohung der Freiheit von allen Seiten seit Beginn des Jahrhunderts und das Aufkommen aller möglichen Tyranneien zumindest seit Ende des ersten Weltkrieges leugnen? Wer aber bestreitet anderseits, daß das Verschwinden alier traditionellen Autoritäten eines der auffallendsten Kennzeichen der modernen Welt ist? Eine unparteiische Untersuchung der einander widersprechenden Behauptungen von Konservativen und Liberalen ergibt somit, daß die Wahrheit sich gleichmäßig auf beide verteilt und daß wir in der Tat einem gleichzeitigen Rückgang sowohl der Freiheit wie der Autorität in der modernen Welt gegenüberstehen. Liberalismus wie Konservatismus sind aneinander gebunden, nicht nur, weil jeder ohne die Gegenwart des andern auf dem Gebiet der Theorie und Ideologie seines eigentlichen Inhaltes beraubt wäre, sondern weil sich beide mit Restaurationsaufgaben befassen, nämlich mit der Wiederherstellung der traditionellen Bedeutung entweder der Freiheit oder der Autorität oder auch des Verhältnisses beider zueinander. In diesem Sinne bilden sie die beiden Seiten einer Münze, gerade wie ihre Fortschritts- oder Untergangslehren nur die beiden Seiten sind, von denen der historische Vorgang als solcher betrachtet werden kann, wenn man annimmt (wie beide es tun), daß geschichtliche Vorgänge eine definierbare Richtung und ein im voraus berechenbares Ende haben. Und so stellen sich beide als die politischen Philosophien dar, die der weit allgemeineren und umfassenderen Geschichtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts entsprechen. Sie sind der politische Ausdruck des Geschichtsbewußtseins des letzten Stadiums der Neuzeit. Theoretisch durch den Begriff der Geschichte und den eines geschichtlichen Ablaufs gerechtfertigt, können sie nicht einmal Fortschritt und Verhängnis mehr unterscheiden; dies ist kennzeichnend für ein Zeitalter, in dem gewisse Begriffe, die in ihrer Prägnanz allen vorhergehenden Jahrhunderten klar erschienen, ihre Klarheit verlieren, weil sie in der Öffentiich-politischen Realität ihre Bedeutung eingebüßt haben — ohne daß sie deshalb gleich völlig sinnlos geworden wären.

Unerlaubte Gleichsetzungen

In diesen Zusammenhang gehört eine historisch jüngere Theorie, die mittelbar die Wichtigkeit begrifflicher Unterscheidungen leugnet und die hauptsächlich in den Gesellschaftswissenschaften auftritt: die funktionale Betrachtungsweise aller Begriffe und Ideen. Ein gutes Beispiel für diese Funktionalisierung liefert die heute in der freien Welt weitverbreitete Meinung, daß Bolschewismus und Kommunismus trotz ihrem Bekenntnis zum Atheismus neue „Religionen“ seien, weil sie in sozialer, psychologischer und „emotioneller“ Hinsicht die gleiche Funktion übernommen hätten, die in der freien Welt die traditionelle Religion erfüllte und noch erfüllt. Das Interesse der Sozialwissenschaften richtet sich nicht darauf, was der Bolschewismus als Ideologie oder Regierungsform darstellt, noch was seine Vertreter in eigener Sache auszusagen haben; hieran sind die Sozialwissenschaften nicht interessiert, und viele Soziologen glauben ohne das auskommen zu können, was die Historiker Quellenstudium nennen. Die Soziologen interessieren sich nur für Funktionen, und alles, was die gleiche Funktion erfüllt, kann nach dieser Anschauung gleich genannt werden. Nun lassen sich offenbar aus solchen Gleichsetzungen ganz verschiedene Schlüsse ziehen. In der Tatsache, daß der Atheismus die gleiche Funktion wie die Religion erfüllen kann, sehen die Konservativen den besten Beweis für die Notwendigkeit der Religion und empfehlen die Rückkehr zur wahren Religion als einziges Mittel, einer „Häresie“‘ entgegenzutreten. (Das Argument ist schwach: denn wenn es sich nur um eine Frage der Funktion und der Auswirkungen handelt, haben die Anhänger der „falschen Religion“ ebenso gute Argumente für sich.) Die Liberalen wiederum betrachten die gleiche Erscheinung als einen üblen Verrat an der Sache des Säkularismus und glauben, daß nur der „wahre Säkularismus“ uns heilen kann von dem verderblichen Einfluß der wahren wie der falschen Religion auf die Politik. Diese gegensätzlichen Empfehlungen an die Adresse der freien Gesellschaft, zum wahren Glauben zurückzukehren und religiöser zu werden, bzw. sich von der institutionellen Religion zu befreien (besonders vom Katholizismus mit seiner ständigen Bedrohung des Säkularismus) — sie verbergen die Übereinstimmung der Diskussionsgegner in einem Punkt: daß alles, was die Funktion einer Religion ausfüllt, Religion sei.

