Café Critique, Jahr 2002
Februar
2002

Republik Freies Österreich: Haider, Benes, Temelin

Allen, die es wissen wollten, war es ohnehin klar: Das mit 915.000 Stimmen erfolgreich abgeschlossene Volksbegehren gegen das tschechische Atomkraftwerk Temelin hatte die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) nicht initiiert, um ihr plötzliches Engagement für den Umweltschutz zu belegen. Vielmehr ging es um eine neue Variante des freiheitlichen Geschichtsrevisionismus. Ganz zufällig dürfte die Atomenergie allerdings auch nicht als Kampagnenthema gewählt worden sein, gibt es doch bei der Angst vor dem Strahlentod bei allen vernünftigen Einwänden, die sich gegen diese Energieform vorbringen lassen, immer auch ein Quäntchen Wahn.

Mit dem aus ihrer Sicht erfreulichen Verlauf des Volksbegehrens ist es der FPÖ gelungen, Oppositionspolitik aus der Regierung heraus zu betreiben. Das Modell dürfte deshalb auch ein Vorbild sein für künftige Kampagnen gegen die Benes-Dekrete sowie die Avnoj-Beschlüsse.

Die Avnoj-Beschlüsse, benannt nach dem Antifaschistischen Rat der Volksbefreiung Jugoslawiens, einem Kriegsparlament der titoistischen Partisanen, regelten die Sanktionen gegen die mehrheitlich mit dem nationalsozialistischen Besatzungsregime kollaborierenden „Volksdeutschen“ in Slowenien. Die Benes-Dekrete wiederum waren eine Sammlung von 143 Verordnungen zur Wiedergründung der tschechoslowakischen Republik nach 1945. Unter anderem regelten sie die Enteignung und Ausweisung jener Deutschen, von denen 1938 über 90 Prozentdie Henlein-Faschisten unterstüzt hatten. Im Verhältnis zurGesamtbevölkerung gab es im ganzen „Großdeutschen Reich“ nirgendwo mehr NSDAP-Mitglieder als im „Reichsgau Sudetenland“.

Auch wenn die Umsetzung der Benes-Dekrete in Einzelfällen Personen traf, die selbst Opfer des Nationalsozialismus waren, ist doch hervorzuheben, dass in der Tschechoslowakei auch nach der Flucht und der Aussiedelung der so genannten Sudetendeutschen weiterhin etwa 200.000 „Deutschstämmige“ lebten, mehrheitlich Antifaschisten und ehemalige Widerstandskämpfer. Und in den Avnoj-Beschlüssen wurden jene wenigen Deutschen, die sich dem Widerstand angeschlossen hatten, ausdrücklich von der Enteignung, der Bestrafung und der Ausweisung ausgenommen.

Das Geifern gegen die Avnoj-Beschlüsse ist vor allem die Sache der FPÖ, die sich mit ihrem Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider in unmittelbarer Frontstellung zu Slowenien sieht. In der Diskussion seit dem Temelin-Volksbegehren spielen die Avnoj-Beschlüsse jedoch eine untergeordnete Rolle, da sich Haider wegen der vergleichsweise nachgiebigen Haltung der slowenischen Regierung und der Anbiederung einiger Vertreter der Kärntner Slowenen kurz vor einer formellen Aussöhnung sieht — selbstverständlich ohne die Preisgabe deutschnationaler Prämissen.

In der Agitation gegen die Benes-Dekrete jedoch unterscheidet sich die FPÖ nur unwesentlich von ihrem konservativen Regierungspartner, der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) Wolfgang Schüssels. So verwundert es nicht, dass die von den Medien begierig aufgegriffene Koalitionskrise keine drei Tage nach dem Abschluss des Volksbegehrens bereits vorige Woche wieder beigelegt wurde. Schon in ihrem Regierungsprogramm hatten die politischen Erben der Austrofaschisten und Nationalsozialisten vor zwei Jahren das unmissverständliche Ziel verankert, die „Anliegen und Interessen der altösterreichischen Minderheiten im Ausland“ zu fördern. Die Außenministerin Benita Ferrero-Waldner (ÖVP) bezeichnet die Benes-Dekrete offen als „Unrechtsgesetze“, und Kanzler Schüssel präsentierte sich stolz als Träger des Karlspreises der Sudetendeutschen Landsmannschaft.

Alle gegen Tschechien

Uneinig sind sich die SS-Lobredner und Dollfuß-Verehrer daher nicht in der Einschätzung der Aussiedelung, sondern in der Frage, auf welchem Wege gegen die Dekrete vorzugehen sei. Haider setzt auf die Offensive, behält sich eine Blockade des EU-Beitritts Tschechiens vor und lässt seinen Ressentiments freien Lauf: „Reden wir über Wiedergutmachung: Die betrifft nämlich nicht nur die in New York und im Osten, sondern vor allem auch unsere sudetendeutschen Freunde. Wir wollen uns zuerst um die eigenen Leute kümmern“, erklärte er bereits im letzten Wiener Wahlkampf einer Zuhörerschaft, die gegen explizitere antisemitische Statements sicherlich nichts einzuwenden gehabt hätte.

