Amelie Lanier, Ein Haus in Wien
 
2008

Rezension

Lebt die alte Stadt Wien noch? Was blieb noch aus der „guten alte Zeit”? Leider, oder erfreulicherweise (je nach persönlicher Einstellung) nicht mehr viel. Man würde denken, mit dem Ende der k. u k. Monarchie ist sie auch verschwunden. Doch soziale Verhältnisse ändern sich nur sehr langsam. Die Monumente der alten Zeit blieben noch lange erhalten. Noch heute gibt es Zeugnisse, wie alte Gast- und Kaffeehäuser und vor allem alte Mietshäuser. Doch diese sterben langsam dahin.

Oft dachte ich, man sollte diesem Vorgang mehr Aufmerksamkeit widmen. Fast unbemerkt verschwinden Sie, das Moderne greift um sich. Unbemerkt? Nicht ganz!
Amelie Lanier gebührt die Ehre, dass sie sich diesem Thema widmet. Sie ist wohl bekannt, Autor einiger wissenschaftlicher Bücher [1] und als Moderator der beliebten Radiosendung „Vekks“ [2] im Radio Orange, dem freien Radio in Wien. Sie ist also ausgewiesene Fachfrau für geschichtliche und philosophische Fragen. Doch sie zeigt sich hier von einer neuen Seite. Sie behandelt das Thema – zu meiner Überraschung – nicht von der wissenschaftlichen Seite. Sie steigt hinunter in den Mikrokosmos eines Wiener Miethauses.

Jeder, der in einem alten Mietshaus in Wien war oder dort gewohnt hat, kennt oder spürt zumindest das komplizierte Beziehungsgeflecht der Bewohner. Jedes Haus hat seine unverwechselbaren Rollenträger: den Herrschsüchtigen, die Ordentlichen, den unterwürfigen Unaufrichtigen. Sie spielen das großes Schauspiel, das man als „Leben” zu bezeichnen pflegt. Amelie Lanier hat 21 Jahre in dem Haus gewohnt, dessen Schicksal sie beschreibt. Damit kennt sie das Objekt, womit sie sich beschäftigt, bestens. Sie ist gleichzeitig Teil der Handlung, aber auch außerstehende, aufmerksame, scharfsinnige und scharfsichtige Beobachterin des Geschehens.

Wir lernen das Haus und die Hausbewohner kennen. Jeder ist ein Unikum, doch auch ein Prototyp für unzählige Bewohner von Wiener Altbauten. Zunächst stellt sie den Hausverwalter vor, dem sie den Namen Dr. Miesling gibt, um sein Benehmen zu charakterisieren. Dann den Alkoholiker Jahoda, der ausschließlich flüssige Nahrung zu sich nimmt. Und dann die Anderen: der eine ist liebenswert, der andere unausstehlich. Frau Lanier versteht sie so zu beschreiben, dass der Leser das Gefühl bekommt, er sei auch Mitbewohner des Hauses. Das man ebenfalls kennen lernt. Man glaubt sogar den Geruch das Hauses wahr zu nehmen.

Eine Hulk nennen die Hamburger ein abgetakeltes Schiff, das Wohnzwecken dient. Das in dem Buch beschriebene Haus ist so ein Schiff, das am Ende auch noch untergeht, besser gesagt: abgerissen wird.

Das Buch erhält noch einige geschichtliche und rechtlich Erläuterungen.
Alles in allem eine ebenso interessante wie informative Lektüre.

Amelie Lanier, Ein Haus in Wien, ATE Verlag

[1„Das Kreditwesen Ungarns im Vormärz“, 1995; „Die Geschichte des Bank- und Handelshauses Sina“, 1998; „Die Verbindung von Stephan Széchenyi und Georg Sina und das Unternehmen Kettenbrücke“, 2002, alle erschienen beim Peter Lang Verlag; sowie: „Die Widersprüchlichkeit von Moralphilosophie am Beispiel Friedrich Nietzsches“, WUV/Facultas Verlag 1995, Neuauflage 2005. Auszüge aus diesen Büchern stehen auf der Homepage der Autorin: http://www.alanier.at/

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)