Internationale Situationniste, Numéro 6
 
1976

Situationistische Nachrichten

Am Anfang eines Artikels in der letzten Winter erschienenen Zeitschrift Dissent (Jhg. VIII, No. 1.) stellt Edwin M. Schur mit melancholischem Erstaunen fest: „Der Rauschgiftkonsument wird immer mehr zum avantgardistischen Helden und zugleich zu einem modernen Sündenbock. Was Jack Gelber, William Burroughs, Alexander Trocchi und andere gemacht haben, hat das Interesse für das Leben der ‚junkies‘ gefördert. Nach Norman Mailer hielten diese Rebellen den Gebrauch von Rauschmitteln sogar für den Bestandteil eines neuen Radikalismus, der ihrer Meinung nach durch die Wertlosigkeit der rein politischen Oppositionsströmung gerechtfertigt wurde! So etwas würde wahrhaftig auf schreckliche Weise das ‚Ende der Ideologien‘ verwirklichen …“

Unser Genosse Alexander Trocchi kann Ende Mai 1961 erfreulicherweise nach Europa zurückkehren. Die Redaktion der Situationistischen Internationale ist nicht imstande, offiziell zu bestätigen, ob er sich den Verfolgungen der New Yorker Polizei entzog, indem er seine provisorische Freilassung ausnutzte, um heimlich über die kanadische Grenze zu gehen, wie Gerüchte sagten. Wir können jedoch versichern, das er trotz der durch zwei situationistische Veröffentlichungen deutlich bewiesenen ungeheuerlich schwachsinnigen Anklage nicht freigesprochen wurde.

Die Grundlage der modernen Gesellschaft bilden z.Zt. zwanzig hochindustrialisierte Länder, in denen auch alle Tendenzen ihrer Umwandlung und die wesentlichsten Phänomene ihrer Krise entstehen. Es sind Deutschland, Australien, Österreich, Belgien, Kanada, Dänemark, die Vereinigten Staaten, Finnland, Frankreich, Groß-Britannien, Holland, Israel, Italien, Japan, Norwegen, Neuseeland, Russland, Schweiz, Schweden und die Tschechoslowakei (diese Liste deckt sich fast genau mit der der Länder, die über genügend technische Fähigkeiten verfügen, um eine atomare Ausrüstung herzustellen). Die situationistische Bewegung erstreckt sich schon auf elf dieser zwanzig Länder — also auf mehr als die Hälfte. Es wird sogar zu einem Zwei-Drittel-Verhältnis, wenn die europäische Mehrheit dieser Länder getrennt gerechnet wird: dort hat sich die situationistische Bewegung, die sich von dieser Zone aus verbreitet hat, in neun von vierzehn Ländern festgesetzt.

Im Januar würde in München anlässlich einer modernistischen kulturellen Manifestation, die unsere Genossen gleichzeitig gestört haben, eine gemeinsame Erklärung der deutschen und schwedischen Sektion der S.I., Die Avantgarde ist unannehmbar veröffentlicht. Dieser von Kunzelmann, Prem, Sturm und Zimmer einerseits und Steffan Larsson, K. Lindell und J. Nash andererseits unterzeichnete Text, der als Flugblatt in das Publikum geworfen wurde, erinnerte daran, dass „eine Avantgarde, wenn sie die Bedeutung des Lebens selbst in Frage stellt und ihre Forderungen gerade auf diesem Gebiet durchzusetzen versucht, von allen gesellschaftlichen Möglichkeiten getrennt wird. Die ästhetischen Abfallprodukte der Avantgarde wie Bilder, Filme, Gedichte usw. werden zwar sofort gewünscht, aber sie bleiben ohne Wirkung. Unannehmbar ist das Programm einer ganz neuen Gestaltung der Lebensbedingungen, das die Grundlage der Gesellschaft selbst umwandeln wird.“

