FORVM, No. 273/274
September
1976

Sankt-Marxismus

Kulturrevolution im Schlachthof

Am 27. Juni 1976 besetzten einige hundert Jugendliche den von der Gemeinde Wien zum Abbruch bestimmten Schlachthof in St. Marx. Die Sache hat natürlich ihre Vorgeschichte. Anlaß war die letzte Veranstaltung der — nun — Jugendabteilung der Wiener Festwochen („Arena“), weiters der öffentlich geäußerte Wunsch der Kulturstadträtin, Arena-Veranstaltungen für das junge Publikum das ganze Jahr über durchzuführen. Kulturhistoriker werden Experimente der Gegenkultur aufspüren, die schon 1970 zu einer autonomen Veranstaltung „Arena 70/II“ geführt haben — damals übrigens nicht ohne Zusammenhang mit dem vom NEUEN FORVM initiierten Volksbegehren zur Auflösung des Bundesheeres ... Und auch da wieder führt eine Spur zurück auf die Untergrundveranstaltung „Wiener Restwochen“ von 1969, auf die Opernflugblattaktion von 1968 und auf den Vietnam-Protest von 1967/1968. Nicht zu vergessen die Besetzung eines Hauses durch Simmeringer Jugendliche im Frühjahr 1975 zwecks Schaffung eines autonomen Jugendzentrums.

Übrigens haben Wiener Arbeiter schon einmal den Schlachthof St. Marx besetzt: am 12. Februar 1934. Damals allerdings nur für einen Tag. Diesmal sind’s schon zehn Wochen! Wie einer der Besetzer sagte: „Die Besetzung war und ist noch immer ein Ausnahmezustand, der in seinem revolutionären Charakter in der Geschichte unserer Alpenrepublik einzigartig dasteht“ (info 4).

Bürgermeister Gratz hat sich zwar für die Arena ausgesprochen (die Medien sind nach einigen Schwankungen alle für die Arena, und wie sehr braucht er sie jetzt!), aber die Kapitalinteressen und die Bürokratie stehen dawider. Auf der obersten Ebene freundliche Nasenlöcher — währenddessen schicken Magistratsbeamte Steuerstrafbefehle nach St. Marx ... -Red.

Arena in St. Marx, Wien 3, Döblerhofstraße 10:
Café Schweinestall (oben), die Mainstreet mit Blick aufs Pförtnerhäuschen (unten)

Revolution in Wien?

Beschreiben, was sich in der Arena abspielt, heißt Wasser in Körben schöpfen. Man kommt nicht mit. Ist ständig zu spät. Die Arena spricht eine andere Sprache. Dort tut sich was. Dort ist was losgegangen. Hat sich was losgemacht. Die Marionetten reißen ihre Fäden ab und erwecken einander zum Leben.

Ideen, Sehnsüchte und Konflikte brechen auf, die unter Versteinerungen geschmort haben, bis sie sich beim Abschlußfest der Festwochen-Arena am 27. Juni entzündeten: hunderte Wiener Jugendliche besetzten den Schlachthof. Sie protestierten gegen den Plan der Gemeinde Wien, die putzigen Jugendstilhäuschen abzureißen, um dort ein Textilgroßhandelszentrum zu errichten. Diesen Protest haben bereits über 100.000 Wienerinnen und Wiener unterstützt: durch ihren Besuch, durch Unterschrift, durch Mitarbeit haben sie sich für die Forderungen der Besetzer eingesetzt, in den Gebäuden des ehemaligen Schlachthofes St.Marx ein ganzjähriges, offenes, selbstverwaltetes Kultur-, Kommunikations- und Jugendzentrum zu errichten, dessen Betriebskosten die Gemeinde übernehmen soll.

