MOZ, Nummer 58
Dezember
1990
Ungarn

Taxi-Blockade

Ende Oktober streikten die ungarischen TaxilenkerInnen gegen die amtliche Erhöhung des Benzinpreises. Die Regierung mußte nachgeben. In Zukunft wird der „freie Markt“ die Benzinpreise regeln.

„Deswegen. Gerade deswegen sind wir hier, weil wir nicht wissen, was wir tun können und tun sollen.“ Mit dem Bild einer ebenso sanften wie entschlossenen jungen Frau endete ein Bericht des ungarischen Fernsehens von den abgesperrten Brücken des durch den Taxifahrerstreik völlig lahmgelegten nächtlichen Budapest.
Herzlich unbeholfen hatten Regierungssprecher noch am Donnerstag vormittag die bevorstehende drastische Erhöhung der Benzinpreise um durchschnittlich 60 Prozent dementiert. Sie verlautbarten am Freitag vormittag, nachdem sich die Blockade schon auf das ganze Land ausgeweitet hatte, eine Erklärung, nach der die „Bereinigung der Situation durch Polizei- und Militäreinheiten“ unmittelbar bevorstehe.

Politischer Dilettantismus war der Hauptauslöser für die Aktion der Straße und ihre unkontrollierte Eskalation. Während in der Führung der eben gegründeten Interessenvertretung der Taxler noch am Freitag auf Verhandlungen mit der Regierung gesetzt wurde, mauserte sich angesichts der Handlungsunfähigkeit der Regierung die von der Straße organisierte Blockade zum Dreh- und Angelpunkt der politischen Auseinandersetzung. Nach Schätzungen werden von den knapp 18.000 Taxis, die in Budapest unterwegs sind, kaum 10.000 den Übergang zur freien Marktwirtschaft überstehen. Ohne die passive Unterstützung praktisch der gesamten Budapester Bevölkerung wäre das stimmungsvolle Fußgänger-Wochenende jedoch völlig unmöglich gewesen. Kaum eine Stimme unter der kalten Herbstsonne, die für die „Einhaltung der Gesetze“ eintrat. Vielmehr wortloses Einverständnis mit der Blockade. In perfekter Selbstorganisation gelangten praktisch vom ersten Moment an Rettungsfahrzeuge, Lebensmittellieferungen und Mütter mit Kleinkindern mit ihren Fahrzeugen ans Ziel. Die Oppositionsparteien entschwanden nach anfänglichen Aufrufen zum Verhandeln aus der Auseinandersetzung. Die Regierung war schließlich unter dem Druck der Ereignisse zum ersten Mal seit ihrem Amtsantritt dazu gezwungen, aus den Höhen ihres selbstgefällig-selbstgenügsamen Parlamentariertums herunterzusteigen und sich mit ihrem Verhältnis zur Gesellschaft ernsthaft zu beschäftigen. Von Freitag auf Sonntag lernte sie jene erste Lektion aus dem ABC der Politik, wonach eine halbwegs entwickelte Industriegesellschaft ohne die organisatorische Einbindung von Gewerkschaftsspitzen, Unternehmerverbänden und sonstiger ‚Interessenvertretungen‘ in die politischen Vorentscheidungen schwer zu steuern ist. Die vom Fernsehen am Sonntag stundenlang direkt übertragenen Verhandlungen des ‚Interessenausgleichsrates‘ führten schließlich zu einer Rücknahme der Erhöhung der Benzinpreise um etwa ein Drittel gegenüber den ursprünglichen Plänen. „Bis zur baldmöglichst durchzuführenden Preisliberalisierung.“ Der Rat, obwohl schon vor Monaten formal ins Leben gerufen, erwachte in diesen Verhandlungen erstmals zum Leben, und damit agierten auch zum ersten Mal seit dem ‚Systemwechsel‘ die alte staatssozialistische und die neue Gewerkschaft gemeinsam auf der großen politischen Bühne.

Die Zufriedenheit der politischen Öffentlichkeit mit dieser abgelaufenen ‚Demokratisierung‘ klammert allerdings zentrale politische Probleme der nächsten Zukunft aus: Angesichts der gemäß der geltenden Spielregeln auf absehbare Zeit schlicht nicht vorhandenen Verteilungsspielräume steht nämlich zu erwarten, daß die neue Ad-hoc-Sozialpartnerschaft des Oktoberwochenendes eher in eine Sammlung der wichtigsten politischen und wirtschaftlichen Kräfte des Landes münden wird, die mit starker Hand die gesellschaftliche Ordnung beim Übergang zur Marktwirtschaft sichern wird, als in einen wie auch immer gestalteten Mechanismus sozialen ‚Interessenausgleichs‘. Was statt Sozial(partner)politik auf der Tagesordnung steht, faßte der neugewählte Budapester Bürgermeister Gábor Demszky, Spitzenmann der liberalen Oppositionspartei, in seiner
Amtseinführung wenige Tage nach den Ereignissen zusammen: „Wir stehen vor einem schweren Winter. Ja, wir wollen die schwungvolle Entfaltung der Marktwirtschaft, aber die Gemeinde will jenen helfen, die es aus eigener Kraft nicht schaffen. Ich bitte die Budapester, aus eigenem Antrieb zu helfen, wie es sich für den Bürger geziemt. Und das warme Essen soll dem guten Rat vorangehen. Ich bin überzeugt davon, daß die Erleichterung der Not mit dem humanen und europäischen Gedankengut zusammengeht.“

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