Dasselbe Argument benutzt man häufig mit Bezug auf die Autorität: wenn Gewalt dasselbe leistet wie Autorität, nämlich Gehorsam zu erzwingen, dann ist Gewalt Autorität. Hier finden wir wieder beide Gruppen: die, welche eine Rückkehr zur Autorität befürworten, weil nur eine Wiedereinführung des Befehls- und Gehorsamverhältnisses die Probleme einer Massengesellschaft meistern könne, und die anderen, nach deren Ansicht sich eine Massengesellschaft wie jeder andere Gesellschaftskörper selbst regieren kann. Wieder stimmen beide Parteien in dem einen wesentlichen Punkte überein: Autorität ist, was die Menschen zum Gehorsam bringt. Alle die, welche moderne Diktaturen „Autorität“ nennen oder den Totalitarismus für ein autoritäres Gebilde halten, haben stillschweigend Gewalt mit Autorität gleichgesetzt, weil sie die Dinge ausschließlich in funktionalem Zusammenhang sehen. Die Gefahren dieser Gleichsetzungen liegen nicht nur in der Verwechslung politischer Fragen und in der Verwischung der Grenzen zwischen dem Totalitarismus und allen anderen Staatsformen. Ich glaube ebensowenig, daß der Atheismus ein Ersatz für die Religion ist oder ihre Funktion übernehmen kann, wie ich glaube, daß Gewalt ein Ersatz für Autorität werden kann. Folgen wir aber den Empfehlungen der Konservativen, dann werden wir es nicht schwer finden, solche Ersatzkräfte hervorzubringen; wir werden Gewalt anwenden und vorgeben, die Autorität wieder aufgerichtet zu haben, und unsere Wiederentdeckung der funktionalen Wichtigkeit der Religion wird eine Ersatzreligion hervorbringen — als ob unsere Zivilisation nicht schon genügend mit Scheindingen und Unsinn jeder Art übersät wäre.

Die von uns vorgeschlagenen Unterscheidungen zwischen tyrannischen, autoritären und totalitären Systemen sind, mit den genannten Theorien verglichen, unhistorisch, wenn man unter Geschichte nicht den historischen Raum versteht, innerhalb dessen gewisse Regierungsformen als wohldefinierbare Wesenheiten auftraten, sondern den geschichtlichen Ablauf, in dem jederzeit alles zu etwas ganz anderem werden kann. Unsere Unterscheidungen sind ferner antifunktional darin, daß wir aus dem Gehalt der politischen Erscheinung den Charakter der politischen Körperschaft wie auch deren gesellschaftliche Funktion bestimmen und nicht umgekehrt.

Politisch gesprochen heißt das: sie neigen zu der Annahme, daß in der modernen Welt die Autorität fast völlig verschwunden ist, und zwar in den sogenannten autoritären Systemen nicht weniger als in der freien Welt; daß die Freiheit (d.h. die Handlungsfreiheit menschlicher Wesen) überall bedroht ist, selbst in freien Gesellschaftsformen; daß sie aber nur in totalitären Systemen gänzlich abgeschafft ist, nicht einmal in Tyranneien und Diktaturen; und daß wir uns über die verschiedenen Arten, Grade und Formen ihrer Bedrohung sehr genau klar sein müssen, wenn wir sie, die Freiheit, verteidigen oder zurückgewinnen wollen.

[1Eine Formulierung Lord Actons in seiner „Inaugural Lecture on the Study of History“, abgedruckt in „Essays of Freedom and Power“, New York, 1955, S. 35.

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