Die Gemeinde ist für eine Arena, doch nicht in St. Marx. Denn hier will die Textilfirma Schöps ihre Modepüppchen hinstellen und ihren Umsatz von 1,2 Milliarden Schilling auf 3,5 Milliarden Schilling steigern. Kapitalinteressen gegen Kulturbedürfnisse! Ein Besetzer sagte: „In Österreich is jeder verdächtig, der ned um neune vorm Fernseher sitzt.“

Nach den Schiffbrüchen von Bauring und Allgemeinem Krankenhaus, dem Würgen an U-Bahn, Donaugerinne und UNO-City und zuletzt dem Zusammenbruch der Reichsbrücke fühlt sich die Gemeindeverwaltung im Eck. Ist das gut oder schlecht für die Arena? Erst beteuerte die Arbeiter-Zeitung, daß das Gelände „schon um rund 30 Millionen Schilling verkauft ist und unter Umständen Schadenersatzforderungen von möglicherweise einigen hundert Millionen Schilling ins Haus stehen“. Tatsächlich handelt es sich nur um „schriftliche Vereinbarungen“ der WIBAG, einer gemeindeeigenen Betriebsansiedlungsgesellschaft, mit dem Schöps-Konzern. Die Gemeinde hätte genügend rechtliche Möglichkeiten, die Arena St. Marx zu erhalten. Bürgermeister Leopold Gratz packte die Wünsche am Schwanz und erklärte, er könne sich „diese Arena auch in St.. Marx vorstellen“ (Interview in der Kronen-Zeitung). Sieg? Noch hat der Gemeinderat nichts beschlossen. Er tut’s im September.

Anders leben!

In der Gesetzespause lebt die Arena, dieser „Freistaat Liberia im dritten Gemeindebezirk“ (Gratz). Die Besetzer wollen anders werden. Sie lassen die Zunamen weg. Sie möchten Gefühle haben, die nicht wie Plastiksackerln rascheln. Miteinander sein, ohne dazu die Vorlage aus Waschmittelreklamen zu benützen. Lernen sich zu wehren gegen all das, was sie in der Schule, der Familie, Arbeit, Freizeit zu ertragen haben.

In der Arena basiert alles auf Freiwilligkeit. Wer mit der Straßenbahn Linie 18, Station Baumgasse, in den Schlachthof kommt, wird den letzten Kilometer von Autos mit rotem A mitgenommen (oft auch schon in der Stadt). Wer Lust hat, kann gleich mitmachen: beim Zeitung- und Flugblätterverteilen, beim Aufräumen der Hallen und Häuser, beim Häuslputzen, bei Arbeitskreisen, beim Theater, bei der Zeitung, beim Plakatmalen, im Kinderhaus, im Frauenhaus, beim Herrichten einer Diskothek im „Simmeringerhaus“, beim Teeausschank im Teehaus, in der Versorgung, im Cafe „Schweinestall“. Wer Lust hat, kann Liptauerbrote streichen, Tschapperlwasser, Cola und Kaffee ausschenken, auf die Wände kritzeln und zeichnen, Fußballspielen auf der großen Wiese, Stegreifgedichte vortragen, Suppe und Bratwürstel kochen, Firmen anrufen und um Materialspenden bitten. Klavier-, Flöte-, Gitarre- oder Violinespielen, auf verrosteten Konservendosen trommeln, Handwerker mit dem Megaphon ausrufen.

Rund hundert Jugendliche haben sich ihre Schlafstätten in den Wohnungen der Gebäude wohnlich eingerichtet. Sie waschen sich jeden Morgen am Hydranten, einer umgebogenen Dachrinne bei den Bahngeleisen, wo früher das todgeweihte Vieh angekarrt wurde. Die Burschen rasieren sich entweder in der Damentoilette vorm Spiegel oder an der „Brause“, einem Loch in der Wand hinter der Garderobe, aus dem Leitungswasser fließt. Gefrühstückt wird ein Becher Kaffee, Milch oder Kakao, zwei bestrichene Brote. Mittags ein Teller dicker Suppe mit Brot oder ein Teller Gemüse mit Kartoffeln oder Brot, abends ein Becher Milch oder Kaffee, zwei belegte Brote und Obst oder Kompott. Von den hundert Dauerbesetzern spendet kaum einer was. Getragen wird die Arena durch die Riesenveranstaltungen an den Wochenenden, die etliche Tausend Schilling Spenden einbringen.