Kurz davor hatte die deutsche Sektion ein Manifest über die Fete veröffentlicht, in dem u.a. folgendes zu lesen war: „Boykottiert alle Systeme und alle herrschenden Konventionen, indem ihr sie als misslungene Spiele betrachtet … Die Fete ist die unpopuläre Kunst des Volkes. Schöpferisch sein heißt, seine eigene Fete mit allen Dingen durch eine ununterbrochene Ergötzung zu machen. Wie Marx, der eine Revolution aus der Wissenschaft abgeleitet hat, folgern wir eine Revolution aus der Fete … Eine Revolution ohne Fete ist keine Revolution. Es gibt keine künstlerische Freiheit ohne die Macht der Fete … Wir verlangen mit größtem Ernst die Spiele“.

Der Zentralrat der S.I. kam zum zweitenmal vom 6. bis 8. Januar in Paris zusammen. Er beschäftigte sich zum größten Teil mit der Ausarbeitung der Aufbaumöglichkeit einer Experimentalstadt von gewissen, von einem italienischen Kulturzentrum vorgeschlagenen Bedingungen aus. Es wurde von der S.I. angenommen, dass man nur mit der Aussicht auf das den Konstrukteuren zuerkannte Recht auf die Gestaltung der gesamten Lebensweise in dieser Zone weiter verhandeln konnte; dazu sollte noch ein Fünftel der gesamten Bauwerke zu ihrer ständigen Verfügung stehen und das Recht auf die Zerstörung der Gebäude eingeräumt werden, falls sie bei ihrer Verwaltung auf Hindernisse stoßen würden (durch die letzte Vorbedingung wurden seitdem die Verhandlungen zum Stillstand gebracht). Kotányi hatte vorgeschlagen, dieses Projekt als eine Stadt der Spieltherapeutik vorzulegen, wobei er betonte, dass „die therapeutischen Ideen der modernen Psychologie im Bauwesen nie verwirklicht wurden“; er schlug genauer vor, die Verwirklichung der von de Sade beschriebenen Bauarten ins Auge zu fassen. Kotányi hatte gleichfalls gezeigt, wie „die Rüstungsindustrie das aktuelle Maß der gesamten technischen Fähigkeiten der Gesellschaft ausmacht. Unsere Projekte setzen Techniken voraus, die deutlich über die Fähigkeiten der Bauindustrie hinausgehen. Es kommt darauf an, gleiche Kredite wie die militärischen Forschungen zu erhalten“ (wie z.B. dieses Zyklotron in Genf, das mit den zusammengelegten Geldern mehrerer Staaten hergestellt werden soll). Jorn billigt den Vorschlag, indem er feststellt, dass „die Besitzer der kulturellen Reichtümer die Künstler als Höhlenmenschen betrachten, denen nur das Recht eingeräumt wird, den Metallabfall der Industrie zu holen, wenn sie aus ihren Höhlen gehen, um sie ihren Skulpturen einzuverleiben. Wir haben vor, diesen kleinen Irrtum richtig zu stellen! Bescheiden verlangen wir das Recht darauf, mit der modernen Kunst anzufangen, d.h. aus den Höhlen der künstlerischen Zivilisation hinauszutreten“. Jörgen Nash setzt fest, dass „all den utopischen Konstruktionen eine ideale Stadt zugrundeliegt. Wir sind gegen das Ideal. Wir müssen die Kritik des idealistischen Perfektionismus in der alten utopischen Konzeption (und diese Kritik von Fourier) ausüben. Nichts betrachten wir als befriedigend.“ Der Rat hat eine gewisse Zahl von Grundhypothesen zur Definition dieser experimentellen Kleinstadt auf einer unbewohnten Insel unweit der Südküste Italiens gebilligt.

Als Stellvertreter Sturms, der zu dieser Sitzung nicht kommen konnte, hat H. Prem den Rat auf die unwürdige Art aufmerksam gemacht, wie Norman Mailer von den amerikanischen Polizei- und Fernsehleuten behandelt wird — dazu sollen die seiner Frau verabreichten Messerstiche Veranlassung sein, in Wirklichkeit geht es aber darum, einen subversiven Intellektuellen in Verruf zu bringen. Der Rat beschloss die Herausgabe einer Spezialnummer unserer deutschen Zeitschrift über den U.U. und setzte den Plan für die 6. Nummer der Situationistischen Internationale fest. Nash unterbreitete dem Beschluß des Rates eine gewisse Zahl von Fragen betreffs der materiellen Organisation der Göteborger Konferenz.

