FORVM, No. 344-346
Oktober
1982

Sankt Jegge, zahl’ für uns!

Schulreform auf Schwyzerdütsch

Wie das frustrierte Schulmeisterlein Jürg Jegge im Zürcher Unterland eine andere Schule erfand, selber seine Bücher schreibt, ein anderes Leben einrichtet und dabei nicht reicher, aber immer vergnügter wird.

Meinem Bedürfnis, in Österreich auf den ideenreichen Schweizer, Alternativpädagogen, Liedermacher, Bücherschreiber und auch sonst allerhand zuwege bringenden Jürg Jegge, 39, aufmerksam zu machen, steht, ich gestehe es mir ein, entgegen, daß der Mann, so plausibel er denen vorkommt, die ihn kennen, nicht so ohne weiteres auf den Begriff zu bringen ist.

(Oder doch. Diesen zweiten Absatz füge ich, nachdem ich mit dem Nachdenken über Jürg Jegge fertig geworden bin, nachträglich ein: Er ist eine Drehpunktperson, wie etwa bei Rolf Schwendter als Typ beschrieben, denn er setzt sich erfolgreich bei den ihn großenteils akzeptierenden Etablierten für Unterprivilegierte, für die am schlechtesten weggekommenen Schüler des Schulsystems, die Sonderschüler, ein. Als klassische Drehpunktperson hat er dabei die Spannung, die durch die oft unvereinbaren Forderungen der einen wie der anderen sozialen Gruppe an ihn entsteht, in seiner Person auszuhalten. Als klassische Drehpunktperson erträgt er das auch.)

Wie ihn also einordnen? Er ist unorthodox. In der Schweiz ist er eine über die Szene hinausreichende Berühmtheit, manche schultheoretische Diskussion dort dreht sich um den Theorie im Grunde verabscheuenden Jürg Jegge. 85.000 kauften und etliche Zehntausende lasen sicherlich auch sein kämpferisches Buch „Dummheit ist lernbar — Erfahrungen mit Schulversagern“, tausende junge Leute mögen seine Schallplatten, kommen zu seinen Liederabenden, es nehmen Hunderttausende seine widerborstigen Kolumnentexte in durchschnittlichen Kleinbürgerzeitungen wahr, und Dutzende Kirchgeher regen sich, immer wieder, über seine gelegentlichen Leistungen als Laienprediger auf. Denn Jegge ist Zwinglianer und an Religion uninteressiert.

„Bei uns muß einer auch dann konfirmiert werden, wenn er sich zum Atheismus bekennt“, erklärte er mir neulich die Schönheiten seiner Konfession.

Jürg Jegge ist von sehr rundlicher Gestalt, freundlich im Ausdruck, beweglich und dabei scheinbar gelassen.

Aber was sind die Dutzenden, Zehn- und Hunderttausenden, die ihn wahrnehmen! Für ein paar Kinder, Sonderschüler, ist er der einzige, der ihnen hilft, sie aus ihrer bis dahin ausweglosen Lage rettet.

Vor sieben Jahren nämlich erfand er einen, für ihn, den Erfinder, recht anstrengenden Schultyp. Seither landen bei ihm ständig junge Leute, Kinder und Halbwüchsige, die vom herrschenden Schultyp schon ausgemustert, verächtlich aussortiert, grausam zu künftigen Hilfsarbeiterdiensten weggeschoben worden sind. Jegge versucht ihre kaputtgemachten Seelen zu therapieren. Sein Ehrgeiz: nachzuweisen, daß sie genau so intelligent und entwicklungsfähig sind wie alle einigermaßen gesunden Kinder.

Jegge, bis dahin ein Lehrer wie alle anderen und frustriert vom Betrieb wie alle Sensibleren, ging zu den Kantonalbehörden und teilte ganz unbot-, ganz unlehrermäßig einem zuständigen Referenten mit: „Wissen Sie, ich werde jetzt, im neuen Schuljahr, Schule nach meinen Vorstellungen halten, und zwar bei mir zu Hause. Ich nehme mir eine kleine Gruppe Sonderschüler und fange einfach an — und falls ihr euch dagegenstellt, renne ich herum und erzähle überall, der Kanton ist dagegen, daß ich auf vernünftige Weise Schule halte.“

Wunderbarerweise ließ sich die Behörde auf die verrückte Kraftprobe nicht ein. Der Jürg Jegge durfte damals bei sich zuhaus Schule halten, für fünf Kinder, ganztägig, und bekam sein Gehalt.