Im Kinderhaus spritzen sich Simmeringer und Gastarbeiterkinder mit Wasser aus Kübeln an und lernen, was Wasser, Schlauch, kalt, warm auf jugoslawisch, türkisch, rumänisch und deutsch heißt. Sie spielen Lego, „Mensch ärgere dich nicht“, Flipper, Puzzle, Matador, sie malen, zeichnen, basteln Puppen und Kasperln. Das Kinderhaus ist von morgens bis 20 Uhr abends voller Besetzer. Manche Gastarbeiterkinder sprechen mit 16 Jahren noch nicht Deutsch, Achtjährige gehen noch nicht zur Schule — sie wurden zurückgestellt oder nicht erfaßt. Arena-Lehrer geben ihnen Deutschunterricht und Nachhilfestunden. Unter der Woche sind nur zwei, drei Aufseher da: Maria, eine Logopädin im Heim für behinderte Kinder in Lanzendorf, ein alter Eisenbahner und über Mittag einige ausländische Mütter.

Einige haben schon Gastritis

Keine Entscheidung wird an andere abgeschoben. Jeder ist zuständig. Einige haben schon Gastritis. Vor der Veranstaltung in der Galerie geht der Projektor kaputt. Acht Hilfsbereite tummeln daran herum. Obwohl sie nur als Besucher kamen, wird ihnen das Gelingen der Veranstaltung zum eigenen Anliegen.

In der Sanität verarztet ein Sani ein Kind, das beim Spielen vom Bahndamm fiel. Ein älterer Mann schläft sich am Kanapee den Rausch aus.

Im „Soldatenhaus“ wird Bohnengulaschsuppe ausgegeben. Die Innen- und Außenwände des barackenähnlichen Baus an der großen Wiese wurden mit Tarnfarbe bemalt. Hier werden Präsenzdiener beraten und Soldatenvertreter geschult: bei lyrischen Kampfliedern aus der Bretagne, auf rasch zusammengeschusterten und -geflickten Sofas.

Im Literatencafé schreiben und proben die Schauspieler ihr Arena-Arena-ArenaTheater: Ottwald stelzt als Polizist und Rathausherr durchs hallende ehemalige Schweineschlachthaus, deklamiert, rezitiert — und die Leute am Tisch, Intellektuelle, Künstler, Angestellte, Handwerker, Lehrlinge, Häfenbrüder korrigieren, fügen hinzu, schreiben auf.

Entlassung wegen Gedicht

Im Selbstverwaltungsgebäude male ich zusammen mit einem Mädchen ein Plakat. Da kommt einer aus dem Architektenbüro und nimmt uns die letzten Buntstifte weg, da sein Plakat schneller fertig sein muß als unseres. Wir fluchen, suchen nach Buntstiften, es gibt welche im Depot bei der großen Wiese, fünf Minuten zu Fuß. Ich ziehe los und komme erst nach zwei Stunden wieder: ohne Buntstifte. Am Weg durch die überdachten Straßen, die große Halle, die große Wiese zum Depot und zurück, beim Café Schweinestall vorbei traf ich Bekannte, lernte neue Leute kennen, tratschte mit Leuten vom Infodienst. Ein Mädchen, mit dem ich gestern neben dem Bratwürsteltopf vor der großen Halle übers Schreiben geredet hatte, erzählte mir, daß sie in ihrem Betrieb gekündigt worden sei, weil sie auf ihren Knien unterm Stempelpult ein Gedicht geschrieben habe.

Bei der Versorgung versuchte mir Ludwig den Grund zu erklären, warum er sich schon morgens ansaufe: das sei, meinte er, wahrscheinlich deshalb, weil sein betrunkener Vater immer seine Mutter vor seinen Augen vergewaltigte — sie schliefen zu fünft in einem Zimmer — und ihm, wenn er sich rührte, ins Gesicht schlug; er fühle sich seit damals so verkrampft und könne sich nur mit Alkohol richtig bewegen, geschweige denn reden. Ich vergaß die Buntstifte, setzte mich mit Ludwig auf einen ausgeblichenen Schweineblutfleck in eine Ecke der großen Halle. Da geht das Licht aus. Kurzschluß. Der Klavierspieler und der Violinist im langen Mantel spielen im Dunkeln.