Die dritte Sitzung des Zentralrates fand in München vom 11. bis 13.April statt. Außer der Erledigung der laufenden Angelegenheiten musste der Rat infolge des Drucks, den der Kunsthändler van de Loo vierzehn Tage vorher auszuüben versucht hatte, über die zu verhängenden Strafen entscheiden. Dieser Mensch, der mehr oder weniger in das Unternehmen der sich an der Neuerfindung eines unitären Urbanismus versuchenden Großbourgeois aus dem Ruhrgebiet verwickelt war, hatte geglaubt, er könnte sich mit einer ökonomischen Erpressung gegen vier von seinen Dienstleistungen finanziell abhängige deutsche Situationisten behelfen, indem er sie dazu aufforderte, falls sie nicht mit ihm brechen wollten, einige Seiten der S.I.-Tätigkeit (und insbesondere Debord) zu verwerfen. Die deutschen Situationisten brachen sofort mit dem Händler. Kurz darauf bot er ihnen telegraphisch eine gute Geldsumme an, um die ganze Sache in Vergessenheit zu bringen. Sie antworteten nicht auf das, was sie für einen dummen Scherz hielten, so dass der „Ankäufer“ später gezwungen wurde, sein ungeschicktes Telegramm als einen bloßen Scherz Dritter auszugeben (zum ersten Mal in seinem Leben aber trieb er Scherze in Geldfragen). Diese bemerkenswerte, in der Geschichte der kulturellen Avantgarde einmalige Geschichte — zumindestens was einige Aspekte betrifft, unter denen die Plumpheit nicht der eigenartigste ist — hatte leider Maurice Wyckaerts Abgang zur Folge. Dieser, der ebenfalls mit dem Händler in Verbindung war — jedoch in beträchtlich größerem Stile — gab allen bekannt, dass er bereit war, mit van de Loo zu brechen, falls dieser mit der S.I. brechen würde. Der Rat hat es aber für vollkommen unannehmbar gehalten, dass es dem betreffenden Händler immer noch frei stehe, „mit der S.I. zu brechen“ oder nicht, da diese nie etwas mit ihm zu tun hatte. Es handelt sich dabei einzig und allein um den offensichtlichen Einmischungsversuch eines Kunsthändlers in die S.I.-Angelegenheiten, der mit mehreren Situationisten persönliche Beziehungen unterhielt und es auf nichts anderes abgesehen hatte, als durch Drohungen und Versprechungen seine eigene Fraktion in der S.I. zu bilden, um deren Politik zu lenken. Wyckaert wurde also ausgeschlossen.

Dieselbe Ratsitzung hat Asger Jorns Rücktritt angenommen angesichts verschiedener persönlicher Umstände, die ihm von nun an jede Teilnahme an der organisierten S.I.-Tätigkeit äußerst schwierig machen; er bestand aber darauf, seine volle Übereinstimmung mit ihr schriftlich auszudrücken. Der dadurch momentan auf vier Mitglieder zusammengeschrumpfte Rat vereinbarte, vor der nächsten Konferenz der Internationale nicht mehr zusammenzukommen, der es dann zusteht, einen neuen Rat zu ernennen.

Ganz verfehlt preist Herr Jean Cau im Express vom 27. Juli den „im finsteren germanischen Wahnsinn gebauten“ Bahnhof von Metz, „in dem die nächste Zusammenkunft der „Surrealistischen Internationale“ (seiner) Meinung nach stattfinden sollte“. Die in den nächsten Tagen zusammenkommende V. Konferenz der S.I. ist dagegen am 28. August im schwedischen Hafen Göteborg einberufen worden.

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