Heft 5-6/2002
November
2002

Sexualität und Behinderung

... Hab ich noch nie probiert, aber ... könnte ich mir schon vorstellen ... auf gar keinen Fall! ... bestimmt eine interessante Erfahrung ... ich bin ja nicht von der Caritas! ... spüren die überhaupt was beim Sex? ... nein, das wäre mir zu stressig ... mal etwas anderes .... was mache ich, wenn ich sie/ihn nicht mehr los werde? ... Ich will mal Kinder und ich weiß nicht, ob ... warum nicht? ... ist mir zuviel Verantwortung ... gehen sollte er schon können, behindert bin ich selbst ... ja, da hab ich schon mal was im Kino gesehen ...

Nun, ich kann nur Vermutungen über ihre Assoziationen bei dem Thema Behinderung und Sex anstellen, doch falls sie schon mal etwas „über so was“ im Kino gesehen haben, behaupte ich mal so auf Verdacht: Gelogen! In der Schlußszene von Mein linker Fuß beispielsweise: Daniel Day Lewis im Rollstuhl, seine Geliebte, vormals seine Pflegerin, neben ihm. Beide befinden sich auf einem Berggipfel, der Himmel spielt Romantik und über dieses Schlußbild läuft der Nachspann. Doch wie zum Geier, frage ich mich, haben die beiden diesen Berg erklommen? Ich muß aufs Klo und mühe mich vom Sofa in meinen Rollstuhl. Danach bin ich etwas entspannter und versuche in meiner Kritik nicht zu hart mit den Machern des Films zu sein. Immerhin ein Film, der sich mit dem Thema auseinandersetzt und im Hauptabendprogramm läuft. Er war sogar zuerst im Kino! Trotzdem: Wenn ich mit meinem gehenden Freund den Urlaub plane, achten wir vor allem darauf, Steigungen jedweder Art zu erkennen und ihnen aus dem Weg zu rollen. Händchenhalten auf Gipfeln, ausgenommen auf solchen der Erregung, kommt nur in meinen schlimmsten Albträumen vor.

Nun, jetzt wissen sie schon eine ganze Menge über mich. Ich bin eine Frau um die dreißig. Aufgrund meiner körperlichen Behinderung nennt man mich umgangsprachlich eine „Spastikerin“. Ich arbeite derzeit als Performancekünstlerin, befinde mich in Ausbildung zur Lebens- und Sozialberaterin mit dem Schwerpunkt Sexualität und mit meinem Freund, den ich umgangsprachlich „Geher“ nenne, fahre ich nicht nur auf Urlaub. Warum ich sie mit meiner Biographie konfrontiere? Weil ich die Einzigartigkeit jedes Lebensentwurfs betonen will. So gibt es meiner Meinung nach auch nicht DIE Behinderung und DIE Sexualität sondern in erster Linie einmal Frauen und Männer. Diese wiederum sind körperlich, geistig und/oder psychisch gehindert, daß heißt gehindert durch ihr Anders-Sein, so am sozialen, politischen, gesellschaftlichen und sexuellen Leben teilzunehmen, wie die Frauen und Männer, welche nicht in die oben genannten Kategorien fallen.

„Wir leben in einer Leistungsgesellschaft.“ Dieser oft zitierte Satz gilt natürlich auch im Bereich der Sexualität. Sie steht zu ihrem Körper wie er ist, „seiner“ steht sowieso immer. Sollte es mal nicht klappen, kann man ja darüber reden. Auch Menschen mit Behinderung haben ein Recht auf Sex. So weit so korrekt. So weit so theoretisch. Wenn Sie allerdings einmal die Lust überkommt und es steht ihnen nur die eigene Phantasie und eine frei Hand zur Verfügung: Haben Sie sich schon jemals eine „geile Schnitte“ mit Rädern vorgestellt oder einen coolen Typ mit Down Syndrom? Da bleiben wir doch lieber bei Richard Gere, Bruce Willis, Kim Basinger oder Sharon Stone. Wenn niemand für Sie dabei ist: Sorry! ... Wie wär’s mit Christopher Reeves, jetzt „bereift“? Bedeutet es schon für Frauen und Männer ohne Behinderung eine immense Anstrengung, den Idealvorstellungen von Schönheit, sexueller Attraktivität und Potenz zu entsprechen oder sich diesen auch verweigern zu können; liegt die Anstrengung von Menschen mit Behinderung vor allem darin, als geschlechtliche Wesen wahrgenommen zu werden. Spastiker, Querschnittler, Unfallopfer, Geistigbehinderte, Amputierte, Blinde, MS-Kranke, reduziert auf die körperliche Andersartigkeit, immer gesehen durch den Blick der nicht gehinderten Mehrheit.