Einer stellt eine Kerze aufs Klavier. Die beiden am Podium spielen noch immer im Kerzenschein Klavier und Violine. Jetzt ist auch ein Flötist dazugekommen. Sie spielen, als könnten sie nicht mehr aufhören. Auf den Bänken der großen Halle lehnen junge Leute aneinander, manche schreiben, manche umarmen sich, manche hören still zu, manche wandeln flüsternd durch den kathedralenhaften Bau. Draußen wird übers Mikrofon ein Elektriker ausgerufen. Warum kann ich keine elektrischen Leitungen reparieren? Ich bin faul und passiv. Bin gewohnt, daß andere den Dreck wegputzen. Statt mal selbst anzupacken, sinniere ich über meine vielfältigen Lebensmöglichkeiten, verschnecke mich in meine „innere Freiheit“, rede nur mit, um nicht übergangen zu werden, passe mich an, um nicht unangenehm aufzufallen, eine Schaufensterpuppe, am Ende einer Fließbandentwicklung ...

Wer waren, wer sind eigentlich die Arena-Besetzer? Die Leute der ersten Stunde verschwanden bald. Sie waren vom Typ der späteren Arena-Besucher: Künstler, Studenten, Angestellte. Zum Kern der Arena-Besetzer gehören Studenten in den Ferien, engagierte Intellektuelle im Abendhobby, Rocker, Jugendliche, die kein Zuhause haben, die von der Gesellschaft in Heime, Gefängnisse, an den Rand abgeschoben werden, mit dem Stigma „Sandler, Arbeitsscheue, Langhaarige, Haschbrüder, Gscherte“ behaftet. Die meisten Intellektuellen gehörten linken Gruppierungen an: KPÖ, KBÖ, GRM, Jusos. Die erste Besetzer-Euphorie überlagerte die sozialen und politischen Strukturen. Als ein Polizeieingriff nicht mehr unmittelbar drohte, wurde Politisieren erst recht vermieden. Einige Versuche von KPÖlern, das Komitee auf ihre Linie zu trimmen, schlugen fehl. Statt offen zu politisieren, wurde — herumgeredet.

Trotz der mangelnden Koordination wurden die unmenschlichen sanitären Einrichtungen in wenigen Wochen auf Hochglanz gebracht: Vor der Besetzung hatte die von der Gemeinde bestellte Abbruchfirma bereits begonnen, Licht, Gas, Wasser, Kanalisation und Heizung herauszureißen; eine Zentralheizung erstreckte sich damals noch übers ganze Gelände, und für die Beschäftigten der Wiener Festwochen hatte es Duschen und Waschräume gegeben. Doch man montierte alles ab, verkaufte es zum Schrottpreis von 40 Groschen per Kilo oder zerschlug es einfach.

Der Staat als Zerstörer

In weniger als zwei Wochen malten die Besetzer 32 Räume aus, installierten in fast allen Zimmern, Hallen und Sträßchen elektrische Leitungen, verlegten 180 Meter Wasserleitungen.

Ein junger Maler und Anstreicher aus Favoriten traute sich anfangs nicht, jemanden zu fragen, ob er beim Herrichten der Tische und Bänke, beim Reparieren der Leitungen, beim Anstreichen, Bemalen und Beschriften der Wände mitmachen könnte. Jetzt verläßt er die Arena nur mehr, um morgens in seine Firma zu fahren. Seine ganze Familie arbeitet auch schon mit. Er durchwacht oft drei Nächte hintereinander im Tordienst, abends nach der Arbeit räumt er den Schutt aus einer Halle, die ein Speiseraum wird.

Nicht alle sind wie er: viele hocken tage- und wochenlang herum, lehnen an einer Ecke, Hauswand, Stiege, auf der großen Wiese, verschreckt, gelangweilt.

Leute wie Ludwig, die sich zwischen Bohèmelokalen wie Hellas, Dobner, dem Flohmarkt am Hof und dem Landesgericht herumtreiben, streiften das Gelände bereits wenige Stunden nach der Besetzung nach Werkzeugen und nutzbaren Einrichtungen ab, um sich endlich einmal eine persönliche Umgebung zu schaffen: „Dreck hob i gnua gsehn in mein Leben. Jetzt mecht is mir amol schen mochn, i tua gern ordnen, Sachn sammeln, Regale für Bücher bauen, an Ofen zum Töpfern ...“ Er ärgert sich über andere, die die Werkzeuge herumliegen lassen.

Bullen & Rocker:
Polizeieinsatz in der Nacht der Besetzung (links [hier: ganz oben]), Rocker aus Simmering (oben) mit Häuptling Sparti (stehend rechts), Rocker in der Versorgung (unten).