Zwei Jahre später wurde das wilde Experiment vollends honorig. Der Kanton wagte auf Grund Jeggescher Ideen einen ganzen Schulversuch: „Schule in Kleingruppen“. Das spielt sich eben jetzt in Embrach im Zürcher Unterland ab. „8424 Embrach“ ist also sowohl ein Buchtitel wie die Adresse eines dem Kanton gehörenden kleinen Schulgebäudes.

Bemerkenswert übrigens, daß diese Schule, weil ihr Verwaltungsaufwand gering ist, „pro Zögling nicht mehr kostet als der Schüler einer Mittelschule.“

Der pädagogische Witz des Modells besteht darin, daß diese Zwergschule für Sonderschüler und -schülerinnen (zur Zeit sind es fünf zwischen 13 und 17 Jahren) gar nicht mehr wie Schule aussieht.

Inspektoren und private Besucher, die von Zeit zu Zeit auftauchen, [*] verwundern sich besonders über das Fehlen eines Lehrplans und über das großfamiliäre Chaos. Meist sind nicht nur Jürg Jegge und seine Schüler da: absolvierte Schüler kommen auf Besuch, setzen sich plaudernd mitten in den (Nicht-) Schulbetrieb. In dieser Schule tut tatsächlich jeder, wozu er gerade Lust hat, und komischerweise zeigen die Schüler immer mal wieder Lust auch aufs Lernen. Ein Schüler, der sich seinen Lehrer für „ein Diktat angelt“, ist gewiß der Idealfall eines Schülers.

Aber was, wenn einer dieser Schulversager überhaupt nichts lernen will? Der Jürg Jegge sagt sich dann: Den haben sie offenbar ganz schön deformiert in seinem bisherigen Schulleben, da müssen wir halt warten. Er beschreibt sehr anschaulich einige Fälle, da er lange warten mußte, das oft quälend langsame Zutrauenfassen der jungen Leute zu ihm, dem „neuen Lehrer“. Aber letztlich, und er belegt es mit den einzelnen Fällen, kommt schließlich jeder und „will von selber“ und ist dann ein aufgeweckter junger Mensch und überhaupt kein dummer Sonderschüler mehr.

So zehn, zwölf dieser regenerierten Sonderschüler habe ich wiederholt gesehen, obwohl ich nie bei Jegge in der Schweiz gewesen bin: Er kommt seit Jahren nach Österreich, weil er hier bestimmte Freundschaften pflegt (und ich vermute auch, weil er seinem ihn sonst absolut vereinnahmenden Schulbetrieb zeitweise entgehen will), und dabei nimmt er immer, Lehrer und Menschenbeistand auch in seinen Österreichferien, ein bis zwei Schüler und Exschüler mit, auf seine Kosten — was ihn natürlich zu einem ausgefallenen, sich ganz schön verblutenden Verfechter seiner Ideen macht.

Sie kamen mir beinahe alle ziemlich ruhig, ausgeglichen vor. Keiner war eingeschüchtert, und es kam mir nie in den Sinn, bei ihnen körperliche oder Verhaltensstigmen entdecken zu wollen, die wir in „Sonderschüler“ so gern hineinschauen. Ich fand sie wortkarg oder gewandt witzig, vif in die ungewohnte ausländische Umgebung schauend — auch jenen Fixer Alfred, dessen Schicksal im vorliegenden Buch vor allem auf den Seiten 99 bis 116 geschildert wird, und der mittlerweile, nachdem ich ihn vor Jahren als sympathischen Begleiter Jegges kennengelernt hatte, trotz den Anstrengungen seines Mentors wieder im Drogenschlamassel gelandet, vielleicht schon verloren ist. Alfred war allerdings kein Schüler Jegges, was seine Chancen verminderte. Dennoch sind diese Seiten 99 bis 116 eine einzige Melancholie des sonst munteren, angriffigen, auch pfiffigen Buches.