Kindheit und Jugend von Menschen, die von Geburt an behindert sind, spielt sich oft zu einem beachtlichen Teil in Spitälern und Therapieeinrichtungen ab. Ihr Körper ist Gegenstand der Aufmerksamkeit. Schwestern, ÄrztInnen und TherapeutInnen befassen sich mit ihm. Sie be-fassen ihn wann, wo und wie sie wollen um dann doch nur den Mangel festzuhalten. Oft nur zu wissenschaftlich-medizinischen oder therapeutischen Zwecken berührt, ist es für Kinder mit einer körperlichen Behinderung schwierig, ihren Körper als etwas positives zu verstehen. Diesen „geschädigten Bewegungsapparat“ als etwas, das sie selbst definieren können, und über den sie bestimmen dürfen, zu begreifen. Selbstbestimmung, selbst zu bestimmen, wer dich wann, wie und wo berühren darf. Spätestens in der Pubertät läßt es sich nicht mehr leugnen: Unser Körper ist anders. Wir sind anders. Die Burschen wollen nur reden, die Mädchen sehen in uns keine wirkliche Gefahr im Kampf um die Gunst eines potentiellen Sexualpartners und die Erwachsenen bemühen sich dir zu versichern, daß es auf die „inneren Werte“ ankommt. „Scheiße“, denkst Du, „ich will ficken!“.

Das ist ein Anfang. Das war meiner. Damit begann ein mühevoller, schmerzhafter und oft auch zorniger Weg zu meinem Körper. Von entscheidender Bedeutung war die Teilnahme an verschiedenen Workshops mit den Themen „Behinderung und Sexualität“ oder „Behinderung und Partnerschaft“, mit Kursleitern, die neben ihrer Funktion als ausgebildete Beraterin und Berater selbst Betroffene sind sowie der Erfahrungsaustausch mit den anderen TeilnehmerInnen. Ich habe eine Psychotherapie begonnen, ließ mich viel massieren und vor allem begann ich professionell zu tanzen. Doch was das Wichtigste ist: Ich habe geredet, geredet, geredet, geweint, geflucht und gevögelt. Ich war mutig, ich war übermütig ich war unvorsichtig und ich hatte oft Angst. Doch zum ersten Mal erlebte ich meinen Körper als Teil meiner Person. Als etwas, an dem nicht nur kritisiert, korrigiert und operiert wird, sondern als Körper der Lust empfangen und bereiten kann.. Als Frau die in ihrem Körper zuhause ist. Als Frau, die sich dieses positive Grundgefühl immer und immer wieder neu erkämpfen muß und will.

In den letzten Jahren hat sich eine starke Selbstbestimmt-Leben-Bewegung entwickelt, die für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen eintritt. Es gibt Seminarangebote mit den Themen Sexualität und Partnerschaft für Menschen mit körperlicher Behinderung, es gibt PsychotherapeutInnen und BeraterInnen die selbst behindert sind und es gibt sie, die Beziehungen und Partnerschaften zwischen Frauen und Männern mit und ohne Behinderung.

So wichtig die persönliche Weiterentwicklung ist, dürfen wir die konkrete Auseinandersetzung mit politischen Entscheidungsträgern und staatlichen Institutionen nicht scheuen. Eine Veränderung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse, geschieht nur wenn wir uns mit Herz, Hirn und Händen einmischen, einmischen, einmischen.

In diesem Sinne: “Just do it!”

Eine Auswahl mir wichtiger Bücher und Filme zum Thema:

Bücher

  • Pride Against Prejudice, Jenny Morris (Hrsg.), The Women’s Press, 1991, ISBN 0704342863
  • Geschlecht: Behindert — Besonderes Merkmal: Frau, C. Ewinkel, G. Hermes et.al. (Hrsg.), AG SPAK M 68, 1985, München, ISBN 3-923126-33-6
  • Das Risiko nichtbehinderte Eltern zu bekommen, Udo Sierck, AG SPAK M 97, 2. Auflage, 1992, München, ISBN 3-923 126-63-8
  • Sexuelle Ausbeutung von Mädchen und Frauen mit Behinderung, Schriftenreihe der Frauenministerin, Band 10, September 1996, Wien, ISBN 9011-9224-3

Filme

  • Coming Home mit Jane Fonda, Jon Voight u.A., Regie Hal Ashby, USA, 1978
  • Gabi Brimmer mit Liv Ullmann u:A., Regie Ingmar Bergman, Schweden, 1986
  • The Waterdance mit Eric Stoltz, Wesley Snipes, William Forsythe, Helen Hunt u.A.., Regie Neal Jimenez und Michael Steinberg, USA, 1992
  • Live Flesh mit Liberto Rabal, Francesca Neri, Javier Bardem u.A., Regie Pedro Almodovar, Spanien, 1997
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