Schnorren, die ökonomische Basis

Erst die Arbeit in der Versorgung machte aus dem anfänglichen Chaos eine funktionierende Organisation. Anfangs wußte niemand, wer, was, wo für wie viele Leute mit welchem Geld kaufen sollte. Es hieß nur: Wir schenken für alle gratis und gegen Spenden aus. Mit geborgtem Geld wurden Großeinkäufe gemacht, am Abholgroßmarkt (AGM), in Supermärkten mit geliehenem VW-Bus: Milchprodukte, Getränke, Bäckereien. Später kaufte Versorgungsleiter Hannes bei Simmeringer Kleinhändlern, bei Gemüse- und Obstgärtnern, die ihre Produkte aus Solidarität billiger oder gratis hergaben.

Obwohl die Versorgung die meiste Arbeit erfordert, zog sie die Nichtstuer an. Hier wurde gestohlen, eingebrochen, geprügelt, um Einflußnahme gekämpft. Andrerseits wurden die Versorgungsprobleme von den Komiteemitgliedern zuwenig ernst genommen. Idealvorstellungen von Freiwilligkeit, Besitzlosigkeit, der Eintracht zwischen Produzenten und Konsumenten herrschten vor. „Dabei is des a gaunz normales Umsatzgeschäft, nur daß halt kane fixen Kalkulationen gibt“, meint Hannes. „I muß schaun, daß i a Gschäft moch, des is olles, sunst gibts näxte Wochn nix zum Freßn.“

Von der Arena-Zeitung erschienen bisher drei Nummern. Papier- und Druckkosten: 8.600 Schilling pro Nummer. Die erste brachte einen Gewinn von 8.000 Schilling, die in einer Foto- und Diadokumentation angelegt wurden. Der Rest kam aufs Arena-Spendenkonto (übrigens wer spenden will: Zentralsparkasse der Gemeinde Wien Nr. 697 366 003).

Herrschaft der Logokraten

Als die Euphorie schwand, brachen die Widersprüche auf — zwischen Hand- und Kopfarbeitern, zwischen den Gscheiterln, die Flugblätter, Zeitungen, Briefe, Presseaussendungen und Organisationspläne verfaßten, und den Dummerln, die Häusl putzten, Hallen und Wege reinigten, Brote strichen, Geschirr wuschen, Fensterrahmen einsetzten, Bänke bastelten, Leitungen reparierten und Material hin und her schleppten: „Ich kenn’ mich halt nun mal besser aus mit Schreibmaschinen, Telefonen und Sekretärinnen als ein Lehrling oder Fabriksarbeiter“, sagte Dieter mit dem Aktenkoffer.

Jugendliche, die, aus Randschichten kommend, auch in der Arena an den Rand geschoben wurden, begannen ihre anfangs ausgestreckten Hände wieder zu Fäusten zu ballen. Die anfangs friedliche und euphorische Konfrontation zwischen verschiedenen sozialen Schichten wurde gewalttätig. Als ein paar Rocker die Bühne stürmten und brüllten: „Hakenkreuz oder Hammer und Sichel, des is do Wurscht, wichtig is, mir san olle für die Arena!“, da jubelte die Mehrzahl der Vollversammlung. Endlich ein paar echte Proletarier! Sparti in Leder- und Stahl, Elektriker und Obermacher der Rockergruppe aus Simmering, schleuderte seine tätowierten Arme in die Luft, und die Menge beklatschte den zukünftigen Capo des Ordnerdienstes. Aber ebenso „in“ wie mannharte Muskelprotzproleten sind die Sanften, Gefälligen, die — mit Kettchen und Mädchen behängt — betörende Weisen zum Sozialismus minnesängern.

Ein Lehrling, der bisher geschwiegen hatte, wollte etwas über sein Leben sagen. Es fiel ihm schwer. Er stotterte und fand die Worte nicht, da er seine Ausdrucksweise dem hochgestochenen, auffrisierten Deutsch des Diskussionsleiters Götz angleichen wollte. Vergeblich. Er stockte, starrte auf den Tisch. Götz, von Beruf Theaterregisseur, verlor die Geduld, begann selber zu reden. „Das geht doch nicht, Götz“, sagten einige, „er hat doch noch nicht zu Ende geredet!“ Ein anderer übernahm die Diskussionsleitung. Der Lehrling begann zu reden ...