Im Bestseller „Dummheit ist lernbar“ vor fünf Jahren war Jürg Jegge hauptsächlich ein Kämpfer, ein von wenig Praxis belasteter zorniger Heilsbringer, in „8424 Embrach“ untersucht er selbstkritisch das bisher Erreichte. Auch seine Niederlagen. Im Falle Alfreds, dem er jahrelang der nächste Mensch gewesen ist, lehrt er uns und sich selber eine ganze Menge. Vor allem, was freilich keines Beweises bedürfte, die ziemliche Ohnmacht aller heutigen Pädagogik. Jegge weiß heute, er kann manchem armen Menschenkind, das sonst verloren wäre, hilflos in Dumpfheit, Stumpfheit, Ohnmacht hineingetreten würde von den Herrschenden und ihrem Schulbetrieb, helfen, sich als waches, kritisches, selbstbewußtes Subjekt in die Welt, will heißen: in die Ökonomie der Erwachsenen, hineinzufinden und nach Lösungen individueller, auch politischer Art Umschau zu halten. Nicht ausschalten aber kann er dabei, und das beginnt er jetzt zu wissen, die ständig wirksamen menschenverderbenden, die Inhumanisierungs-, die Verdinglichungsmechanismen des Kapitalismus, der von vielen — vielleicht auch von ihm, dem ganzen Praktikus und halben Ideologieverächter — für nicht abschaffbar gehalten wird.

Keine Neuigkeit. Ich schreibe es auch nicht nur für die Linken, die dies lesen, sondern auch für den Jürg Jegge. Er hat bisher das Rechte getan, die linken Abstraktionen aber nicht übermäßig geschätzt.

Wie sehr er das Rechte tut, geht u.a. auch aus diesen fatalen Seiten 99 bis 116, aber auch gegen Schluß des Buchs hervor, wenn er auf einmal entschlossen den nervus rerum seines Schulmeisterdaseins freilegt: ganz klar sagt, wieviel privates Geld ihn seine Schüler kosten.

Er ist beinahe ein Großverdiener, denn zu seinem für österreichische Begriffe ansehnlichen Schweizer Schullehrergehalt kommen die Einkünfte durchs Bücherschreiben und für seine Liedermacher-Auftritte. Im letzten Jahr hat er so runde 100.000 Franken verdient — und sitzt gegenwärtig, trotz eher mäßiger Lebensführung, mit 70.000 Franken Schulden da: Einige, seine außerschulische Freundschaft extrem nützenden Schüler und deren Freunde, haben seine Wohnung als Dauerrefugium, seinen Kühlschrank jahrelang als märchenhaftes Tischleindeckdich und diverse Geräte als wegtrag- und verkaufbar aufgefaßt. Seinem verschwundenen Cello — das der Jürg Jegge übrigens konzertreif spielen könnte — läuft er bis heute nach.

„Schau, ein Fixer, der Geld braucht, ist nicht zu halten“, erklärt er mir fast verständnisvoll. „Ein Schuß kostet doch heute 100 bis 150 Franken“.

Auch wenn ihn ein Fixer bestiehlt, verbietet es ihm sein Helferethos, ihm die Freundschaft aufzukündigen: „Dann hätte er doch überhaupt niemanden mehr, wo er Rat und Zuflucht findet.“

Jetzt ist er, um seine Ausgaben zu verringern und dennoch seine anhänglichsten Schüler nicht durch Abweisung vor seiner großen Wohnung zu kränken, in eine winzige umgezogen. Wenn er abends, nach Schulschluß, nachhausegeht, ist er jetzt neuerdings privat außer natürlich, ein Schüler hat mitten in der Nacht private Probleme und bittet telefonisch um Soforthilfe.

Für mich hat der Jürg Jegge manchmal etwas Heiligmäßiges. Nüchterner: Er scheint mir die unauffälligste Drehpunktperson („pivot-player“) und gleichzeitig eine der wirkungsvollsten Mitteleuropas zu sein. Manche Eltern seiner ihm anhängigen Schüler betrachten ihn, bis zum meist ja doch passablen Ausgang seiner Erziehungsarbeit, mit Mißtrauen, die Schweizer Szene respektiert ihn, er gilt beinah als Star der Alternativis, die jungen Lehrer lesen seine Bücher und sagen sich, daß man so ein Pädagogendasein doch auch einmal riskieren sollte — und der Kanton schaut ihn ständig scharf an, hat aber bisher noch immer bezahlt.

Mancher bekannte „pivot-player“ in Mitteleuropa hält sich für die eigentliche Attraktion im sozialen Ringelspiel, für einen Kalafatti, für die Weltachse, knirscht uns schwere Verantwortung vor, ächzt, schrillt im Bewußtsein seiner Belastbarkeit.

Als der Jürg Jegge eines Abends erfuhr, daß sein Cello dahin war, sagte er vermutlich gar nichts — und ging in der Früh ums eigene Geld für seine Schüler Frühstückskipferln einkaufen.

[*Siehe Der Revisor kommt! — Bericht auf der nächsten Seite

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