Die ÖVP hingegen setzt zur Revision der Folgeerscheinungen des Zweiten Weltkrieges auf die Europäische Union, weil sie hofft, so ihre revanchistischen Gelüste gegenüber einem EU-Mitglied Tschechien besser zur Geltung bringen zu können. Nahe liegend, dass der gemeinsame Verbündete beider Koalitionspartner die bayerische CSU ist.

Die Opposition hält sich in diesen Fragen auffällig zurück. Bei der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) handelt es sich ohnehin um eine Partei, die die Freiheitlichen in Fragen des deutschen Vernichtungskrieges wie auch des Deutschnationalismus gegenüber der slowenischen Minderheit gelegentlich rechts zu überholen versucht. Karl Blecha, ehemals SPÖ-Innenminister und heute Vorsitzender des einflussreichen Pensionistenverbandes sowie notorischer Antizionist, teilte der Öffentlichkeit vor einiger Zeit mit: „Die Geduld ehemaliger Kriegsgefangener, die von Entschädigungszahlungen ausgegrenzt wurden, geht zu Ende“.

Mehrere SPÖ-Bürgermeister haben in Kärnten demonstrativ gegen die verfassungsmäßig vorgesehene Aufstellung zweisprachiger Ortstafeln unterschrieben. Die Grünen sind bei aller Kritik peinlich darum bemüht, dass ihre Hinweise auf die deutsch-österreichischen Verbrechen nicht als Entschuldigung für die Aussiedelung der Sudetendeutschen missverstanden werden. Und selbst linksradikale Gruppen aus dem antinationalen Spektrum fühlen sich in ihren Flugblättern veranlasst, der österreichischen Bevölkerung mitzuteilen, dass man die Aussiedlungen keineswegs „billigt“.

Die Freunde der Zivilgesellschaft wiederum stören sich besonders daran, dass die FPÖ mal wieder eines jener politischen Mittel benutzt, die Basis- und andere Linksdemokraten lange Zeit als ihr Eigentum betrachtet haben: das Volksbegehren. Zwar hätte man am Beispiel der Schweiz, wo die Bürger ihren Rassismus schon seit längerem direktdemokratisch ausagieren dürfen, indem sie plebiszitär über Einbürgerungen entscheiden, erkennen können, dass Volksbegehren und -entscheide keine genuin emanzipatorischen Angelegenheiten sind. Dennoch halten idealistische Freunde der Volksherrschaft daran fest, dass die FPÖ Plebiszite stets „instrumentalisieren“, also zweckentfremden würde.

Haider und die Freiheitlichen treten als Radikaldemokraten auf und zielen damit auf die Wiederherstellung der Unmittelbarkeit von Herrschaft. Der Staat und seine Institutionen haben Erfüllungsgehilfen jener Ansammlung von Menschen zu Zwecken von Ausbeutung und Herrschaft zu sein, die sich Volk nennt und nichts anderes ist als der materielle Ausdruck eines ebenso fanatischen wie bewusstlosen Reflexes auf den Zwang zu Staatsloyalität und Kapitalproduktivität. Dienen die Institutionen nicht der Herrschaft des Volkswillens, so wird ihnen ordentlich Bescheid gegeben. So erklärte Haider im Rahmen der Diskussionen um die verfassungsmäßigen Verpflichtungen gegenüber der slowenischen Minderheit, dass das Höchstgericht der Republik „korrigiert“ werden müsse, wenn es so weitermache. Schließlich sei Österreich eine Demokratie und kein „Richterstaat“.

Das Individuum als Ministaat

Während der traditionelle faschistische Staat als absoluter Souverän auftrat, der seine Macht aus dem Bündnis mit seinen Bürgern in Abgrenzung gegen äußere und innere Feinde gewann, erscheint heute der starke Staat selbst als Feind. Dennoch ist das nicht einfach eine Parallele zum klassischen Liberalismus. Das Individuum wird heute nicht mehr als freier und gleicher Bürger, der seinen Geschäften nachgeht, begriffen, sondern als Ministaat, der weiß, was richtig ist und der daher auch den Repräsentanten des Gesamtstaats reinreden kann, sollten diese damit beginnen, gegen das gesunde Volksempfinden zu agieren. Diese Ministaaten konstituieren eine populistische Bewegung, als deren idealer, wenn auch keineswegs einzig möglicher Führer Haider auftritt. Er ist ein Führer von individuellen Ministaaten, der die Verbindung herstellt zwischen ihnen und dem zu verschlankenden Gesamtstaat.