Die Polarisation zwischen oben und unten, zwischen Aktiven und Passiven, zwischen Integrierten und Nichtintegrierten hielt an, bis sich die Arena-Outsider gegen die -Insider wehrten: Junge Burschen, die im nüchternen Zustand unauffällig auf der großen Wiese herumsaßen, die sogar mit dem Trinken aufgehört hatten, „weil das der Arena schadet“, besoffen sich und wurden aggressiv.

Wie die Gewalt bewältigt wurde

Trotz Alkoholverbots kam Wein ins Gelände, 150 Doppelliter, 50 Simmeringer betranken sich damit, verkauften Wein am Gelände und schlugen nieder, wer sie am Verkauf hindern wollte: mit Schlagringen, Fahrradketten, Stöcken. Die Rettung transportierte die Verletzten ins Spital.

In der darauffolgenden Vollversammlung waren sich alle einig: Wir haben Angst. Nur rund 80 Leute waren zum Plenum in der großen Halle erschienen. In der Ratlosigkeit wurde eines klar — die Arena war längst nicht das, was sie am Anfang zu sein schien: eine Spielwiese verlorener Talente und radikaler Genies.

Während die einen nur „wie wild um sich schlugen“ (Ingrid), nachdem sie „einbröselten“ Wein soffen, Wein mit Captagon-Bröseln, so ist daneben still und ohne Spektakel die organisierte Kriminalität eingezogen. Gerüchte von Prostitution, Diebstahl, Drogenhandel schäumen übers Areal. Junge Mädchen, aus Erziehungsheimen entflohen, tauchen hier unter. Manch adrett gekleideter Krawattenmann streicht abends mit einem griffbereiten Hunderter durch unbeleuchtete Arena-Sträßchen. A Pupperl für an Doppler, bitte sehr!

Statt die Arbeit zu organisieren, was als einziges hätte helfen können, schuf man in der Vollversammlung neue Weltverbesserungsmodelle: „Mach ma uns do net lächerlich, Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen! Das bürgerliche Rollenverhalten sollt aufghoben werdn. Mir solltn in an Lernprozeß alle versuchen, uns gegenseitig z’helfn. Die Ordnertruppe sollte rotieren und si mit der Zeit aus olle Leut zamsetzen“ (Gustl). Schurli war für einen Ordnerdienst, der „verhindert, daß die Kinder auf die Bahn falln oder aufn Schornstein klettern, der ka Gewalt anwendet, sondern des fördert, daß ma uns gegenseitig kennenlernen“. Loisl war „für a konkrete Kampftruppe gegen den äußeren Feind, do net nach innen. A alternatives Projekt gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft schließt do a innere Polizei aus.“ Andi war für die Einführung eines Selbstverteidigungskurses.

Währenddessen trudelten drei Schwerverletzte mit Bandagen über Kopf, Armen, Schultern und Nacken in die große Halle. Einer versuchte mit größter Anstrengung — sein Kopf war eine einzige Wunde — zu sprechen: „Wos haßt mir san olle bein Ordnerdienst! Do, schauts mi an! Mi homs zamgschlogn, do san de Leut umatumgstandn, und kaner hot si grihrt! Herts mit den depperten Palaver auf, und stellts a par Leut zam, die wos si traun, bei solche Schlägereien eizgreifen!“

Die ganze Diskussion brachte keine Einigung. Endlich sauste Ingrid, die Kulturagentin der Arena, ins Komitee, suchte sich ein zweites Komiteemitglied und holte acht Mitarbeiter für den Ordnerdienst zusammen, die sich bisher als „resche und fesche Burschen“, als „psychisch und physisch starke Typen“ erwiesen hatten. Sie organisierten einen 24-Stunden-Turnus, stellten direkten Kontakt mit dem Tor- und Informationsdienst her, wurden Berater, Beschützer, Auskunftspersonen, Sozialarbeiter. Sie versuchten Krisenherde aufzuspüren, „wo bestimmte Leut in aner bestimmten Weise zum Reden anfangen“. Dann geht Schlägerschlichterin Ingrid zusammen mit den anderen vom Ordnerdienst hin, „Pflanz mi vor so an Randalierer auf, weil a Angst hob i net, schrei eam an und versuch eam mit die aundern zruckzhoitn“. Es funktionierte.

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