Was das ebenso autoritäre wie konformistische Aufbegehren gegen den Staat anbelangt, verläuft die Entwicklung in Österreich durchaus anders als in Deutschland. Während dem fetischistischen Tauschsubjekt in der Bundesrepublik tendenziell nicht mehr Börse und Rendite, sondern der defizitäre Staat als Ziel seines Ressentiments dient, gilt dies für Österreich, wo es bei weitem noch nicht zur Herausbildung einer derartigen „Aktienkultur“ wie in Deutschland gekommen ist, nur bedingt. Die Ressentiments der Österreicher sind deshalb durchaus noch traditioneller als die in der BRD.

Haider und die „FPÖ“ fungieren als Ferment von Entwicklungen, die in Deutschland in pluralistischer Manier vorangetrieben werden. So wurde die CDU im Parteispendenskandal zwar als gemeinschaftsschädigende Vertreterin von partikularen Parteiinteressen angegriffen, aber gerade die SPD als politische Hauptwidersacherin hielt sich auffällig zurück. Die Kritik, wie sie Haider wahrscheinlich formulieren würde, leistete stattdessen ein Kollektiv aus Medien und Vertretern anderer Parteien.

So fehlte den Angriffen nicht nur die Schärfe eines Haider, sondern vor allem die von der FPÖ immer wieder hergestellte inhaltliche Kontinuität. Die FPÖ schaffte es beispielsweise, die Kritik an der sozialdemokratischen Schuldenwirtschaft der siebziger und achtziger Jahre stets mit der SPÖ-Einwanderungspolitik jener Zeit in Verbindung zu bringen. Das erspart die Mühe ständig neuer Kampagnen, wie man sie aus der Bundesrepublik kennt, da die Hauptkampagne gegen parasitäre Schuldenmacherei und ausländische „Gemeinschaftsschädlinge“ ohnehin beständigam Laufen ist.

Faschismus als direkte Demokratie

Haider verkörpert den Führertypus einer demokratischen Volksgemeinschaft, deren zentrales Moment die potenzierte Verinnerlichung und Subjektivierung von Zwang und Herrschaft, von Ausgrenzungswille und Ausgrenzungserduldung ist. Ist diese Verinnerlichung fast vollständig vollzogen, so bildet die direkte Demokratie die adäquate faschistische Herrschaftsform. Es ist kein Zufall, dass heute die Freiheitlichen — und nicht wie in den achtziger Jahren die Grünen — die entschiedensten Verfechter von Plebisziten, von Volksbegehren und Volksentscheiden sind.

Auch wenn es noch unübersehbare Unterschiede zwischen den plebiszitären Vorstellungen der FPÖ und traditionell linken, basis- oder gar rätedemokratischen Vorstellungen gibt, kann die Demokratiebegeisterung eines Haider nicht einfach als Wiederbelebung alter faschistischer Vorstellungen, die auf die Absegnung vorgegebener Entscheidungen zielen, oder als reine Taktik abgetan werden. Sie weist vielmehr den zugleich spezifischen wie auch partiell verallgemeinerungsfähigen österreichischen Weg in eine demokratische Barbarei. Die kommt zwar ohne den mal expliziten, mal impliziten Bezug auf den historischen Faschismus und Nationalsozialismus nicht aus, aber durchaus ohne den klassisch-faschistischen Terror — und auch ohne die völlige Suspendierung demokratischer Verkehrsformen.

Was die Protagonisten einer derartigen demokratischen Barbarei in Zukunft noch alles anzetteln werden, lässt sich dennoch kaum vorhersehen, da nicht nur ihre Gefolgschaft, sondern sie selbst beständig von wahnhaften Projektionen getrieben werden. Es ist also keinesfalls auszuschließen, dass sie sämtliche Verfolgungs- und Diskriminierungspraktiken in Gang setzen, die aus der Vergangenheit bekannt sind, auch wenn diese vom Standpunkt eines modernisierten Autoritarismus als hoffnungslos antiquiert erscheinen mögen.

Da kann man sich über jemanden wie Milos Zeman nur freuen, der mit seiner Titulierung Haiders als „Pro-Nazi-Politiker“ noch Formulierungen findet, die kein österreichischer Politiker mehr verwenden würde. Die Charakterisierung der FPÖ durch den tschechischen Ministerpräsidenten als „postfaschistische Partei“ löste in Österreich einen kollektiven Proteststurm aus. Der tschechische Premierminister wurde sowohl vom Bundespräsidenten als auch von Alfred Gusenbauer, dem SPÖ-Vorsitzenden, scharf zurechtgewiesen. An diesen Reaktionen lässt sich auch das Problematische von Zemans Charakterisierung erkennen. Das Problem in Österreich ist nicht nur eine postfaschistische Partei, sondern es sind die postfaschistischen gesellschaftlichen Strukturen und das postnationalsozialistische gesellschaftliche Bewusstsein, das keineswegs nur bei den Freiheitlichen zu finden ist.

zuerst erschienen in Jungle World, 6/2002

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